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Nachhaltigkeit – die Geburtsurkunde eines Begriffs


Sachsen ist ein Land, in dem schon sehr lange und tiefschürfend (um ein Wort aus der bergmännischen Sprache zu verwenden) über den richtigen Umgang mit Ressourcen nachgedacht wird: vom »Berggeschrey«, dem Silberboom in der Renaissance, bis zur Abwicklung des Uranbergbaus und der aktuellen Welle von Erkundungsbergbau angesichts weltweit steigender Rohstoffpreise; von den Experimenten des Freiherrn von Tschirnhaus mit Brennspiegeln um 1700 bis zum Aufbau einer Solarindustrie; von den frühen kursächsischen Forstordnungen bis zum Dauerwald-Konzept der 1920er Jahre und der Waldschadensforschung der 80er Jahre. Wie lässt sich die Gewinnung mineralischer und fossiler Bodenschätze schonend und verantwortlich gestalten? Was tun, wenn die Lagerstätten erschöpft sind? Wie lassen sich nicht-erneuerbare Ressourcen mit nachwachsenden Rohstoffen kombinieren und ergänzen? Wie kann man das eine durch das andere substitu-
ieren?


Diese sächsische Denktradition ist außerordentlich vielfältig. Sie reicht von Paulus Niavis, dem humanistischen Pädagogen, der um 1490 die Vergewaltigung von mater terra anprangerte, über Georg Agricola, den weltberühmten Bergbaukundigen der Renaissance, zu dem Geologen Gottlob Abraham Werner. Dieser Gelehrte nahm neben seinen wissenschaftlichen Forschungen um 1800 die Exploration der sächsischen Braunkohle-Lager in Angriff. Alexander von Humboldt, der »erste Ökologe«, war neben Friedrich von Hardenberg (Novalis) sein Schüler. Die Gründung eines »Weltforums der Ressourcen-Universitäten für Nachhaltigkeit« im Sommer 2012 mag als aktuellstes Beispiel in dieser Reihe dienen. Vor allem in zwei Hochschulen Sachsens hat sich das Denken über Ressourcen institutionalisiert: In der Bergakademie Freiberg, gegründet 1765, und in der 1811 gegründeten Forstakademie Tharandt. Die eine erforschte in der Vergangenheit vor allem die Suche nach Lagerstätten und die Methoden der Extraktion von mineralischen und fossilen Rohstoffen. Die ­andere war und ist (heute als Teil der Technischen Universität Dresden) mit der Nutzung der nachwachsenden Ressource Holz befasst. Beide hatten schon früh eine weltweite Ausstrahlung.


Diese Traditionslinie ist ein außerordentlich wertvolles Erbe, das dieses Land im 21. Jahrhundert produktiv nutzen und weiterentwickeln sollte. Denn die Ressourcenfrage ist in der globalisierten Welt von heute ein »Mega-Thema«. Wir sprechen von »peak oil«, dem Fördermaximum und dem drohenden Versiegen der Ölquellen. Wir sprechen von »seltenen Erden«, die für viele der modernen Schlüsseltechnologien (noch) unersetzlich sind. Wir sprechen von einer teilweise dramatischen Ressourcenknappheit, ja sogar von drohenden Ressourcenkriegen. Was tun?


Alle reden von Nachhaltigkeit.1 Die Flaschenpost, die ich in den Strom der zahlreichen Diskussionen zum Thema Nachhaltigkeit werfen möchte, hat zwei Botschaften: Nachhaltigkeit ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit. Und: Wer sich heute für Nachhaltigkeit engagiert, ist Teil einer reichen Geschichte. Dieses Denken hat tiefe Wurzeln in den Kulturen der Welt. Es ist ein geistiges Weltkulturerbe. Auch der Begriff, den wir heute dafür verwenden, ist kein zeitgeistiges Modewort. Seine Geschichte beginnt nicht erst in unserer Gegenwart, nicht erst in den Thinktanks, den Denkfabriken der UNO oder des Club of Rome. Er beginnt mit einem Buch, das vor 300 Jahren in Leipzig erschien.


I.


