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Nachdenken über Sterbehilfe1

1. Einleitung


Sterbehilfe ist, so könnte es mit Blick auf die Debatten aussehen, ein Spezialproblem für die Experten aus Medizin, Ethik, Jurisprudenz, Theologie, Politik. In Wahrheit ist es eine Frage, die sich jedem Menschen stellt. Während wir leben, suchen wir – mehr oder weniger ausdrücklich – nach dem guten Leben. Doch je mehr sich das Leben seinen Grenzen nähert, desto mehr verwandelt sich diese Suche in die nach einem guten Sterben.


Was ist gutes Sterben? Eigentlich liegt die Antwort auf der Hand. Es ist ein Erleben des Lebensendes, bei dem man nicht übermäßig von seinem ablebenden Leib geplagt und von vertrauten Menschen (einer reicht schon) begleitet ist, bei dem man begreift, wie das eigene Leben sich nun vollendet und so, grundsätzlich einverstanden, friedlich Abschied nehmen kann.


Diese Definition sehe ich nicht als originell an, sondern als einen Versuch, etwas zu artikulieren, was implizit schon immer enthalten ist in der Weise, wie ein auch nur halbwegs sinnvolles menschliches Leben gelebt wird. Dass sie trotzdem der Rede wert sein mag, liegt daran, dass das Nachdenken über das Sterben in einer hedonistischen Konsumgesellschaft einfach nicht populär sein kann. Das ist eben kein Thema für anregende Einlassungen, spannende Diskussionen, glänzende Vorträge. Es macht keinen Spaß. Im Gegenteil, es wird thematisiert auf dem Hintergrund der Gewissheit, dass das ›natürliche Sterben‹ passé ist und der resultierenden bangen Frage, was an seine Stelle getreten ist. Und hier haben wir dann mit wahrlich düsteren Aussichten zu tun, Aussichten, die an Urängste rühren: Als hilfloses Objekt seelenloser medizintechnischer Apparaturen, welche präzise das Überleben des Organismus sichern, dahinzuvegetieren und, unter möglicherweise großen Schmerzen,2 sporadisch überwacht von überlasteten ›Pflegekräften‹, auf ein Ende zu warten, welches durch irgendwelche, mehr oder weniger willkürliche, Entscheidungen von Ärzten bestimmt wird.


Solche Befürchtungen sind (weil durch Berichte über Extremfälle entstanden) nicht wirklich realistisch. Aber es ist ein Faktum, dass die Gesellschaft in Deutschland (und das gilt für alle entwickelten Länder) sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat; und zwar so, dass die Bedingungen, unter denen heute das individuelle Leben zu Ende geht, ein gutes Sterben sehr er
schweren.


Insofern ist es konsequent, dass, ebenfalls seit Jahrzehnten, darüber debattiert wird, wie diese Bedingungen umzugestalten sind, sodass das Sterben, wenn nicht gut, so doch wenigstens mit einiger Sicherheit nicht schrecklich wird. Und weil die Änderung der Bedingungen in der Gesetzgebung am einfachsten zu sein scheint, kreist die Debatte überwiegend um die Forderung, die Sterbehilfe (und zwar möglichst in allen Formen) zu legalisieren, bzw. ihre Inanspruchnahme als eine ganz normale Konsequenz der Freiheitsrechte der Person zu etablieren.


Im folgenden Text geht es darum, die problematischen Bedingungen des Sterbens zu benennen und dann zu überlegen, wie diese verändert werden müssten, um die entstandene »Grundangst zahlloser Menschen«3 zu beschwichtigen. Am Schluss wird die Frage aufgeworfen, ob eine vollständige Legalisierung, wenn sie in die Normalität des gesellschaftlichen Lebens aufgenommen wäre, wirklich einen Zuwachs an Selbstbestimmung und Freiheit darstellte. Wegen der gebotenen Kürze meines Beitrages ist dieses alles nicht mit der eigentlich notwendigen Ausführlichkeit dargestellt, sondern eher im Stil einer gerafften Übersicht.


