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Menschlich glauben1

Irren ist menschlich. Das ist eine Binsenweisheit. Ein Wesen, das sich nicht irrt, wäre ein Übermensch, vielleicht Gott.


Glauben, so meinen wir, ist auch menschlich. Wer nicht glaubt, wäre zwar deshalb kein Un- oder Untermensch. Schon gar nicht wäre er der Teufel. Wer aber glaubt, nichts und an nichts und nicht einmal an sich selbst zu glauben, der scheint mir einfach unglaubwürdig zu sein. Er hat über den Glauben – und über seinen Glauben – vielleicht nur nicht genau genug nachgedacht. Ein Nachdenken über Glauben und Irren soll auch dieser Diskussionsbeitrag anregen. Ich selbst bin dabei weder Theologe noch Philosoph, sondern komme von der Mediävistik, Frühneuzeitforschung sowie der vormodernen Literatur- und Kulturwissenschaft her. Ich hoffe trotzdem, damit nicht fehl am Platz zu sein.


Über Religion und Glauben öffentlich und nicht nur unter Theologen oder in esoterischen Zirkeln zu reden, ist heute wieder alltäglich geworden. Es gilt das Schlagwort von der ›Rückkehr der Religion‹, das nahelegt, Glaube und Religion seien der Welt, unserer aufgeklärten, von Technik und wissenschaftlichem Fortschritt zunehmend beherrschten, beherrschbar gemachten und doch nicht ganz kalkulierbaren Welt, schrittweise abhanden, nun aber als das ›Kraftwerk‹ wiedergekommen, das eine Dresdner Ausstellung jüngst zu ihrem Gegenstand machte.


Religion und Aufklärung verhalten sich nicht wie Feuer und Wasser. Das metapherngetragene Licht der Aufklärung hat Religion nicht in den Schatten gestellt, wohl aber Schattenseiten von Religionen erkennbar gemacht. Vernunft und Wissenschaft haben die missionsferne Neugier an fremden Religionen geweckt und deren Kenntnisnahme und Anerkennung gefördert. Vernunft und Wissenschaft haben das Interesse an christlicher Religion und ihren Grundlagen beflügelt, die historische Bibelkritik, das geschichtliche Verständnis für die Entstehung und den historisch gebundenen Inhalt der biblischen Bücher sind aus keiner theologischen Fakultät mehr wegzudenken. Vernunft hat uns gelehrt, dass es nicht unvernünftig ist, zu glauben, Visionen zu sehen, uns eine Utopie auszumalen, Phantasie zu entwickeln – und dies, ohne sich in ihr zu verstricken, festzufahren und ihr Gefangener zu werden.


Kein Satz der Bibel ist an sich allein deshalb wahr, weil er, wie man lange Zeit meinte, von Gott selbst gesprochen wurde, der die Wahrheit ist. Die Bibel ist nicht ewiges Gottes-, sondern historisches Menschenwort. Diese Aussage klingt banal, doch sie ist längst noch nicht in christlichen Gemeinden, in deren einer ich Mitglied bin, anerkannt und geglaubt. Vor einigen Jahren war ich als Mediator zu einem Streitgespräch zwischen einem evangelisch-lutherischen Bischof und einem Hamburger Theologieprofessor geladen, in dem der Bischof mir nur schwer zugestehen konnte, dass er in seinem Hirtenamt, qua Amt also, der Wahrheit nicht näher stand als irgend sonst jemand in diesem Gespräch oder andernorts. Vernünftiges, vernünftig argumentierendes Verstehen ist auch in Glaubenssachen unabdingbar, wie sonst sollte man seinen Glauben anderen verständlich machen können. Ganz und gar bestritt mir der Bischof aber die Gültigkeit meiner Ansicht, dem verständigen Gläubigen genüge es nicht, wenn er von einem Sachverhalt oder einer Ansicht erfahre, sie sei biblisch überliefert und allein deshalb wahr. Wer, so sagte er, am sakrosankten Wort der Bibel als dem Wort Gottes als dem Fundament unseres Glaubens zweifle, nehme dem Glauben, nehme dem Glaubenden, nehme der Kirche die Basis, weshalb wir mit Bach singen: »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort«. Die Ausstellung in der Rüstkammer zum diesjährigen Kirchentag in Dresden hat recht naiv gezeigt, wie dieses Wort auch mit dem Schwert verteidigt wurde.