Das alte, lange Zeit fast vergessene Buch mit dem sperrigen Titel Sylvicultura oeconomica – Anweisung zur wilden Baumzucht2 hat es in sich: Es schenkte uns eine semantische Innovation, die bis heute nachwirkt, ja erst heute ihr volles Potential entfaltet. Wenn es in barocker Sprache, in immer neuen Anläufen, in weitschweifigen, kreisenden und tastenden Denkbewegungen die »nachhaltende Nutzung« der Ressource Holz im Dienste des »gemeinen Wesens« und der »lieben Posterität« einfordert, erlebt der Leser die Verknüpfung eines ­bestimmten Wortes mit einer klar umrissenen Idee. An dieser Stelle begann die Ausprägung des Wortes zu einem Begriff. Das Buch liefert uns eine Blaupause für unser Leitbild und enthält die Geburtsurkunde unseres modernen Begriffs Nach-
haltigkeit.

Abb. 1: Porträt von Hans Carl von Carlowitz (1645–1714). 
Foto: Technische Universität Freiberg.Abb. 1: Porträt von Hans Carl von Carlowitz (1645–1714). 
Foto: Technische Universität Freiberg.

Der Autor ist Hans Carl von Carlowitz, geboren 1645 auf Burg Rabenstein bei Chemnitz, gestorben 1714 in Freiberg. Im Jahr 1713, als sein Buch erscheint, amtiert er als Oberberghauptmann und Leiter des sächsischen Oberbergamtes in Freiberg, der Silberstadt in den Ausläufern des Erzgebirges. Sein Amtssitz in der Altstadt von Freiberg ist äußerlich so gut wie unverändert erhalten. In der geschlossenen Häuserfront der Kirchgasse, die in einer langgestreckten Krümmung vom Schloss zum Dom führt, erhebt sich ein wuchtiger spätgotischer Bau. Hinter dessen dicken Mauern hat seit 350 Jahren ununterbrochen bis heute das sächsische Oberbergamt seinen Amtssitz. Ein Hauch wie aus Goethes »Faust« weht herüber aus der Renaissance, der Zeit der Wahrheitssucher, ­Alchemisten und Wünschelrutengänger. In der Ära Carlowitz hatte man die Suche nach dem »lapis philosophorum«, dem Stein der Weisen, der die Transmutation der Metalle möglich machen sollte, noch nicht ganz aufgegeben. Doch ist nicht das »Zauberwort Nachhaltigkeit«, dessen Urtext Carlowitz in seinen Diensträumen im oberen Stockwerk des ehrwürdigen »Berg-Ambts-Hauses« niederschrieb, für uns und in Zukunft der eigentliche »Stein der Weisen«?


Welchen Rang hat das Konzept heute? Ich zitiere in der lingua franca der globalisierten Welt, dem Englischen: »In an age in which we are denuding the resources of the planet as never before and endangering the very future of ­humanity, sustainability is the key to human survival.«3 »Nachhaltigkeit« ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit in einer Epoche, in der wir den Planeten und dessen Ressourcen wie nie zuvor plündern und damit sogar die Zukunft der Menschheit gefährden. So prägnant drückte es der frühere Vizepräsident des Internationalen Gerichtshofes, der sri-lankische Jurist Christopher G. Weeramantry, aus. 


Gewiss zielt der Begriff heute auf das große Ganze ab. »Sustainability« gilt als universelles Prinzip für den Umgang mit den Ressourcen, ja sogar für eine Transformation unserer Lebensweise, der Muster, wie wir produzieren, konsumieren und zusammen leben. Carlowitz lag primär die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz am Herzen. Doch in den Tiefenstrukturen des Begriffs werden Zusammenhang und Kontinuität zwischen der Sylvicultura ­oeconomica und unserem modernen Konzept sichtbar. 


Spiegelt man unseren Diskurs in der alten Quelle, so macht man erstaun­liche Entdeckungen. Wo die Brundtland-Kommission der UN, die das moderne Konzept 1987 auf die Weltbühne brachte, eine nachhaltige Entwicklung forderte, »welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen«,4 ging es Carlowitz vor 300 Jahren um eine immerwährende Holtz=Nutzung (Untertitel) zum Besten des gemeinen Wesens [= Gemeinwesen, U. G.] und denen Nachkommen zum Besten (Widmung).