2. Die derzeitigen Bedingungen des Sterbens in unserer Gesellschaft


Die folgenden Hinweise beziehen sich auf Deutschland, treffen aber zum großen Teil auf alle entwickelten Länder zu. Leider sind inzwischen die allgemeinen Bedingungen allenthalben so, dass zu Recht von der »beklagenswerten Situation Sterbender«4 gesprochen werden muss. Nachstehend möchte ich zu vier Sorten von Bedingungen einige Hinweise geben.


a) Zu den medizinischen Bedingungen


Als erstes ist festzustellen, dass Sterben unter der Regie von Ärzten stattfindet. Zwar wünschen sich die meisten Menschen zu Hause zu sterben,5 doch nur den wenigsten bleibt ein Sterben in der sachlich sterilen Atmosphäre des Krankenhauses erspart. Dort kann aber, Segen oder Fluch der modernen Medizin, nahezu jeder Tod hinausgezögert werden. Damit liegt die Entscheidung über den Zeitpunkt des Sterbens in der Verfügung der Ärzte. Diese sind schon durch ihr Standesethos – und verstärkt durch die ökonomischen und juristischen Bedingungen ihres Handelns (s. u.) – geneigt, den Patienten am Leben zu halten. Das Standesethos ist eine massive Stütze für den Arzt, und auch wenn es sich nicht zu einem veritablen Standesdünkel auswächst, haben Patienten und Angehörige kaum Chancen, für ihre Ansichten, falls sich diese etwa von denen der Ärzte unterscheiden, Gehör zu finden.6

Die Ausrichtung des Standesethos auf die Erhaltung des Lebens wird dann insbesondere geformt durch das Menschenbild, das der modernen wissenschaftlichen Medizin innewohnt. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Darin wirkt immer noch die völlig überholte, im neuzeitlichen Materialismus entstandene Anthropologie vom Menschen als einem mechanischen Aggregat.7 Diesen Mechanismus gilt es, wenn er gestört ist, zu reparieren; und das ist das Grundkonzept dessen, was in unserer Medizin unter ›Heilung‹ verstanden wird. Dass ein Mensch, zumal ein ernsthaft kranker Mensch, ganz andere Bedürfnisse haben könnte als eine derartige Reparatur, das ist in der Ärzteschaft bekannt, wird in jeder Festrede beschworen, hat aber auf die konkrete Theorie und Praxis der Medizin viel zu wenig Auswirkung. Und so sind sterbende Menschen letztlich doch hauptsächlich Organismen, die mit immer größerem technischen Aufwand irgendwie in Gang gehalten werden.


b) Zu den ökonomischen Bedingungen


In Deutschland ist das Gesundheitswesen ein bedeutender Wirtschaftszweig. Medizinische Institutionen, also Praxen, Kliniken, Krankenhäuser, werden unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrieben. Solange wir ferner eine Krankenversicherung haben, die im Prinzip jede von Ärzten verordnete Behandlung bezahlt, braucht es niemanden zu überraschen, dass die technisch aufwendigere Behandlung in der Regel präferiert wird. Ziffern über die Häufigkeit kostspieliger Operationen (im Vergleich zu Ländern mit einer anderen Gesundheitsökonomie) sprechen eine deutliche Sprache. Da es nun offenbar so ist, dass Patienten im finalen Stadium die höchsten Kosten verursachen, sind unseligerweise gerade diese Patienten die lukrativsten Konsumenten des ›Wirtschaftsprodukts Gesundheit‹. Deren möglichst lange Verweildauer wäre daher nichts weiter als ökonomisch rational. Vollends fatal ist es dann, dass sich diese Rationalität nahtlos in das Lebenserhaltungs-Ethos der Ärzte einfügen lässt.8

c) Zu den sozialpsychologischen Bedingungen


Es ist eine Banalität, dass sich die Menschen in den entwickelten Gesellschaften vereinzeln. Unter dem Druck von Mobilität und Ausdifferenzierung der Lebensstile lassen die familiären Bindekräfte nach. Der schlichte mitmenschliche Kontakt ist (durch abnehmende Gewohnheit, zunehmende Individua­lität, politische Korrektheit usw.) erheblich schwieriger, als er noch vor wenigen Jahrzehnten war.9 Kranken- und Altenpflege wird von Pflegekräften als Job ausgeübt und in Zeittaktung (und nicht etwa nach Intensität der Zuwendung) bezahlt. Ehedem war das hier nötige uneigennützige Interesse am Mitmenschen (die Agape) Sache der Religionen, die ihre Ordensleute in die Krankenhäuser schickten. Doch weil auch die organisierte Religion ihre Bindekräfte eingebüßt hat, sind solche Dienste erheblich weniger verfügbar.