In der Antike, im Mittelalter bis hin zur Aufklärung galt der Zweifel als der größte Feind des Menschen, der als Vorbild nur dann galt, wenn man von ihm, wie z. B. vom letzten ernestinischen Kurfürsten, von Johann Friedrich dem Großmütigen, sagen konnte: »Im Glauben fest, in Hoffnung stark«. 


Glaube ohne Zweifel ist für mich nicht möglich, nicht, weil er unmöglich ist, sondern, weil er unfähig macht, sich dem Gespräch mit Glaubensuchenden und Andersgläubigen zu stellen. Nur wer den Zweifel – den Zweifel am Wissen, den Zweifel am Glauben, den Zweifel am Glaubenswissen – kennt, kann wirklich glauben.


Ein volksdummheitliches Sprichwort heißt: »Glauben heißt nicht wissen.« Aber wie könnten wir glauben, ohne zu wissen? Dieses Wissen ist zu aller Erst ein zeitlich bedingtes und kulturell vorgegebenes Wissen. Wäre ich nicht im letzten Weltkrieg und mitten in Europa geboren worden, ich wäre kein Christ, kein Christ mit evangelisch-lutherischem Bekenntnis. Ich will das nicht genauer ausführen, nur sagen, dass unsere Konfession, unsere kirchliche Zugehörigkeit oder eben auch Nicht-Zugehörigkeit, dass unser Glauben traditionell geprägt, nicht aber völlig determiniert ist. Es ist gut, dies nicht zu vergessen, wenn wir über andere Religionen und über Menschen reden, die anders glauben als wir.


Ohne Wissen und ohne Zweifel kein rechter Glaube. Ich will diese Behauptung an einigen Beispielen verständlich machen:


an Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde,


an seinem eingeborenen Sohn,


an der Jungfrau Maria,


an der Kreuzigung,


an der Auferstehung


und an den Wundertaten und den göttlichen Hinterlassenschaften, den Reliquien, die uns im Glauben stärken sollen.


1. Gott


In den letzten Jahrzehnten ist die Physik, die Teilchen- bzw. Astrophysik mit Geldbeträgen von wahrhaft astronomischer Höhe gefördert worden, um eine Erklärung zu finden für die Entstehung der Welt. Wer kennt das Wort nicht vom Urknall, von dem alles ausgegangen sein soll, der die Zeit, Energie und die Bildung von Materie angestoßen hat. Dass es den Urknall wirklich gegeben hat, ist eine theoriegestützte Annahme, sicher ist, dass er nicht geknallt hat. Das Wort ist eine Metapher unseres Atomzeitalters. Wissenschaftlich exakt bewiesen ist das Ereignis nicht, es existiert als Fixpunkt in einem weiß Gott klugen Modell, man ist ihm in diesem plausibel auf eine ganz kurze Zeitspanne nahegekommen und ahnt hier das Ende der Physik, die vielleicht neu gedacht werden müsste auch dann, wenn sich herausstellen sollte, dass es Materie gibt, die schneller ist als Licht. 


Auch gute Physiker meinen, der Urknall, wie immer er sich ereignet habe, bedürfe eines ihn begründenden Anstoßes, hier beginne Raum und Zeit der Metaphysik, hier läge die Chance für die Existenz Gottes, hier komme, solange man jedenfalls nichts Besseres weiß, der Glaube zu seinem Recht.


Wirklich? Was wäre uns ein solcher Gott der Physik, der nur solange existiert, wie er theoretisch nicht überflüssig ist? Der nach den Gesetzen der Physik keinen Willen haben und denken kann, da er dafür schon aus Materie bestehen müsste. Der im Nichts nicht einmal mit magnetischen Kraftfeldern hantiert und mit Strings und Quarks Boccia spielt. Der, wer weiß wie, Kraft, Raum und Zeit schafft. Viel Zeit, fast 14 Milliarden Jahre vergehen, bis auf einem Staubkorn des Universums die Evolution die Menschen hervorbringt, die, je weniger sie zum Leben haben, eines gar nicht brauchen: den Gott der Physik.


In allen Religionen, die Götter kennen, sind diese Götter Personen, kein magnetisches Feld, kein Teilchenbeschleuniger. In allen Gott-Religionen sind diese Götter Personen oder ein einziges Wesen, das man zum Herrscher der Welt ernannt, auf den höchsten Thron gesetzt und oft mit unmenschlichen ­Eigenschaften ausgestattet hat, dort, wo es Naturgewalten, Krankheit und Verderben als Strafen für eine sündige Menschheit schickt. Bis heute sagen Pfarrer unserer Kirchen, die glauben, Unbegreifliches begreifbar machen zu können, Gott strafe, da er mehr wisse als wir, und Gott prüfe uns in unserer Glaubensstärke. Wenn Menschen im Tsunami umkommen oder auf welche Weise ­immer aus dem Leben gerissen werden, ist dies schrecklich und unerträglich, aber kein Gottesgericht und keine Prüfung Gottes. Wer dies doch behauptet, redet zynisch.