In dem bahnbrechenden Bericht an den Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« hieß es bereits 15 Jahre vor dem Brundtland-Bericht: »We are searching for a model output that represents a world system that is […] sustainable without sudden and uncontrollable collapse«.5 An dieser Stelle taucht das englische Wort »sustainable« erstmalig in der Bedeutung von »nachhaltig« auf. Es geht um ein Modell für die Zukunft, das »nachhaltig« ist, und das heißt: gegen einen »plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps« 
gefeit.5

Auf dieser Basis entwarf der amerikanische Ökonom Herman Daly ein Jahr später, 1973, das Konzept einer »steady-state economy«, also einer Wirtschaft im »Fließgleichgewicht«. Gro Harlem Brundtland stellte 1986 in einer Rede den Zusammenhang zwischen der Erhaltung der Ressourcenbasis und einer dauerhaften Beseitigung der Armut auf der Welt her: »Sustainability […] requires the conservation and enhancement of the resource basis which alone can ensure that the elimination of poverty is permanent.«


Und Carlowitz? An der Schlüsselstelle der Sylvicultura oeconomica fragt er, »wie eine sothane [= eine solche U. G.] Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weil es eine unentbehrliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag«.6

Die Analogien sind frappierend: Wie der Brundtland-Report fordert der alte Text, die Selbstsorge der gegenwärtigen Generation und ihrer Gemein­wesen mit dem Gedanken der Vorsorge für die »Nachkommen«, also die kommenden Generationen zu verknüpfen. Wo Daly von einer »steady-state economy« spricht, formuliert Carlowitz die Forderung nach einer »beständigen und nachhaltenden Nutzung«. Wo Brundtland »conservation and enhancement« der Ressourcenbasis für erforderlich hält, ist für Carlowitz »Conservation und Anbau des Holtzes […] unentbehrlich«. Wie der Bericht an den Club of Rome entwickelt er Nachhaltigkeit als Gegenbegriff zu »Kollaps«, nämlich als das, was ein Land »in seinem Esse«, in seiner Existenz, erhält. Je genauer man hinschaut, desto deutlicher treten die Korrespondenzen und Kongruenzen zwischen dem alten Buch und dem modernen Diskurs hervor.


Wie konnte ein Begriff aus dem vormodernen, kameralistischen Denken kleiner geschlossener mitteleuropäischer Territorien in der globalisierten Welt des 20. Jahrhunderts eine derartig fulminante Wirkung entfalten? Ich vermute, das hängt mit dem epochalen Ereignis zusammen, das sich zwischen 1968 und 1972 abspielte: Auf den Fotos aus dem Weltall, die damals von den bemannten Mondflügen zur Erde gesendet wurden, sah sich die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz und gar von außen. Schlagartig konnten die Bewohner im ›global village‹ erkennen, dass der blaue Planet insgesamt ein geschlossenes, begrenztes System darstellt: spaceship earth. Die Grenzen des Wachstums kamen in Sicht und damit der Zwang zur Selbstbeschränkung.


Natürlich haben Brundtland und die Wegbereiter des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses Carlowitz nicht gelesen. Sie kannten nicht einmal seinen Namen. Entscheidend ist vielmehr Folgendes: Seit Carlowitz ist die Vokabel, der Wortkörper des allgemeinsprachlichen Verbes »nachhalten«, mit Bedeutungen aufgeladen, die ihn erst zu einem Begriff machten. Diese sind in dem erweiterten und globalisierten Begriff bis heute wirksam. Darin liegt die historische Bedeutung der Sylvicultura oeconomica: Nachhaltigkeits-Denken gab es schon immer, auch in Bezug auf die Ressource Holz. Carlowitz hat eine Form des Wortes »nachhalten« mit dem Gedanken der Daseinsvorsorge aufgeladen. So hat er das Denken in Verantwortung für die nachkommenden Generationen begreiflich gemacht – auf den Begriff gebracht. Was hat ihn dazu befähigt?


II.