Der schöne Zuwachs an Selbstverantwortlichkeit, der vom lebenstüchtigen Individuum als Freiheit und Bereicherung erlebt wird, zeigt in den Phasen beschädigten Lebens eine Kehrseite. Am Stärksten gilt das, wenn es ans Sterben geht. Ehedem stand es nicht primär unter medizinischer, sondern unter seelsorgerischer Begleitung, d. h., die psychische Einstimmung wurde als das Wesentliche angesehen. Heute leiden die Menschen am Lebensende unter ­ihrer Einsamkeit und einem schwer abweisbaren Eindruck von Sinnlosigkeit. Es drängt sich der Verdacht auf, dass dieses die einfache Folge des hedonistischen Konkurrenz-Individualismus ist, der vorher gelebt wurde und in dem tieferreichende Sinnfragen ignoriert bzw. als unsinnig abgetan wurden. Das öffentliche Bewusstsein beschäftigt sich stattdessen mit der Beschwörung des materiellen Reichtums. Dessen in periodisch wiederkehrenden Katastrophenszenarien ima
ginierte Bedrohung (ökonomischer Zusammenbruch, 3. Weltkrieg, Klima­katastrophe) motiviert weniger eine zunehmende Besonnenheit als eine Art übermütiger Carpe-diem-Mentalität, deren Tragfähigkeit gegenüber dem psychophysischen Elend eines Leidens ohne Aussicht auf Besserung aber schwerlich Bestand haben kann.


d) Zu den juristischen Bedingungen


Die juristische Lage zur Sterbehilfe ist in den europäischen Ländern unterschiedlich. In Deutschland ist durch die Gesetzgebung und die Spruchpraxis der höchsten Gerichte seit der Jahrtausendwende eine Rechtslage entstanden, deren Strukturen sich wie folgt umreißen lassen. Es werden vier Arten von Sterbehilfe unterschieden: Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe), Abbruch überlebensnotwendiger Behandlung (passive Sterbehilfe), hochdosierte Sedierung mit Tod als Nebenfolge (indirekte Sterbehilfe) und schließlich der assistierte Suizid. Passive und indirekte Sterbehilfe sind, bei Vorliegen entsprechender Patientenverfügungen, nicht strafbar und, soweit sie in die aktive Sterbehilfe überlappen, wird dann auch diese nicht mehr bestraft. Nicht so die direkte Tötung auf Verlangen. Diese ist in Deutschland (anders als z. B. in den Niederlanden und Belgien) nach wie vor verboten. Ferner ist, bei Vorliegen ­einer entsprechenden Patientenverfügung, der ärztlich assistierte Suizid nicht strafbar.10

Seit 2009 ist das Nichtbefolgen einer Patientenverfügung durch einen Arzt sogar eine Straftat. Allerdings ist damit an dieser Stelle immer noch keine restlose Klarheit eingekehrt. Patientenverfügungen sind Texte und bleiben als solche im Hinblick auf die konkrete Situation interpretationsbedürftig.11 Bei Differenzen zwischen Ärzten und Angehörigen oder wenn – das ist in der Mehrheit der Fälle so – überhaupt keine Verfügungen vorliegen, ermittelt das Vormundschaftsgericht den ›mutmaßlichen Willen‹ des Patienten. Mir scheint es verständlich, dass unter diesen Bedingungen die Befürchtungen, unter Umständen zum Objekt des Medizinbetriebes zu werden, nicht nachhaltig beruhigt sind und mittlerweile die große Mehrheit der Bevölkerung immer lauter die aktive Sterbehilfe fordert.12

3. Notwendige Änderungen der Bedingungen


Anscheinend wären für eine (Wieder-)Annäherung an das Ideal des guten Sterbens erhebliche Veränderungen unseres gesamten kulturellen Umfelds nötig. Dazu bedürfte es aber der Durchsetzung entsprechender Einsichten, was, wenn überhaupt möglich, ein langwieriger Prozess mit ständig gefährdeten Erfolgsaussichten wäre. Vor diesem Hintergrund erscheint die stattfindende Verkürzung des Sterbehilfe-Problems auf eine Korrektur der Rechtslage bzw. die Forderung nach einem Recht auf eine fachgerechte und nicht unwürdige Tötung (durch eigene Hand oder die eines Arztes) als die am ehesten mögliche Bedingungskorrektur. Werfen wir, um das nachzuvollziehen, nochmals einen kurzen Blick auf die oben angesprochenen Bedin
gungen.


