Direkt zum Inhalt | Direkt zur Navigation

Benutzerspezifische Werkzeuge
Anmelden
Bereiche

Die Korrespondenz zwischen Christian Wolff und 
Ernst Christoph Graf von Manteuffel: 
Umfang, Bedeutung und Inhalt


Um Umfang, Bedeutung und Inhalt der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz skizzieren zu können, sollen zunächst einige fundamentale Daten aus der Biographie Wolffs angeführt werden. Dies ist nötig, damit der sich von 1738 bis 1748 erstreckende Briefwechsel Wolffs mit Manteuffel entsprechend eingeordnet werden kann.1

1. Biographisches zu Christian Wolff


Christian Wolff wurde am 24. Januar 1679 im schlesischen Breslau geboren.2 Nachdem er das Breslauer Magdalenengymnasium absolviert hatte, studierte er von 1699 bis 1702 Theologie, Mathematik, Physik und Rechtswissenschaften an der Universität Jena. 1702 legte er seine Magisterprüfung in Leipzig ab, wo er ab 1703 als Magister Legens an der Universität Leipzig lehrte. Die für den Erwerb des Magister Legens eingereichte lateinische Dissertation über die allgemeine praktische Philosophie nach mathematischer Methode abgehandelt erregte die Aufmerksamkeit von Leibniz.3 Ab 1704 trat Wolff mit Leibniz in einen mehr oder weniger intensiv geführten philosophischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Briefwechsel, der bis zu dessen Tod im November 1716 andauerte.4 Leibniz’ Empfehlung dürfte auch ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass Wolff 1706 als Professor für Mathematik an die Universität Halle berufen wurde. An der Fridericiana in Halle hielt er bis 1723 nicht nur Vorlesungen in Mathematik und Physik, sondern auch in Metaphysik und Logik sowie in einem Bereich, den wir heute als Biologie bezeichnen würden.5 Ende 1723 wechselte er schließlich, allerdings unfreiwillig, an die Universität Marburg. 


In seine erste Hallenser Zeit fallen zahlreiche Veröffentlichungen Wolffs. Ich möchte nur die allerwichtigsten nennen: 1710 erschienen die Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, 1712 publizierte er seine sog. Deutsche Logik, 1720 seine sog. Deutsche Metaphysik, im gleichen Jahr seine sog. Deutsche Ethik sowie 1721 seine Deutsche Politik und seine Deutsche Experimentalphysik, 1723 endlich seine Deutsche Physik.6

Es war vor allem Wolffs 1721 anlässlich der Übergabe des Prorektorats an den pietistischen Theologen Joachim Lange gehaltene Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, die einen vermutlich schon länger schwelenden Konflikt zwischen Wolff und den Hallenser Pietisten offen ausbrechen ließ.7 Wolff sah sich dem massiven Vorwurf des Atheismus und Fatalismus ausgesetzt. Der Konflikt erreichte mit Wolffs Exilierung aus Preußen durch Friedrich Wil-
helm I. im Jahre 1723 seinen Höhepunkt. Wolff musste bei Androhung des Todes durch den Strang binnen kürzester Zeit Halle verlassen. Er wechselte als Professor für Mathematik, Physik und Philosophie an die hessische Universität Marburg, wo er bis 1740 erfolgreich tätig war. 


In den Beginn des Briefwechsels mit Manteuffel fallen die Bemühungen der Wolffianer, Friedrich Wilhelm I. dazu zu bewegen, Wolff nach Preußen zurückzuberufen – Bemühungen, an denen Manteuffel entscheidenden Anteil hatte und die ein wichtiges Thema der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz der Jahre 1738 bis 1740 darstellen.8 Sie waren letztendlich auch von Erfolg gekrönt: Am 6. Dezember 1740 kehrte Wolff in einem triumphalen Einzug nach Halle zurück, wo er bis zu seinem Tode am 9. April 1754 an der Ausarbeitung und Niederschrift seiner Werke arbeitete und dem enzyklopädischen Anspruch, den er an eine systematische, nahezu alle Wissensdisziplinen seiner Zeit umfassende rationalistische Philosophie stellte, gerecht zu werden versuchte. Schon ein kurzer Blick auf das Verzeichnis der Reprint-Ausgabe der Werke Wolffs im Olms-Verlag zeigt, dass Wolff diesem Anspruch tatsächlich nachgekommen ist: Die deutschen Schriften Wolffs belaufen sich auf 24, die lateinischen Schriften auf 38 mitunter voluminöse Bände.9