Carlowitz’ Familie gehörte zum kursächsischen Uradel. 7 Verfolgt man ihren Stammbaum zurück, so stellt man fest, dass seit mehreren Generationen das Management der Wälder im sächsischen Erzgebirge ihre alleinige Domäne ­gewesen war. Jagd, Forstwesen und Flößerei waren durch die Jahrhunderte eng verknüpft. Für die kursächsische Ökonomie war spätestens seit dem »Berggeschrey«, dem Silberboom im späten 15. Jahrhundert, die sichere Versorgung der erzgebirgischen Bergwerke und Schmelzhütten mit Holz und Holzkohle von strategischer Bedeutung. Diese Ressource war neben der Wasserkraft und – nicht zu vergessen – der menschlichen Muskelkraft der wesentliche Energieträger bei der Gewinnung, Förderung und Verhüttung der Erze. Über lange Zeiträume wurde die Holzversorgung primär als ein Transportproblem betrachtet. Der Transport aus den Wäldern mit jeweils hiebreifen Beständen in den Kammlagen zu den Erzgruben und Schmelzhütten in den Tälern und Ausläufern des Erzgebirges war vor allem Aufgabe der Flößerei. Noch Carlowitz’ Vater war in Personalunion Landjägermeister, Oberforstmeister und Oberaufseher der erzgebirgischen Flöße. Doch in den Jahrzehnten nach dem 30-jährigen Krieg spitzte sich die Ressourcenkrise zu – nicht nur in Kursachsen. 


Der Bildungsgang des jungen Carlowitz scheint darauf angelegt gewesen zu sein, ihn systematisch und zielstrebig auf die Aufgabe vorzubereiten, Auswege aus dieser Krise zu suchen. Trotz »damahliger kümmerlicher Zeiten unseres geliebten Vatter=Landes«, so heißt es im Nekrolog des Freiberger Predigers Hieronymus J. Wäger, hätten die Eltern für die Erziehung ihres Sohnes »allen Fleiß und Kosten«8 angewendet. Er erhielt eine gediegene humanistische Schulbildung, wie sich in seinem Buch von 1713 an den Zitaten lateinischer Klassiker zeigen lässt. 1659 wurde Carlowitz auf das »damahls berühmte Gymnasium zu Halle in Sachsen verschicket«. Auf dem Lehrplan standen an erster Stelle die alten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch. Dazu kamen Logik und Rhetorik, Mathematik, Historie und Geographie. Einer der Lehrer dort war der lutherische Theologe Gottfried Olearius, der »überdies als guter Botanicus, Musicus und Astronomus« galt. Kirchenmusik, Gesang und Gebet gehörten selbstverständlich zum Tagesablauf. Nach fünf Jahren Gymnasium bezog er im Sommersemester 1664 die Universität Jena, wo er sich »auff Erlernung 
derer Rechte und Staats=Sachen / Erkundigung alter und neuer Geschichte … geleget«. Ein Kommilitone dort war möglicherweise noch der gleichaltrige Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) aus Leipzig.


Die Studien in Jena dauerten nicht länger als zwei Semester. Anschließend brach Carlowitz zu einer ausgedehnten Bildungs- und Studienreise auf, die ihn fünf Jahre lang von Schweden bis Malta, von London bis Venedig quer durch Europa führte. »Fremde Länder sind die besten hohen Schulen kluger Aufführung« (Wäger). Die »peregrinatio academica«, auch »grand tour« oder »Kavalierstour« genannt, war im 17. Jahrhundert für Söhne von Fürsten und Adligen obligatorisch. Sie diente gleichermaßen der Erweiterung des allgemeinen geistigen Horizonts wie der gezielten Vertiefung von Fachkenntnissen. Leitbilder waren der »uomo universale«, der »homme du monde«, der »Virtuoso«, die allseitig gebildete, weltoffene und weltläufige Persönlichkeit. 


III.


Auf vielen Stationen seiner europäischen Lehr- und Wanderjahre konnte Carlowitz intensiv die jeweiligen Lösungsansätze für die Ressourcenkrise studieren. Überall war in diesen Jahren der »prognosticirte Mangel an Holz« ein gesamteuropäisches Thema von hoher Priorität. Diese europäische Perspektive ist der Sylvicultura oeconomica eingeschrieben. »Binnen weniger Jahre«, schreibt er, »ist in Europa mehr Holtz abgetrieben worden / als in etzlichen seculis erwachsen.«9 Das Ende dieser Entwicklung sei leicht vorauszu­sehen. Schon Melanchthon habe ein »Zorn-Gericht des grossen GOttes« prophezeit, »dass nehmlich am Ende der Welt man an Holtz grosse Noth leiden 
werde.«10