Im Gesundheitswesen müsste sich Vieles ändern. Zunächst ließe sich ja an den Ausbau von Palliativmedizin und Sterbehospizen denken. Von vielen wird das als echte Alternative zur Legalisierung der Sterbehilfe gesehen, doch das ist eine unnötige Zuspitzung. Immerhin scheint ein solcher Ausbau ohne weitere Bedingungsänderungen einfach mit Geld zu machen zu sein und erstaunlicherweise wäre es nicht einmal übermäßig viel.13 Doch weil dies alles längst bekannt ist, aber wenig geschieht, sprechen wohl auch noch anders geartete ökonomische Überlegungen dagegen. Für eine wirkliche Humanisierung müsste sicherlich das ökonomische Denken in der Medizin auf das unbedingt notwendige Minimum beschränkt werden. Gesundheitsfürsorge müsste (wieder) als öffentliche Aufgabe verstanden werden und die Ärzte nach ihrem Handlungsaufwand – und eben nicht nach dem Preis der Gerätschaften, die sie benutzen – bezahlt werden. Es gibt ja immer noch Staaten auf dem Globus (z. B. Kuba), in denen das ungefähr so gehandhabt wird. Nur sind diese für die Eliten in Deutschland zurzeit kein Vorbild.


Ferner müsste in der medizinischen Zunft das Berufsethos deutlicher auf einen holistischen Gesundheitsbegriff ausgerichtet werden.14 Auch dies ist eigentlich längst Konsens, aber die konkrete Durchdringung wird offenbar noch weitere Generationen dauern. Insofern ist hier keine aktuelle Abhilfe zu erwarten. Noch weniger Aussicht auf baldige Durchsetzung hat eine Änderung der oben angeführten impliziten Anthropologie. Dazu wäre wohl das akademische Fach der Medizin in seinen theoretischen Grundlagen zu überdenken und neu aufzubauen. Es ist nun mal ein gewaltiger Unterschied zwischen den Beteuerungen der Festreden, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe, und ­einer tatsächlichen Überwindung der mechanistischen Denkweise. Einen Eindruck von den Beharrungskräften bekommt, wer sich die Entwicklungen in der Psychiatrie anschaut. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts schien sich die ›Antipsychiatrie‹ kurzzeitig zu einer veritablen sozialpsychologischen Disziplin zu entwickeln.15 Mittlerweile sind derartige Ambitionen aber fast vollständig wieder zurückgefahren worden.


Wie die Verformungen der allgemeinen sozialspychologischen Bedingungen, also insbesondere die als Freiheit erlebte Vereinzelung, so korrigiert werden können, dass das Gemeinschaftsbewusstsein wieder stärker wird, das ist zurzeit kaum vorstellbar. Die Konkurrenz, im ökonomischen Sektor als ›Wettbewerb‹ gepriesen, ist ein ständiger Motor für die Verstärkung von Abgrenzung und Selbstbehauptung. Es ist schier unmöglich, mit ›rationalen‹ Argumenten dagegen anzureden, dass Beziehungen in ihrem eigentlichen Gehalt nutzenmaximierende Tauschbeziehungen wären.16 Außerdem lässt sich Gemeinschaftlichkeit nun einmal nicht ›herstellen‹, bzw. führen Versuche, das zu tun, leicht in Sektierertum, Gruppenegoismus, Nationalismus. Insofern ist ein Wunsch nach einer Veränderung der problematischen sozialpsychologischen Bedingungen für ein humanes Sterben wohl einfach utopisch.