2. Jesus Christus


Nicht für den Christen schlechthin, aber für mich als Christ ist Gott Mensch, ist Gott Jesus, außer dem kein anderer Gott ist. Dieser Menschengott Christus ist unter uns und in uns, er ist mein Gott, mit dem ich im Glauben mein Menschsein definiere. Dieser Gott ist Liebe, Geist, Wahrheit, Licht, dieser Gott ist bei mir und in mir, ich suche ihn in mir und finde ihn bei den Mitmenschen. Wo die Liebe nicht in mir ist, da ist Gott nicht, da ist Gott tot. Luther nennt den sündigen Menschen den Mörder Christi. Das ist vernünftig, da ein Gottesgedanke, ein Gedanke an das Verhältnis von Gott und Mensch, das nicht auf Liebe und Wahrheit vertraut und auf sie baut, unsinnig ist, unmenschlich ist und gottlos.


3. Maria, die Gottesmutter


An der Menschwerdung Gottes, die der Apotheose des antiken Herrschers widerspricht, hat die Menschen oft interessiert, wie sie vonstatten ging und ins Werk gesetzt wurde. Von der Gottesmutter weiß man wenig, sie lebte eben in einer von Männern geprägten Welt. Kulturgeschichtlich prägend ist die Jungfräulichkeit ihrer Mutterschaft, die im 19. Jahrhundert ausgedehnt wurde auf ihre Empfängnis, auf die jungfräuliche Mutterschaft ihrer Mutter Anna.


Ich gestehe, dass diese Debatte mich nicht interessiert, wie ich denn, aus Respekt vor der Privatsphäre meiner Eltern, auch nie bei diesen nachgefragt habe, wann und wie genau das mit meiner Zeugung vor sich ging. Warum soll Jesus nicht wie jeder Mensch gezeugt worden sein? Warum soll Gott nicht die Freiheit und die Kraft gehabt haben zu sagen: Was dieser Mensch Jesus tut, tut er in meinem Namen, in ihm bin ich zu erkennen.


Die Annahme der Jungfräulichkeit der Gottesmutter ist Ursache und Folge einer merkwürdigen Sexualmoral, einer Männerphantasie, auf die man um der Menschenwürde willen ruhig verzichten kann. Wenn Martin Walser in seinem neuesten Roman einen Muttersohn beschreibt, schreibt er übrigens nicht von einem zweiten Jesus, zeigt aber unter anderem, was eine zwar nicht weitsichtige, aber fernsehende und talkschauinteressierte Öffentlichkeit interessiert. Ich werde auf diesen Roman, der Glauben in eine Irrenanstalt verlegt, noch einmal kurz zurückkommen.


4. Kreuzigung


Die Menschwerdung Gottes hat auch so spitzfindige wie spielfreudige Spekulationen über die Wesenheit Gottes befördert, über seine Trinität, die Einheit in der Dreiheit. In der Taufe Jesu, wo der Vater seinen Sohn ruft und ihm die Taube des Heiligen Geistes schickt, bilden diese drei Wesen gerade keine Einheit, aber das macht nichts.


Herr Stekeler-Weithofer hat in seinem Buch »Sinn«, zum Lebenssinn, vorgeschlagen, an dem trinitarischen Gott festzuhalten, mit guten Gründen: Der Mensch Jesus, der Mensch, dem Gott innewohnt, trägt genetische Fest­legungen physischer und psychischer Natur in sich, die man dem Vatergott zuschreiben könnte. Der Heilige Geist befähigt uns und Christus in uns, sich mit unserem/seinem Sosein auseinanderzusetzen, es zu überwinden und zu ent-
wickeln.


Es gibt nicht wenige Mediziner, die – vertraulich – meinen, gegen den Vatergott, gegen die genetischen Festlegungen in uns, sei kein Kraut gewachsen. Wie auch immer: In der Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte ist das Beziehungsproblem genau so und doch ganz anders thematisiert worden: Gott­vater opfert seinen Sohn am Kreuz, verlangt Gehorsam, willentlich, wissentlich, funktionsbestimmt: Der Tod tilgt die Sünden der Menschen und erlöst sie vom Tod.