Carlowitz war 1666 in London, als ein Buch des englischen Gartenplaners und Höflings John Evelyn Furore machte, das unter dem Titel »Sylva or a Discourse of Forest Trees«11 die »Vermehrung des Holzes« propagierte. In England sorgte man sich insbesondere um den Schiffbau des Landes und das »hölzerne Bollwerk Britanniens«, die Marine. John Evelyn sah die Wälder des Landes als ein unerschöpfliches Magazin, aber nur wenn sie pfleglich (with care) behandelt würden. Seine Formel dafür lautet: »Manage Woods discreetly«, das heißt: die Wälder »unterscheidend«, also ihre jeweilige Eigenart beachtend, und behutsam managen.

Abb. 2: Raubbau an den Wäldern um 1700. Vignette aus Carlowitz’ Buch. 
Foto: Technische Universität Freiberg.Abb. 2: Raubbau an den Wäldern um 1700. Vignette aus Carlowitz’ Buch. 
Foto: Technische Universität Freiberg.

Die Zukunft der Holzvermehrung sah Evelyn freilich vor allem in der plantation, der Pflanzung. Säen und pflanzen schienen ihm der sicherste Weg zur Lösung der Ressourcenkrise. In Baumschulen gezogen, in den ersten Jahren durch Zäune vor Vieh- und Wildverbiss geschützt, sollten die Bäume in diesen Holzplantagen heranwachsen: in geraden Reihen, gleichmäßig, geometrisch, uniform; wie in einer Allee oder einem Park. Der größte Nutzen und die beste Eignung bestimmen, welche Baumart jeweils kultiviert werden soll. Evelyn plädiert für schnellwachsende (speedy-growing) Baumarten. Er ist davon überzeugt, dass der menschliche Geist der wilden Natur eine neue Ordnung ­geben könne und – nicht zuletzt im Interesse der nachfolgenden Generationen –
geben müsse.


Seinen leidenschaftlichen Aufruf: »Let us arise and plant« – erheben wir uns und pflanzen wir Bäume! – untermauert er mit zahlreichen Beispielen für gute Praxis aus ganz Europa.


Sein eindringlichstes Plädoyer – und das Leitmotiv seines Buches – gilt der Vorsorge für die posterity, die Nachwelt. Jede Generation, so zitiert er ein lateinisches Sprichwort, sei nicht für sich allein (non sibi soli natus), sondern vielmehr für die Nachwelt, die nachfolgenden Generationen geboren (born for posterity). Seine eigenen Zeitgenossen aber, fügt er anklagend hinzu, seien offenbar fruges consumere nati – geboren, um die Früchte der Erde zu konsumieren.


An dieser Stelle entwickelt Evelyn die Ethik einer vorausschauenden und verantwortlichen Gesellschaft: »[…] man sollte kontinuierlich pflanzen, damit die Nachwelt Bäume hat, die geeignet sind, ihr zu dienen. Das aber ist unmöglich, wenn wir weiter so unsere Wälder zerstören, ohne an ihrer Stelle vorsorglich neue zu pflanzen, und ohne die Bäume, die wir tatsächlich abholzen nur mit großer Behutsamkeit und Rücksicht auf die Zukunft fällen.«12

Im Frankreich des Jahres 1667 konnte Carlowitz aus der Nähe studieren, wie Colbert, der mächtige Minister des Sonnenkönigs Ludwig des XIV. seine »grande réformation des forêts« vorantrieb.13La France perira faute de bois – Frankreich wird an Holzmangel zugrunde gehen – mit diesem schrillen Alarmruf leitete der französische Finanzminister Jean Baptiste Colbert 1661 die Forstreform ein. Deren Umsetzung in die Praxis hat der junge Carlowitz ebenfalls während seiner europäischen Wanderjahre kennenlernen können. Die wesentlichen Ziele hatte Colbert formuliert: die Einkünfte der Staatskasse aus den königlichen Forsten wiederherstellen, die Angst vor drohendem Holzmangel beseitigen, genügend Holz für den Schiffbau bereitstellen. Die übergeordnete Idee hatte der Sonnenkönig höchstpersönlich in einer handschriftlichen Notiz formuliert: […] il était nécessaire de faire un bon ménage des bois – 
für ein »gutes Management« der Wälder sorgen.