Schließlich sollen noch die Wünsche und Forderungen nach Veränderungen innerhalb der juristischen Bedingungen thematisiert werden. Hier gibt es die heftigsten Kontroversen und es wird mit Argumenten Pro und Contra gestritten. Die Forderung nach Legalisierung ist begründet mit der oben beschriebenen ›beklagenswerten Situation‹ und den damit einhergehenden Ängsten. Die Begründung hat Gültigkeit, solange es keine gangbaren Alternativen zu einer Legalisierung gibt. Eben deshalb wird von der Gegenseite der Ausbau von Palliativmedizin und Hospizwesen gefordert. Dahinter stehen Studien, die zeigen, dass Patienten, die in den Genuss derartiger (wirklicher) Sterbehilfe kommen, in der Regel keine Wünsche nach vorzeitiger Lebensbeendigung haben. Gegen dieses Argument steht aber einerseits der berechtigte Hinweis, dass wir von einer flächendeckenden Versorgung mit Palliativmedizin und Hospizen weit entfernt sind (derzeit ist nur etwa 1 % des Bedarfs gedeckt)17 und andererseits die Tatsache, dass bei ca. 5 bis 8 % der Patienten im Endstadium auch mit der gegenwärtig stärksten Medikation keine Schmerzfreiheit erreichbar ist.18 Diese Argumente haben immerhin dazu geführt, dass die Rechtsprechung mittlerweile bei allen Formen von Sterbehilfe sehr zurückhaltend geworden ist.19 Insbesondere ist beim ärztlich assistierten Suizid der Arzt – bei Vorliegen einer Patientenverfügung – aus seiner ›Garantenstellung‹ entlassen. Was die kommerzielle Suizidassistenz (Sterbehilfeangebote gegen erhebliche Entgelte) betrifft, gilt sie als moralisch anrüchig. Sie deshalb zu verbieten, ist gleichwohl unnötig. Dem Bedenken, solche Firmen könnten Menschen zum Suizid ›verleiten‹ (d. h. aus Eigeninteresse deren Selbstbestimmung korrumpieren) könnte damit abgeholfen werden, dass eine Honorarbegrenzung wie bei der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) festgesetzt wird. Es bleibt aber auch dann zu dieser Sterbehilfe-Form das Bedenken, dass Suizid immer noch tabuisiert ist, was sich in einer anthropologischen Reflexion auch nachvollziehen lässt.20 Dieses ist allerdings ein ethisches, kein juristisches Argument.


So ist es offenbar einzig die ›aktive Sterbehilfe‹, die heftig umstritten bleibt. In klaren Fällen (d. h. wenn nicht als Variante der passiven oder indirekten Form vollzogen) wird sie als ›Tötung auf Verlangen‹ gesehen und ist nach § 216 STGB strafbar. Als Begründung für diese Aufrechterhaltung wird auf die normative Struktur unserer Rechtsordnung hingewiesen. Das (›absolute‹) Tötungsverbot in Art. 2 GG ist nach gegenwärtiger Rechtsdogmatik nicht mit einem Recht auf ›Tötung auf Verlangen‹ vereinbar. Meines Erachtens sollten wir es uns an dieser Stelle nicht zu leicht machen. Deutschland ist aufgrund der historischen Erfahrungen ganz zu Recht viel sensibler gegenüber möglichen Aufweichungen dieser Norm als andere Länder.


4. Schluss: Ist frei gewähltes Sterben ein gutes Sterben?


Zum Abschluss dieser Überlegungen möchte ich eine Annahme überdenken, die in der gesamten Debatte über die Freigabe der Tötung auf eigenen Wunsch vorausgesetzt wird: Die Annahme nämlich, dass eine derartige Wahlfreiheit beim Sterben eine Vergrößerung der freien Selbstbestimmung des Menschen darstellt. Ich vermute, dass es sich dabei eher um eine Illusion handelt.


Um diese Annahme zu untersuchen, ist vorweg eine handlungstheoretische Unterscheidung zu erklären, nämlich die zwischen Handlung und Widerfahrnis.21 Am einfachsten lässt sich dazu auf Beispiele hinweisen. Wir können Handlungen wie Essen, Singen, Autofahren unterscheiden von Widerfahrnissen wie Stolpern, Niesen, Krankwerden. Bei Handlungen ist der Mensch aktiv, bei Widerfahrnissen passiv. Handlungen können geplant, ausgeführt, oder auch unterlassen werden, Widerfahrnisse hingegen sind hinzunehmen und zu ertragen – wobei das nicht notwendig etwas Schlimmes ist. Ein Lottogewinn ist auch ein Widerfahrnis und ist ja möglicherweise ein Glück. Gewiss können wir uns vor einigen schlimmen Widerfahrnissen bewahren. Wird das Auto ­regelmäßig gewartet, dann darf man sich auf ein reguläres Funktionieren der Bremsen verlassen. Der Ausbau der Deiche dürfte Hamburg vor einer Wiederholung des großen Sturmflut-Desasters von 1962 bewahren. An diesen Hinweisen kann deutlich werden, dass die Grundhaltung des modernen Machermenschen, des homo faber, dazu tendiert, fatale Widerfahrnisse als vermeidbar anzusehen. Trotzdem gehört es zur Grundbedingung des Menschseins, dass das Leben voller Widerfahrnisse ist, die hinzunehmen sind.22 Insofern ist eine letztlich grundlegende Hingabe Bestandteil eines vernünftigen menschlichen Selbstbewusstseins.