2. Bedeutung und Umfang der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz


Der Briefwechsel Wolffs mit Manteuffel fällt in die Spätphase seines Schaffens. Er belegt nicht nur Wolffs kontinuierliche Arbeit an seinem enzyklopädischen Projekt, zu dem u. a. sein Werk zum Natur- und Völkerrecht gehört, das er in einigen Details mit Manteuffel erörtert.10 Die Wolff-Manteuffel-Korrespondenz zeigt vor allem auch, mit welcher Intensität sich Wolff und Manteuffel über aktuelle theologische, philosophische, rechtliche und naturwissenschaftliche Fragen und Debatten ausgetauscht haben, ein Austausch, der nicht selten über Manteuffel und seinen Kreis publizistisch fruchtbar gemacht worden ist.


Doch ist der Briefwechsel noch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung, die sich relativ einfach in Zahlen darstellen lässt. Anders als von Leibniz sind von Wolff nämlich nur verhältnismäßig wenige Briefe überliefert. Von den Briefen Wolffs, von denen wir heute wissen, macht der in der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz enthaltene Bestand rund vierzig Prozent aus.11 Die drei in der Universitätsbibliothek Leipzig vorhandenen Foliobände beinhalten folglich den am umfangreichsten überlieferten Briefwechsel Wolffs überhaupt, ein Briefwechsel, der nahezu geschlossen erhalten ist und über zehn Jahre kontinuierlich und über weite Strecken intensiv geführt worden ist. Er beginnt mit dem Brief Wolffs an Manteuffel vom 11. Mai 1738 aus Marburg, in dem er sich für Manteuffels Protektion und dessen Eintreten für seine Philosophie bedankt und der mit den Worten endet: »Ich empfehle die Wahrheit, die sich in meiner Philosophie befinden möchte, ferner zu aller hohen Protection […].«12 Die Korrespondenz schließt zehn Jahre später, relativ abrupt, mit dem Schreiben des Philosophen vom 5. November 1748 an Manteuffel aus Halle. 


Der Briefwechsel besteht aus insgesamt 488 Briefen: 288 auf Deutsch verfasste Briefe Wolffs, die im Original, also aus Wolffs Hand, vorliegen, und 200 französische Briefe Manteuffels, die in Form von Entwürfen, meist aber als ­Abschriften aus der Hand der Sekretäre Manteuffels erhalten sind. 


Der ursprüngliche Briefbestand muss jedoch noch etwas größer gewesen sein. Johannes Bronisch schätzt die heute noch erhaltenen Briefe der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz auf etwa drei Viertel bis vier Fünftel des mutmaß­lichen ursprünglichen Gesamtbestands von ca. 576 Briefen.13 Verlauf und Dichte der Korrespondenz sind durchaus unterschiedlich, weisen aber eine deutliche Zunahme des Briefaufkommens in den Jahren 1746 bis 1748 auf, die mit rund 250 Briefen mehr als die Hälfte des erhaltenen Briefwechsels ausmachen. In der zweiten Spalte der folgenden Tabelle sind die Monate aufgeführt, für die Korres­pondenzen belegt sind. Fehlende Monate indizieren, dass entsprechende Briefe entweder nicht erhalten sind oder dass keine Korrespondenz stattgefunden hat.


Tabelle 1: Verlauf und Dichte der Korrespondenz 1738–1748; 
W = Wolff-Briefe, M = Manteuffel-Briefe.