Bei der Gedenkfeier am 11. September 2011 aus Anlass des Angriffs auf die Twintowers vor 10 Jahren, bei dem mehr als 3000 Menschen starben, Menschen vieler Religionen und Hautfarben, verlas der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Herr Bush jr., einen Brief des ersten Präsidenten der USA nach den Befreiungskriegen, Abraham Lincoln. Er war gerichtet an eine Mutter, die alle ihre fünf Söhne im Krieg verloren hatte. Er schreibt ihr mitfühlend und sucht sie zu trösten, indem er ihr sagt, die Söhne seien als Helden für die gerechte Sache gestorben.


Von einem amerikanischen Präsidenten ein Schreiben zu bekommen, ist gewiss eine Ehre, aber ist es auch ein Trost? War die Mutter getröstet? Ich weiß es nicht. Dass dieses Schreiben verlesen wurde, offenbart die ganze Hilflosigkeit einer Opferphilosophie, die nicht zugeben kann, dass Tod sinnlos ist. Der Tod von fünf Söhnen war und ist unerträglich. Der Tod von mehr als 3000 Menschen war und ist genauso sinnlos und unerträglich.


Ich habe ein tiefes Misstrauen gegen alle Glorifizierung, Heroisierung und Funktionalisierung von Leiden, Martyrium und Tod. Ich bezweifle, dass man für einen anderen Menschen leiden und mit Hinweis auf eigenes Leid das Leid eines anderen Menschen verringern kann. Der Tod Christi am Kreuz ist unerträglich, so unerträglich wie der Tod der Märtyrer und Blutzeugen der Christenheit. Mich bestärkt es im Glauben nicht, wenn ich höre, dass Christi Leib und Blut für mich dahingegeben und vergossen wurde. Ich bezweifle, dass Franciszek Gajowniczek wirklich noch einmal glücklich werden konnte, nachdem Maximilian Kolbe an seiner Stelle in den Tod gegangen war.


5. Auferstehung


Gottes Tod am Kreuz findet im Ostergeschehen seine Definition und gewährt uns Gottes Gegenwart über den Tod hinaus. Gott ist coincidentia oppositorum, ist Licht, das die Finsternis aufnimmt und verwandelt.


Über die Jahrtausende hat man sich in Texten und Bildern ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Auferstehung gemacht. Jesus redet anders von ihr als die Evangelisten, Paulus schreibt den Korinthern anders als die Offen­barung berichtet. Man hat die Auferstehung leiblich verstanden, sich auf die natürlichen Beispiele von Pelikan, Phönix und Seidenwurm berufen oder auf das Wunder der Auferweckung des Lazarus, das ihm wohl lieber erspart ­geblieben wäre. Mittelalterliche Theologen haben sich darüber Gedanken gemacht, ob bei Jesu leiblicher Auferstehung auch das abgeschnittene praeputium mit auferstanden sei …


Wir lesen viel und erfahren wenig von der Auferstehung der Toten, von der Paulus (1 Kor 15, 13 f.) sagt: »Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.«


Christlicher Glaube ist Auferstehungsglaube. Aber was ist Auferstehung? Doch nicht jahrhundertelanges Liegen im Grab, bis die Posaune des Gerichts ertönt und sich entscheidet, ob man zur Schar der Auserwählten gehört, oder, obwohl gerecht gemacht, der Hoffnungsgewissheit beraubt und in die Hölle ­geworfen wird.


Auferstehung ist für mich Überwindung des Todes im Leben, Glaube an das Leben im Leben. Wissen, dass des Lebens Preis der Tod ist, der Tod aber das Leben nicht überwindet, nicht sinnlos macht und vergebens sein lässt.


6. Glaube und Glaubensstärkung


Im Glauben definiere ich mein Menschsein, mein Leben. Mit dem Glauben an die Auferstehung beantworte ich meine Frage nach dem Sinn meines Lebens, von dem ich hoffe und wünsche, dass es mit seinem Ende nicht ausgelöscht und ungeschehen gemacht ist. Auferstehung für mich ist gehorsame, also geduldige Annahme des Todes in Gewissheit der Todüberwindung.


Zu glauben, dies zu glauben, ist für mich lebensbestimmend, und ich weiß wohl, das andere Menschen, Mitmenschen, ihr Leben ganz anders bestimmen, indem sie an vieles andere glauben, daran ihr Herz hängen und ihren Glauben durch anderes bestärken. Wer Fußball spielt und sich vor Spielbeginn bekreuzigt in der Hoffnung, ein Tor zu schießen, der möge dies tun, der Gegner tut’s auch. Wer nach Jerusalem fährt, um das Grab Christi zu sehen, der möge dies tun und möge nicht gottlos zurückkommen.