Sterben ist das größte Widerfahrnis im Leben. Soweit es leidvoll ist, kann sich der Mensch wenigstens um erträgliche Formen bemühen. Im Idealfall findet er zu leidfreien Formen – das wäre das ›gute Sterben‹. Kann dadurch der Widerfahrnischarakter des Sterbens beseitigt werden? Wer krank wird, sucht ärztliche Hilfe, hofft dadurch gesund zu werden. D. h. wir hoffen, dass auf diese Weise das Widerfahrnis des Krankseins nicht nur in eine akzeptable Form überführt, sondern dann auch beseitigt wird.


Was geschieht nun, wenn der Mensch die gänzlich unproblematische (also fachgerechte und gesellschaftlich anerkannte) Beendigung seines Lebens zur Hand hat? Offenbar ändert das Sterben seinen Charakter. Aus einem zu ertragenden Widerfahrnis wird eine Handlungsoption, die bei unerträglichem Leiden wählbar ist. Die Konsequenz wäre, dass eigentlich schon jedes irgendwie relevante Leiden seinen Widerfahrnischarakter verliert. Wegen der bestehenden Handlungsoption wird es von etwas zu Ertragendem zu einer frei gewählten Handlung.


Überlegen wir, wie ein solches Leben aussieht: Gerate ich nicht unter den Zwang, mein Leben, jedenfalls, sobald ich – durch irgendeine schwere Beeinträchtigung (z. B. Verlust der Seh-, Hör- Bewegungsfähigkeit) – seine Grenzen zu spüren bekomme, daraufhin zu befragen, ob es sich noch ›lohnt‹? Eine solche Frage mag ja auch jetzt schon unter Umständen auftreten, doch sie hat einen anderen Charakter, solange die Sterbehilfe-Option nur ganz bedingt zur Verfügung steht und der Suizid tabuisiert ist. Denn da werden auch gravierende Beeinträchtigungen auf dem Hintergrund des Gegebenseins des Lebens erlebt. Man lebt eben, weil man lebt; und wenn Leiden auftritt, dann kann das Leben schwer werden, doch auch das gehört dann dazu.


Jetzt aber, unter der Einrichtung einer weitgehend autonomen Verfügung über das Sterben, steht das Leben in seiner späten Phase unter der Bedingung, dass es noch ›lebenswert‹ sei: Dass also die Abwägung von Freuden gegen Leiden, von Annehmlichkeiten gegen Unannehmlichkeiten, von Vorteilen gegen die Nachteile, dass diese Abwägung positiv ausfällt.


Hinzu kommt, dass diese Frage nach dem Lebenswert ja nicht vom selbstbestimmten Subjekt allabendlich in ruhiger Besinnung überlegt, sondern dass sie in der Kommunikation mit allen Beteiligten, also Angehörigen, Bekannten, Ärzten, Pflegekräften präsent sein wird. Artikuliert der Patient Leiden, dann mag das gewürdigt werden, solange er tapfer ist. Falls er aber verzagt, weshalb sollten die Beteiligten dann Mitleid bekunden bzw. gar empfinden?23 Werden sie nicht fragen, was das für einen Sinn hat? Und wenn sie es nicht fragen, wird der Patient sich nicht fragen, ob sie vielleicht primär ihren eigenen Verlust-Schmerz vor Augen haben? Andersherum: Wie lange wird ein Patient, der sieht, wie seine Angehörigen gravierenden emotionalen, zeitlichen und materiellen Belastungen ausgesetzt sind, einfach deshalb, weil er die Sterbeoption nicht ergreift, der also sieht, dass seine Unterlassung solche Wirkungen hat, ein solches Unterlassen für richtig halten können? Und, noch ein anderer Fall: Werden Eltern, deren Kind, nach Auskunft der Ärzte aussichtslos leidet, in der Lage sein, dieses Leiden zu ertragen? Würden sie sich nicht egoistisch fühlen, wenn sie ihr Kind ganz unnötigerweise noch eine Weile am Leben hielten?


Zusammengefasst: Eine Verlagerung der Lebensbeendigung in die Selbstbestimmung (bzw. die Willkür) des leidenden Menschen dürfte eine verstärkte Verdinglichung und kalkulatorische Betrachtung des Lebens nötig machen und uns damit ganz neue Zwänge auferlegen. Es hat nur den Anschein, als könnten wir unser Sterben dann selbst bestimmen. In Wahrheit müssen wir es.