JahrBriefzeitraumAnzahl BriefeUmfang Briefe
173811.05. bis 28.12.13 Briefe (9 W, 4 M)61 Seiten (Ø ≈ 4,7 Seiten pro Brief)
173901.01. bis 30.12.35 Briefe (20 W, 15 M)138 Seiten (Ø ≈ 3,9 Seiten pro Brief)
174005.01. bis 31.12.45 Briefe (26 W, 19 M)144 Seiten (Ø ≈ 3,2 Seiten pro Brief)
174102.01. bis 10.02.; 09.04. bis 15.06.; 01.10; 30.12.11 Briefe (8 W, 3 M)27 Seiten (Ø ≈ 2,45 Seiten pro Brief)
174221.01.; 25.03. bis 18.05.; 21.09. bis 23.10.; 31.12.14 Briefe (9 W, 5 M)38 Seiten (Ø ≈ 2,7 Seiten pro Brief)
174301.01.; 07.04. bis 27.08.; 06.10. bis 30.12.32 Briefe (24 W, 8 M)116 Seiten (Ø ≈ 3,6 Seiten pro Brief)
174405.01. bis 30.12.50 Briefe (41 W, 9 M)166 Seiten (Ø ≈ 3,3 Seiten pro Brief)
174501.01. bis 08.08.38 Briefe (31 W, 7 M)120 Seiten (Ø ≈ 3,15 Seiten pro Brief)
174612.04. bis 30.12.64 Briefe (32 W, 32 M)197 Seiten (Ø ≈ 3,1 Seiten pro Brief)
174701.01. bis 30.12.113 Briefe (48 W, 65 M)334 Seiten (Ø ≈ 2,95 Seiten pro Brief)
174802.01. bis 28.03.; 
Ende Juni bis 05.11.75 Briefe (40 W, 35 M)197 Seiten (Ø ≈ 2,6 Seiten pro Brief)

Der Briefbestand beläuft sich auf rund 1550 Seiten, was zeigt, dass es sich bei den Briefen keineswegs um kurze Mitteilungen handelt.14 Die Briefe haben vielmehr einen durchschnittlichen Umfang von drei bis vier Seiten. 


Auszüge aus den Briefen der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz hat bereits Heinrich Ostertag in seiner Dissertation Naturphilosophisches aus Wolffs Briefwechsel mit Manteuffel und in der erweiterten Fassung Der philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffelschen Briefwechsels aus dem Jahr 1910 veröffentlicht.15 Die Extrakte Ostertags geben jedoch nur einen einseitigen Eindruck von der Korrespondenz, da sie auf Wolffs philosophische Äußerungen fokussiert sind und somit keinen adäquaten Einblick in die Breite der zwischen den Briefpartnern verhandelten Themen gewähren. Vor allem aber werden die Auszüge der Person Manteuffels nicht gerecht, weil sie diese weder intellektuell noch in ihrer wissenschaftspolitischen Funktion für den Wolffianismus gebührend würdigen; die Extrakte vernachlässigen zudem wichtige biographische Details aus Wolffs später Lebensphase. An der Tatsache, dass Ostertags ausgearbeitete Dissertation gerade einmal einen Umfang von rund 190 Seiten hat, die historisch-kritische Edition des reinen Briefmaterials aber voraussichtlich über 1000 Seiten umfassen wird, lässt sich leicht ablesen, wie stark Ostertag aus dem Briefmaterial selektiert hat.


Es ist nun zweifellos bereits ein Glücksfall, dass der Wolff-Manteuffel-Briefwechsel überhaupt in dieser Geschlossenheit erhalten ist. Aber es kommt noch eine Besonderheit hinzu: Im Handschriftenkonvolut sind außer den Briefen noch etwa neunzig weitere Manuskripte eingebunden. Diese stellen sich bei näherer Analyse der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz zwar nicht in allen, aber doch in vielen Fällen als Beilagen heraus, die Manteuffel zahlreichen seiner Briefe an Wolff angehängt hat, so unter anderem – um nur ein Beispiel zu nennen – eine kleine Abhandlung über Elektrizität aus der Feder des Leipziger Professors Johann Heinrich Winkler.16 Es handelt sich zum Teil um Texte, über die Manteuffel und Wolff diskutiert haben oder die in unmittelbarem Zusammenhang mit den in den Briefen angesprochenen Themen und Debatten stehen. 


Neben dem Netzwerkcharakter des Manteuffel-Kreises, den die Beilagen eindrücklich dokumentieren, machen sie aber vor allem eines deutlich, nämlich dass Manteuffel Wolff mit zahlreichen Informationen in Form von Briefkopien, kleineren Abhandlungen und Stellungnahmen, aber auch mit Aus­zügen aus den jeweils neuesten Ausgaben der gelehrten Leipziger Journale, so etwa aus Gottscheds Neuem Büchersaal, versorgt hat. Dass Wolff in Halle nicht in Isolation versank, sondern an den Debatten der Zeit teilnehmen konnte, ist sicher zu einem großen Teil dem Einfluss Manteuffels und seines Kreises in Leipzig zu verdanken.