Diese Erkenntnisse fließen in die Ordonnanzen ein. Beim Abholzen ­einer Fläche müssen Samenbäume stehen bleiben. Durch die Aussaat und das Pflanzen von Bäumen sind leere Stellen, also Kahlschlagflächen und Lichtungen, wiederaufzuforsten. Ein Viertel jeder Fläche Niederwald muss abgeteilt und für die Weiterentwicklung zum Hochwald reserviert werden. Reserven zurückhalten (retenir) – man kann auch übersetzen – nachhalten. Mit dieser beiläufigen Formulierung greifen die Ordonnanzen der späteren deutschen Wortschöpfung nachhaltig vor. Nachhaltigkeit zielt immer auf die Bildung von Reserven. Man verzichtet auf sofortige Nutzung zugunsten späterer Nutzungen und Nutzer. Der Wortschatz der Ordonnanzen wirkt an solchen Stellen erstaunlich modern.


Zum Schlüsselwort aber wird conservation. Mit der conservation des bois ist keine statische »Konservierung« der Wälder gemeint, kein Natur»schutz« im Sinne eines Verzichts auf Nutzung. Vielmehr geht um die Erhaltung der Produktivkraft des Waldes, um die Bewahrung der Regenerationsfähigkeit und damit seiner Kapazität, à perpetuité – auf ewig – Holz zu produzieren. Conservation bedeutet erhaltende Nutzung und das erfordert: Die Erneuerung natürlicher Ressourcen zum Kriterium, zur Bedingung ihrer Nutzung zu machen. Der Text der Ordonnanzen spricht vom amanégement de nos forests, vom Management unserer Wälder – noch ein Schlüsselwort, das uns bereits in Evelyns »Sylva« begegnete. Amanégement hat eine hochinteressante Etymologie. Sein Stamm ist das lateinische mansio, Behausung, Bleibe, Herberge, im mittelalterlichen Latein auch: Anwesen, Hofstatt, Ansiedlung. Das Wort hat sich im Französischen zu maison, im Englischen zu mansion entwickelt. Was ist nun l’aménagement oder management? Ursprünglich: etwas ad mansionem bringen. Also: Güter zurichten und zum Ort ihrer Nutzung, zum Haus transportieren. »Aménager« heißt im modernen Französisch: eine Wohnung einrichten. In der alten Verwendung ist der Gedanke der Zurichtung der Natur 
präsent. 


Im Deutschen übernahm man ihn später bei der Prägung des Wortes »Forsteinrichtung«. Was mitschwingt, ist die Idee der Lenkung der Natur. Und die Idee des Haushaltens, der sparsamen Verwendung der Ressourcen. Die Ordonnanzen unterschieden zwischen guter und schlechter Ausbeutung (exploitation). Letztere meint die Verschwendung, den Raubbau, also eine solche Nutzung von Ressourcen, die deren Regenerationskraft übersteigt. 


Auch régler und règlement sind Schlüsselwörter im Text der Ordonnanzen. Die Holzeinschläge so zu regulieren, dass die Nutzungen auf die Möglichkeiten der Wälder reduziert werden, ist ihr eigentlicher Inhalt. Zu diesem Zweck verordnen sie für den gesamten Umgang mit den Wäldern ein striktes règlement. Die Problemanalyse, die dahinter steht: Überlässt man die Nutzung weiter den Bedürfnissen, den Begehrlichkeiten und dem freien Willen der Besitzer, der Anlieger oder der Gesellschaft insgesamt, wird sich der Holzmangel unausweichlich verschärfen. Das Gegenteil von régler, nämlich laisser faire führt auf lange Sicht zum Ruin.


IV.