  1. 1Der Beitrag erschien zuerst in Wissenswert. Werte – Wissenschaft – Medien 3 (2014), S. 21–28; http://www.uni-hamburg.de/fachbereiche-einrichtungen/fb16/wissenswert/wissenswert_2014_3.pdf (23. 3. 2015). * 
›Sterbehilfe‹ ist durch den Wortbestandteil ›Hilfe‹ positiv konnotiert, wodurch dieser Sprachgebrauch eine Zustimmungssuggestion mitführt. Das sollte vermieden werden, denn es werden ja mit dem Ausdruck auch ethisch und juristisch stark umstrittene Praktiken bezeichnet. Die sonst überall übliche Alternativbezeichnung ›Euthanasie‹ wird in Deutschland mit der Begründung abgelehnt, sie erinnere an das NS-Programm zur Beseitigung lebensunwerten Lebens. Dabei waren es gerade die National­sozialisten, die als erste die erwünschte positive Suggestion ausgebeutet haben. Das einschlägige Gesetz (vom Okt. 1939) hieß »Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken«; vgl. Karl Heinz Roth (Hg.), Erfassung und Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum »Gesetz über Sterbehilfe«, Berlin 1984.
  2. 2»Die Schmerzbehandlung in der Endphase von Krebserkrankungen ist nach wie vor unzureichend […]. Noch immer gehört die BRD bei der Verordnung von morphinhaltigen Schmerzmitteln im Vergleich mit anderen europäischen Ländern zu den Schlusslichtern.« Dieter Birnbacher, »Sterbehilfe – eine philosophische Sicht«, in Felix Thiele (Hg.), Aktive und passive Sterbehilfe. Medizinische, rechtswissenschaftliche und philosophische Aspekte, München 2010, S. 31–42, hier S. 32; ganz ähnlich schon Weddig Fricke, Patientenwille und Sterbehilfe. Ein Plädoyer für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen am Ende des Lebens, Freiburg i. Br. 2006, S. 225 f.
  3. 3Stefan Welzk, »Sterben dürfen«, in Blätter für deutsche und internationale Politik 59/2 (2014), S. 9–13, hier S. 10.

  4. 4Birnbacher, Sterbehilfe (Fn. 2), S. 31.

  5. 5Ziffern dazu variieren, bei Birnbacher ist von ¾ der Deutschen die Rede, bei Dörner (2002) von 90 %. Vgl. Birnbacher, Sterbehilfe (Fn. 2); Klaus Dörner, Tödliches Mitleid. Zur Sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens, mit Beiträgen von Fredi Saal und Rudolf Krämer, Neumünster 2002.

  6. 6In einer Studie ist gezeigt worden, dass Ärzte einem Nicht-Mediziner, sei er Patient oder Angehöriger, im Durchschnitt nicht länger als 15 Sekunden zuhören, bevor sie unterbrechen; vgl. Fricke, Patientenwille und Sterbehilfe (Fn. 2), S. 99.
  7. 7La Mettrie, L’ homme machine [Leiden 1748], dt.: Der Mensch als Maschine, hg. von Bernd A. Laska, Nürnberg 1985. Von dieser problematischen medizinischen Anthropologie ist im Zusammenhang mit der Sterbehilfe viel zu selten die Rede. Vgl. jedoch Jürgen Mittelstraß, »Sterben in einer humanen Gesellschaft – oder: Wem gehört das Sterben?«, in Thiele (Hg.), Aktive und passive Sterbehilfe (Fn. 2), S. 51–66, hier S. 52 ff.


  8. 8Zu diesen beklemmenden ökonomischen Aspekten der Pflege von Sterbenden vgl. Fricke, Patientenwille und Sterbehilfe (Fn. 2), S. 15 ff.
  9. 9In meiner Kindheit war es noch selbstverständlich, dass sich Menschen, die sich zufällig z. B. im Zugabteil trafen, zu unterhalten begannen.