Die erwähnten Beilagen machen etwa 370 Seiten aus, wovon allerdings nur jener Teil, der in den Briefen Wolffs und Manteuffels thematisiert wird, mit­ediert werden soll. 


Unser Projekt der historisch-kritischen Edition des Briefwechsels zwischen Christian Wolff und Ernst Christoph Graf von Manteuffel hat im März 2011 seine Arbeit aufgenommen. Bislang haben die Projektmitarbeiter, Dr. Katharina Middell und Dr. Hanns-Peter Neumann, in der Hauptsache den Briefbestand beschrieben und transkribiert.


Ziel ist es, den Briefwechsel in einer historisch-kritischen Ausgabe vorzulegen, die drei Bände umfassen soll. Wir rechnen pro Band mit einem Umfang von rund 500 bis 600 Seiten. Der erste Band wird voraussichtlich Ende 2014 fertig werden, der zweite und der dritte Band folgen schließlich im 1 ½-Jahres-Takt, sodass 2017/2018 die dreibändige historisch-kritische Edition der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz fertig vorliegen wird. Wir werden aber schon im Jahr 2012 das reine, von uns transkribierte Briefmaterial, freilich ohne Kommentierung, Einleitung und Register, online in Form von pdf-Dateien der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen.


3. Inhalt und Themenspektrum der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz


Man könnte in gewisser Weise sagen, dass sich der enzyklopädische Anspruch, den Wolff in seinen Schriften vertritt, auch in seinem Briefwechsel mit Manteuffel spiegelt. Er spiegelt sich darin freilich anschaulicher, unmittelbarer und lebensnaher als in seinen Schriften. Der Briefwechsel gewinnt aufgrund seiner Kontinuität den Charakter eines reizvollen Dialogs, an dem wir interessiert teilhaben können und in dem eine erstaunliche Vielzahl an Themen besprochen wird, die sich keineswegs auf im engeren Sinne genuin philosophische Fragen beschränkt. Ich werde den Inhalt bzw. das Themenspektrum des Briefwechsels daher nur in einem kurzen Aufriss und ausschnittweise skizzieren, ohne dabei zu sehr ins Detail gehen zu können. Dennoch möchte ich zugleich schlaglichtartig, aber unkommentiert einige wenige Stellen aus dem Briefwechsel zitieren, um einen unmittelbaren Eindruck vom Stil der Korrespondenz zu geben. 


Neben der Vorbereitung der Rückkehr Wolffs von Marburg nach Halle, der Unterstützung, die Manteuffel Wolff beim Erwerb eines Rittergutes in Klein-Dölzig anbietet, medizinischen Kuren, die von Friederike Charlotte von Mihlendorf – von Manteuffel notre Distallatrice genannt – für Manteuffel, Wolff und dessen an Hypochondrie leidenden Sohn Ferdinand präpariert wurden, und vielen biographischen Details aus dem Leben Wolffs und Manteuffels finden sich zahlreiche andere Themen, die im Briefwechsel angesprochen werden. 


U. a. erörtern die beiden Briefpartner die Frage der popularphilosophischen Aufbereitung der Wolffschen Philosophie für Frauen. So legt Manteuffel in einem Brief vom 10. November 1738 Wolff die popularphilosophische Erklärung der Wolffschen Philosophie für das weibliche Geschlecht nahe, die deren Naturell gemäß ausfallen solle: »[…] de mettre votre doctrine un peu plus au niveau de l’esprit des femmes, naturellement plus superficielles et plus impatientes que la plus-part des hommes.«17 Den Vorschlag Manteuffels aufgreifend hält Wolff es für das Beste, die Philosophie des Dames in der Form einer Korrespondenz mit einem fiktiven adeligen »Fräulein« umzusetzen. Im Zuge dessen gibt er Manteuffel zugleich eine Probe, wie ein solcher Briefwechsel aussehen könnte: In einem an eine fiktive adelige Dame adressierten Schreiben (»Hochgebohrnes, Gnädigstes Fräulein«) sagt Wolff einleitend, »daß als dann erst das menschliche Geschlechte werde glückseelig werden, wenn das weibliche Geschlechte wird anfangen zu philosophiren […]«,18 bevor er dazu übergeht, dem »Fräulein« die Grundzüge seiner Logik darzulegen. 