Walter Benjamin hat vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) behauptet, es verliere seine Aura. Das Heilige Grab in Jerusalem ist allein in Deutschland annähernd 100 Mal kopiert worden und hat seine Aura für den nicht verloren, der glaubend dahinpilgerte. Das Kunstwerk hat nicht Aura, sondern wir messen sie ihm zu, wie die Natur an sich keine Würde hat, ohne dass wir sie ihr zumessen. Wer nach Lourdes oder nach Tschenstochau pilgert und eine Kopie des Madonnenbildes oder der Madonnenstatue mitnimmt in der Hoffnung, Segen oder gar Heilung zu erfahren, möge dies tun. Ich hoffe nur, dass er, wo die erwartete Wirkung ausbleibt, nicht an sich selbst verzweifelt und in ein Unglück gestürzt wird, von dem er vor der peregrinatio verschont geblieben war.


Da ich einen recht interessanten Rom- und Jerusalem-Pilgerbericht aus dem 16. Jahrhundert ediere, habe ich, auch mit einigen meiner Studenten viele Heilige Gräber besehen als historische Zeugnisse. An sie bindet mich kein Glaube, bei mir wäre er Aberglaube.


Martin Walser hat in seinem Menschensohn-Roman über einen Anstaltsarzt berichtet, der Reliquien sammelt und dabei bemerkt, dass es keine wahren oder falschen Reliquien gibt. Eine Reliquie entsteht im Glauben. Auch der tausendste Nagel vom Kreuz Christi, oder nur der eine Heilige Rock sind nur deshalb wahr und echt, weil man glaubt. Reliquien sind keine Kraftwerke, vielmehr investiert man in sie eine Kraft des Glaubens und erhält Glaubensstärke zurück. 


Schluss: Menschlich glauben


Ich habe eingangs gesagt, dass ich nicht unbesehen glaube, was in der Bibel steht oder traditionell vorgegeben ist. Ich glaube auch Luther nicht unbesehen, gleichwohl gehören die biblischen Schriften und Luthers Werke zu den von mir am meisten gelesenen Büchern.


Mein Glaube ist vernunftgeleitet und daher alles andere als beliebig oder Folge einer Bedürfnistheologie. Wenn ich an die Auferweckung des Lazarus, der schon vier Tage lang im Grab lag und stinkend verweste, nicht glaube, nicht glauben will, so deshalb, weil ich den Vorgang für zutiefst unmenschlich halte. Keiner von uns möchte in diese Situation kommen, nicht nur wegen der medialen Aufmerksamkeit, die ihm dann entgegengebracht würde und die man nicht beherrschbar machen sollte mit Sprüchen, man sei eben nicht tiefer als in Gottes Hand gefallen.


Ich kann und will nicht an einen Gott glauben, der Rache übt und mich zum Werkzeug macht. Kein Toter im Krieg kann gottgewollt sein, keiner ­Tötung von Mitmenschen anderen Glaubens kann ein göttlicher Auftrag ­zugrunde liegen. 


Mein Glaube, wie ich ihn begreife, ist menschlicher Glaube und ich hoffe und glaube gewiss, dass wir uns über das ›Humanum‹ in diesem Glauben vernünftig verständigen können. Was human ist und was wir für human halten, ist nicht unabänderlich vorgegeben, sondern geschichtlich wandelbar und auf Zustimmung in Freiheit hin angelegt. Unser geschichtlich geprägtes Grund­gesetz ist nicht vom Himmel gefallen, basiert wohlweislich nicht auf Kirchenrecht und ist nicht unabänderlich (gleichwohl noch immer ganz gut). Spätestens die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik hat gelehrt, dass wir alle mit Blick auf das ›Humanum‹ noch dazulernen müssen. Es reicht wohl nicht aus zu behaupten, der Mensch sei erschaffen und kein Schöpfer des Menschen. Das verhöhnt die Mediziner, die unsere physischen und psychischen Gebrechen zu heilen helfen.


Glauben sei ohne eifernden Fanatismus menschlich, darüber, glaube ich, müssen wir uns immer neu verständigen, innerhalb und außerhalb der Kirchen, mit Menschen aller Konfessionen und mit konfessionslosen Menschen. Unter verständigen Menschen ist glauben gewiss.


  1. 1Einführungsvortrag im Rahmen des Akademie-Forums »Glauben ist menschlich« am 30.9.2011 in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
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Heft 8 (2012)
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1867-7061

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