  10. 10Die Bundesärztekammmer bedroht in ihrer Berufsordnung den Suizid-assistierenden Arzt mit Entzug der Approbation. Rechtsverbindlich ist aber nicht diese, sondern sind die Ordnungen der Landesärztekammern, die den Passus nicht alle übernommen haben. Berlin hatte ihn übernommen. Trotzdem gewann 2012 ein zuwiderhandelnder Arzt vor Gericht gegen seine Berliner Ärztekammer; vgl. Christine Holch, »Sterbehilfe. Ich habe genug«, in Chrismon, Heft 4 (2013), S. 12–21, hier S. 15.
  11. 11Das Bundesjustizministerium hat eine 44-seitige Anleitung zur Anfertigung einer Patientenverfügung ins Internet gestellt. Man sollte aber wohl hinsichtlich der klärenden Wirkung dieser Belehrungen keine allzu hohen Erwartungen haben – schon das bloße Verstehen dürfte für viele ein Problem darstellen.

  12. 12Diese Forderung wird seit längerem in allen Umfragen von relevanten Mehrheiten gestellt. Einer Forsa-Umfrage zufolge waren es Anfang 2014 70 %, unter den 15 bis 29-Jährigen sogar 86 %. Vgl. »Mehrheit der Deutschen für aktive Sterbehilfe«, in Spiegel-online 16. 1. 2014, http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sterbehilfe-mehrheit-der-deutschen-fuer-aktive-sterbehilfe-a-943806.html (23. 3. 2015).

  13. 13Die Krankenkassen geben lediglich 0,05 % ihres Jahresetats für Palliativmedizin aus (70 Mio. Euro; zum Vergleich: Allein für Hustenlöser geben sie 100 Mio. aus). Dabei würde eine flächendeckende Versorgung mit Palliativmedizin und Hospizen aber auch nur ca. 0,5 % des Etats der Kassen kosten. Vgl. Fricke, Patientenwille und Sterbehilfe (Fn. 2), S. 227.


  14. 14 Der sogenannte ›Hippokratische Eid‹ mit dem Lebenserhalt als höchstem Ziel ist seit 1945 durch das ›Genfer Gelöbnis‹ ersetzt worden. Dort wird der Arzt auf einen ›Dienst der Menschlichkeit‹ verpflichtet; Welzk, Sterben dürfen (Fn. 3), S. 13.
 

  15. 15Vgl. Publikationen aus jener Zeit, etwa von Franco Basaglia, David Cooper, Jan Foudraine, Ronald D. Laing u. a.

  16. 16 Für diese Ausweitung des ökonomischen Denkens auf alle sozialen Beziehungen, tendenziell auf alles menschliche Handeln, hat Gary Becker 1992 den Nobelpreis für Ökonomie bekommen.


  17. 17Vgl. Holch, Sterbehilfe (Fn. 10), vgl. aber zu diesem Sachverhalt die Informationen in Fn. 12.


  18. 18Zu dieser Angabe sind allerdings auch die oben in Fn. 2 erwähnten Statistiken zum Schmerzmitteleinsatz einschlägig.

  19. 19Vgl. Friedhelm Hufen, »In dubio pro dignitate. Selbstbestimmung und Grundgesetz am Ende des Lebens«, in Thiele (Hg.), Aktive und passive Sterbehilfe (Fn. 2), S. 85–113, hier S. 98.

  20. 20Vgl. dazu die Überlegungen bei Pirmin Stekeler-Weithofer, »Ethik und politische Anthropologie«, in Jürgen Mittelstraß (Hg.), Der Konstruktivismus in der Philosophie im Ausgang von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Paderborn 2008, S. 133–154 und deren Kritik bei Geert-Lueke Lueken, »Ethik als philosophische Anthropologie. Zur Verteidigung des Kamlah-Projekts«, in ebd., S. 155–166.

  21. 21Meines Wissens ist diese Unterscheidung zum ersten Mal von Wilhelm Kamlah in ihrer anthropologischen Bedeutung deutlich herausgestellt worden, vgl. Wilhelm Kamlah, 
Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim 1973, S. I, § 3.

  22. 22 Dieses Wesensmerkmal der conditio humana ist es wohl, das sich im Suizid-Tabu ausdrückt. Allerdings wird das kaum noch angemessen verstanden.


  23. 23In einer Radiosendung habe ich eine Holländerin erzählen gehört, eine schwer kranke Freundin habe gegenüber ihrer Schwester über ihre Beschwerden geklagt und zur Antwort erhalten: Aber es ist doch deine Wahl! Zu dieser Geschichte brauchen wir keine Quellenangabe, die ihre Richtigkeit sichert, weil sie einfach plausibel ist.
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Heft 14 (2015)
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