Neben der Philosophie des Dames diskutieren Wolff und Manteuffel auch Probleme der Prinzenerziehung (hier etwa am Beispiel des zukünftigen Königs von Dänemark, Friedrich V., der ernsthafte Ambitionen hatte, Wolff nach Kopenhagen zu holen), den Zusammenhang von Politik und Wissenschaft sowie die naturrechtliche Konstitution der Gelehrtenrepublik, die Wolff gerne an Beobachtungen aus der Naturgeschichte exemplifiziert. Besonders deutlich wird dies in einem Brief Wolffs vom 12. April 1746, in dem er neueste Ob­servationen zu Korallengewächsen, entomologische Forschungen und die naturrechtliche Konstitution der res publica litteraria zueinander in Beziehung 
setzt:


»In dem letzten Tomo der Histoire de l’Academie Royale des Sciences, welchen vor kurtzem aus Paris erhalten, habe eine besondere Observation von den so genannten Plantis marinis, worunter man die Corallen=Gewächse rechnet, angetroffen. Man hat nemlich gefunden, daß die Naturalisten, wie man sie in Franckreich nennet, das ist, diejenigen, welche die Geschichte der Natur untersuchen, sich bisher bey vielem, als z. E. bey den Corallen=Gewächsen betrogen, indem sie dieselben unter die Pflantzen gerechnet, maßen dieselben ein Werck sind, welches von insectis wie die Wachsgehäuse von den Bienen erbauet worden, darinnen sie ihre Wohnung haben: wovon man verschiedene Experimente anführet, wodurch solches bestetiget wird. Und ist sich zu verwundern, wie so kleine Thiergen dergleichen große Wercke verfertigen können. Und siehet man hieraus, was viele kleine mit einander vereinigte Kräffte ausrichten können. Und da ich in dem sechsten Theile meines Juris Naturae, wo ich zum Beschluß deßelben de officiis et jure eruditorum gehandelt, erwiesen, daß das ewige und unveränderliche Gesetze der Natur die Gelehrten verbindet mit vereinigten Kräfften die Erkäntnis der Wahrheit in Wißenschafften und Künsten zu befördern, so wollte wünschen, daß sie zu denen insectis giengen, und von ihnen lerneten, was sie zu thun hätten. Im übrigen bleibet es wahr, daß Gott am grösten in dem kleinesten, und die Memoires des Insectes des H. de Reaumur zeiget augenscheinlich und überflüßig, daß bey denen selben viel wunderbahrere Dinge vorkommen, als bey den großen Thieren, und sie in ihrer Arbeit, die sie verfertigen, die grösten Künstler übertreffen. Und zwar je kleiner dieselben sind, so daß man mit bloßen Augen ihrer kaum, oder gar nicht wahrnimmet, je künstlicher arbeiten sie.«19

Hinsichtlich Wolffs Überlegungen zur moralischen Pflicht der Gelehrten ist Manteuffel in seinem Antwortbrief vom 15. April 1746 skeptisch, ob diese sich jemals so lernfähig und loyal gegenüber ihresgleichen erweisen würden, um den klugen, naturrechtlich fundierten und naturgeschichtlich exemplifizierten Ratschlägen Wolffs Folge zu leisten.20

Einen erheblichen Raum des gelehrten Briefwechsels nehmen theologische Fragen ein, so etwa die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, von Philosophie und Theologie, oder das Problem, wie auf Freigeisterei und religionskritische Stimmen angemessen und vor allem erfolgversprechend zu reagieren sei. 


Thematisiert werden zudem das Verhältnis von Antike und Moderne, aktuelle Kriminalfälle, der Stand der Wissenschaften in Europa, das Verhältnis Wolffs zu Leibniz, Newton, Euler und Maupertuis, naturgeschichtliche Observationen, die Zeugungslehre,21 die paracelsische Alchemie, die zeitgenössische Medizin (u. a. Sinn und Unsinn des Aderlasses), die Physik – hier insbesondere die Dynamik, Raum-Zeit-Theorien sowie Versuche zur Elektrizität und zum Magnetismus, an denen Manteuffel besonders stark interessiert war – und selbstverständlich die Metaphysik und Philosophie Wolffs. 


Doch auch scheinbar skurrile Themen werden berührt, wie etwa das ­Prob­lem des Umgangs mit Zeugenberichten über vermeintliche Gespenster- und Totenerscheinungen. Letzteres lässt sich durch folgenden Brief Wolffs an Manteuffel vom ersten Oktober 1746 dokumentieren: 


»Allein was ich mir von einer gewißen Begebenheit aus dem Breisgauischen ­gedencken sol, kan ich nicht sagen. Ich wil sie mit den Worten hieher setzen, wie sie mir sub d[iem] den 20 Sept. zugeschrieben worden. Es geschahe letzthin zu Zering in Breisgau unweit Freyburg, daß ein Mann ordentlich begraben wurde, an dem Todtenmahle, da die Anverwandte beysammen am Tische saßen und an der Zahl 14 Personen ausmachten, kam der Verstorbene in die Stube ein­getreten, wurde auch von jeder mann mit grauen angesehen. Er besahe alle Personen starr an und gieng wiederum in seinem ordentlichen habit davon. An der Wahrheit ist nicht zu zweiffeln, maßen alles auf das allergenaueste untersucht und ein richtiges Protocoll geführet worden. Jch weiß wohl, daß man dergleichen Erscheinungen vor Würckungen der Einbildungs=Krafft ausgiebet, zeige auch in der Psychologie, wenn dieselbe erkläre, selbst wie sie dadurch bewerckstelliget werden können; allein dieses gehet nur bey eintzelen Personen an, und bey gantz andern Umständen, als hier gewesen. Es fället aber gleichwohl auch schwere, daß einstimmige Zeugnis von 14 Personen in einer Sache, davon sie wohl kein Interesse zu hoffen haben, vor einen Betrug auszugeben. Sie müßen doch die Person des Verstorbenen, der einen jeden so starr angesehen, gekannt haben; daß nicht ein anderer ihnen ein Blendwerck machen können, zumahlen da er auch in seinem Seele=habit kommen, und wieder davon 
gegangen.«22

In seinem Antwortbrief rekurriert Manteuffel auf im weitesten Sinne gruppen- bzw. massenpsychologische Interpretationsversuche, die den gemeinsamen gesellschaftlichen Status, die gleiche Erziehung und die gleiche Religion der beteiligten Personen berücksichtigen, um die grundsätzliche Möglichkeit einer Massentäuschung und so die Phänomene der Gespenster- und Totenerscheinungen zu erklären.23

Weiterhin äußern sich Wolff und Manteuffel kritisch zum zeitgenössischen Verlags- und Zeitschriftenwesen sowie zum aktuellen Münzwesen. Sie diskutieren und organisieren weitläufig den Monadenstreit anlässlich der Monadenpreisfrage der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1747, in den Wolff und Manteuffel als Akteure stark involviert waren und der ab Oktober 1746 einen entsprechend großen Stellenwert im Briefwechsel einnimmt.24 Darüber hinaus werden immer wieder die ­europaweite Distribution und Übersetzung der Werke Wolffs thematisiert sowie die Rezeption der Wolffschen Philosophie in diversen gesellschaftlichen Schichten (Adel, Gelehrte, Kaufleute, Handwerker, Bauern).


Dies und vieles mehr, das hier nicht eigens dargelegt werden kann, zeigt, welch einen reichhaltigen Fundus an Informationen die Wolff-Manteuffel-Korrespondenz enthält, die – und das macht das allgemeine Faszinosum des Genres ›Brief‹ aus – anschaulich und lebensnah vor Augen geführt werden. Die historisch-kritische Edition der Wolff-Manteuffel-Korrespondenz, deren Besonderheit noch dadurch betont wird, dass sie zahlreiche zusätzliche Texte enthält, welche die beiden Partner in ihren Briefen ansprechen oder sogar intensiv diskutieren, wird daher der Aufklärungsforschung im Allgemeinen, der Erforschung des aufgeklärten Adels und der Wolff-Forschung insbesondere zugutekommen. Das Vorhaben beschränkt sich nicht, wie dies Heinrich Ostertag in seiner Dissertation getan hat, auf eine ausschließliche philosophische und philosophiehistorische Perspektivierung und Erschließung des Quellenmaterials, sondern will vielmehr dem interdisziplinären Potential des Briefwechsels gerecht werden und diesen in seiner ganzen Breite durch ein behutsames, der wissenschaftlichen Auswertung nicht vorgreifendes, diese aber erleichterndes editorisches Vorgehen präsentieren.


  1. 1Zu Manteuffels Biographie vgl. den Beitrag von Detlef Döring in diesem Band. Siehe außerdem Thea von Seydewitz, Ernst Christoph Graf Manteuffel. Kabinettsminister Augusts des Starken. Persönlichkeit und Wirken, Dresden 1926.

  2. 2Zu Wolffs Biographie vgl. den kurzen Überblick bei Wolfgang Drechsler, »Christian Wolff (1679–1754). A Biographical Essay«, inEuropean Journal of Law and Economics 4 (1987), S. 111–128.

  3. 3Christian Wolff, Philosophia practica universalis mathematica methodo conscripta, Leipzig 1703.

  4. 4Carl Immanuel Gerhardt (Hg.), Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff, Halle 1860. Gerhardt hat die Leibniz-Wolff-Korrespondenz indes nur unvollständig herausgegeben, da er allein den Bestand der Königlichen Bibliothek zu Hannover berücksichtigte (62 Briefe Wolffs und 35 Briefe von Leibniz). Walther Arnsperger hat in seiner Studie Christian Wolff’s Verhältnis zu Leibniz die Bestandsaufnahme vervollständigt (80 Briefe Wolffs und 47 Briefe von Leibniz), vgl. Walther Arnsperger, Christian Wolff’s Verhältnis zu Leibniz, Weimar 1897, S. 66–72.

  5. 5Zu Wolffs Zeugungslehre vgl. Stefan Borchers, Die Erzeugung des ›Ganzen Menschen‹. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Berlin / New York 2011, bes. S. 60 ff.

  6. 6Christian Wolff, Anfangs-Gründe Aller Mathematischen Wissenschafften, Halle 1710; ders., Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniss der Wahrheit, den Liebhabern der Wahrheit mitge­theilet (Deutsche Logik), Halle 1712; ders., Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Metaphysik), Halle 1720; ders., Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Ethik), Halle 1720; ders., Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit der gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Politik), Halle 1721; ders., Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkänntnis der Natur und Kunst der Weg gebahnet wird, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Experimental-Physik), Halle 1721–1722; ders., Vernünfftige Gedancken von den Würckungen der Natur, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Physik), Halle 1723. Zur Bibliographie Wolffs vgl. die von Dirk Effertz erstellte Bibliographie in Christian Wolff, Erste Philosophie oder Ontologie, übersetzt und hg. von Dirk Effertz, Hamburg 2005, S. 209–219.

  7. 7Die Rede erschien erstmals 1726: Christian Wolff, Oratio de Sinarum Philosophia Practica […], Frankfurt a. M. 1726. Vgl. dazu Michael Albrecht, »Einleitung«, in Christian Wolff, Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, übersetzt, eingeleitet und hg. von Michael Albrecht, Hamburg 1985, S. IX–CVI; vgl. a. Henrik Jäger, »Einleitung«, in François Noël, Sinensis imperii libri classici sex (Christian Wolff, Gesammelte Werke, Reihe III: Materialien und Dokumente, Bd. 132), Hildesheim u. a. 2011, S. 5–18, hier v. a. 
S. 11 ff.

  8. 8Vgl. dazu v. a. Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin / New York 2010, S. 72–122; vgl. a. Drechsler, Christian Wolff (Fn. 2), S. 116 f.

  9. 9Das gedruckte Werk Wolffs liegt als Reprint-Ausgabe vor: Christian Wolff, Gesammelte Schriften, hg. u. bearb. von Jean Ecole u. a., Hildesheim u. a. 1962–2011 (fortlaufend): Reihe I: Deutsche Schriften, 24 Bde.; Reihe II: Lateinische Schriften, 38 Bde.; Reihe III: Materialien und Dokumente, bislang 133 Bde.

  10. 10Christian Wolff, Jus Naturae Methodo Scientifica Pertractatum, 8 Teile, Frankfurt u. Leipzig 1740–1748.

  11. 11Gerhard Biller hat bereits auf die Herkulesaufgabe einer Edition der Wolff-Korres­pondenz hingewiesen, vgl. Gerhard Biller, Wolff nach Kant. Eine Bibliographie, Hildesheim u. a. 2004 (2. verb. u. verm. Aufl. 2009), S. XI: »Ein drängendes Desiderat bleibt immer noch die Bearbeitung aller Wolff-Briefe, ohne die jede Gedankengenese unvollständig bleibt.«

  12. 12Universitätsbibliothek Leipzig (UBL), Ms 0345, Bl. 2v.

  13. 13Bronisch, Der Mäzen (Fn. 8), S. 213.

  14. 14Die 488 Briefe finden sich in der Universitätsbibliothek Leipzig in drei Konvoluten mit den Signaturen Ms 0345 (1738–1742) mit 303 Blättern, Ms 0346 (1743–1746) mit 411 Blättern und Ms 0347 (1747–1748) mit 553 Blättern; dabei müssen freilich die Leerblätter und die Beilagen abgezogen werden. Zwei nicht erhaltene Briefe Manteuffels sind bei Anton Friedrich Büsching abgedruckt, vgl. Anton Friedrich Büsching, Beyträge zu der Lebens­geschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer, Erster Theil, Halle 1783, S. 116–118 (Brief Manteuffels an Wolff vom zweiten Januar 1741) u. S. 121–125 (Brief Manteuffels an Wolff vom zehnten Februar 1741); zudem hat Büsching eine kurze Zusammenfassung eines nicht erhaltenen Briefs Wolffs an Manteuffel vom 15. Januar 1741 gegeben, die aber von mir nicht als Brief mitgerechnet wurde. Vgl. ebd., S. 118. – Der reine Briefwechsel zwischen Wolff und Manteuffel beläuft sich, ohne die Beilagen mitzuzählen, auf 1550 Folio­seiten.

  15. 15Heinrich Ostertag, Naturphilosophisches aus Wolffs Briefwechsel mit Manteuffel, Leipzig 1910; ders., Der philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffelschen Briefwechsels, Leipzig 1910 [ND Hildesheim u. a. 1980].

  16. 16UBL, Ms 0345, Bl. 145r–149v.

  17. 17Ebd., Bl. 36r.

  18. 18Beilage zum Brief Wolffs an Manteuffel vom 29. November 1738, ebd., Bl. 39r.

  19. 19UBL, Ms 0346, Bl. 277v–278r.

  20. 20Ebd., Bl. 279r–280v.

  21. 21Der meines Wissens erste Brief Wolffs aus der Korrespondenz mit Manteuffel, der überhaupt gedruckt worden ist, und sich, ausgehend von der Regenerationsfähigkeit von Süßwasserpolypen, mit Fragen der Zeugungslehre beschäftigt, erschien 1745 in Christian Gottlieb Kratzenstein, Abhandlung von dem Nutzen der Electricität in der Arzneywissenschaft, Halle 1745, S. 42–50 (Brief Wolffs vom 27./28. Juli 1743); vgl. dazu Stefan Borchers und Johannes Bronisch, »Christian Wolff und der Süßwasserpolyp«, in Studia Leibnitiana 37 (2005), S. 224–237, insb. S. 231 ff.

  22. 22UBL, Ms 0346, Bl. 316r–316v.

  23. 23Vgl. Manteuffels Brief an Wolff vom 6. Oktober 1746, ebd., Bl. 319r–320v.

  24. 24Vgl. dazu Bronisch, Der Mäzen (Fn. 8), S. 232 ff.; Hanns-Peter Neumann, »›Den Monaden das Garaus machen‹. Leonhard Euler und die ›Monadisten‹«, in Horst Bredekamp und Wladimir Velminski (Hg.), Mathesis & Graphé. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme, Berlin 2010, S. 121–155; Hanns-Peter Neumann, »Zwischen Materialismus und Idealismus – Gottfried Ploucquet und die Monadologie«, in Hanns-Peter Neumann (Hg.), Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung, Berlin/New York 2009, S. 203–270, insb. S. 206–218.
loading ....
Artikel Navigation
Heft 8 (2012)
Beiträge Diskussionen Berichte & Notizen
Footer - Zusätzliche Informationen

Logo der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Sächsische Akademie
der Wissenschaften

ISSN:
1867-7061

Alle Artikel sind lizensiert unter:
Creative Commons BY-NC-ND

Gültiges CSS 2.1
Gültiges XHTML 1.1