Die Problemlage war in den deutschsprachigen Territorien und besonders in den früh- und protoindustriellen Zentren des Landes ähnlich. Der nach den Menschenverlusten des 30-jährigen Krieges wieder anwachsende Bevölkerungsdruck, die dadurch in Gang gesetzte Umwandlung von Wald in Ackerland, die lang andauernde Übernutzung der standortnahen Wälder durch den Erzbergbau oder durch energieintensive Manufakturen (wie z. B. Glashütten) führten zur Entwaldung ganzer Landstriche. Im Laufe des 17. Jahrhunderts verstärkte sich ein Krisendiskurs, der sich latent bereits durch frühere geschichtliche Epochen auch anderer Kulturkreise gezogen hatte. Er kreiste um einen – wie Carlowitz formulierte – »prospicirten Holtzmangel«, also eine ­voraussehbare Krise, für die man Vorsorge treffen müsse. In einer langen Kette von Forstordnungen, Edikten und Pamphleten über den »einreissenden Holzmangel« bereitete sich die Carlowitzsche Begriffsbildung vor. Im Fokus standen dabei nicht unbedingt aktuelle Versorgungsengpässe, sondern vielmehr die Sorge um die »liebe Posterität« (Carlowitz), modern ausgedrückt: die ­»future generations« (Brundtland-Report). 


Einen prägnanten Ausdruck fand diese Sorge 1661 in der Forstordnung der von »holzfressenden« Siedesalinen geprägten bayerischen Stadt Reichenhall: »Gott hat die Wäldt [= Wälder U.G.] für den Salzquell erschaffen auf daß sie ewig wie er continuieren mögen / also solle der Mensch es halten: Ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum verhackhen hergewaxen ist.«14 Der »ewige Wald« sollte die »Stetigkeit« der Holzversorgung für die nachfolgenden Generationen garantieren. Ein Denken in großen Zeiträumen bildet sich hier ab. Die Zeitbestimmung »ewig« ist der sakralen Sprache entlehnt. Die spirituelle Fundierung von Ökonomie soll eine unbegrenzt lange Dauer für den Bestand der Wälder – feierlich – imaginieren und verheißen. Diese Perspektive ist in der Zeit der Frühaufklärung auch der Philosophie eingeschrieben. So forderte der niederländische Philosoph Spinoza, der übrigens mit dem kursächsischen Gelehrten Ehrenfried Walther von Tschirnhaus eng zusammenarbeitete, »die Dinge unter einem Gesichtspunkt der Ewigkeit (sub aeternitatis specie) zu fassen«. Eine dementsprechende Vorstellungskraft und die Fähigkeit, in sehr langen Zeiträumen zu denken, fehlen heute – oft auch im Nachhaltigkeits-
­diskurs. 


Der unmittelbare Vorläufer von nachhaltend in der zeitgenössischen deutschen Terminologie ist pfleglich. Für Carlowitz war dieser Ausdruck ein uralter Holtz-Terminus, der in hiesigen Landen gebräuchlich sei. Der Begriff findet in dem Standardwerk der Kameralwissenschaften seiner Zeit, dem Teutschen Fürstenstaat, Verwendung. Das Buch erschien 1656, ist also wenige Jahre älter als die Reichenhaller Forstordnung. Sein Autor, Veit Ludwig von Seckendorff, leitete zu der Zeit die »Cammer«, die Finanzbehörde, im thüringischen Herzogtum Sachsen-Gotha. In diesem kleinen, waldreichen Territorium versuchte Herzog Ernst der Fromme nach dem Kollaps des Landes im 30-jährigen Krieg einen lutherischen Modellstaat zu gründen. Sich selbst sah er in der Rolle des guten hauß-vaters. Sein Programm war eine »reformatio vitae«, eine Lebensreform auf der Grundlage des Katechismus. »Die gehöltze pfleglich brauchen« bedeutet in Seckendorffs Fürstenstaat, sie »also zu handhaben, daß solche eine beständige revenüe auf lange jahre geben«. Es solle (diese Stelle zitiert Carlowitz, S. 88) »über den ertrag der höltzer nicht gegriffen, sondern eine immerwährende beständige holtz=nutzung dem Herrn und eine beharrliche feuerung, auch andere holtz=nothdurfft, dem lande, von jahren zu jahren, bey ihrer zeit, und künfftig den nachkommen bleiben.«15 Auf dieser Tradition pfleglicher Holznutzung fußt die Argumentation von Carlowitz. Gegen den Raubbau am Wald setzt die Sylvicultura oeconomica die eiserne Regel: Daß man mit dem Holtz pfleglich umgehe.16

V.


Die Ergebnisse seiner beruflichen Erfahrungen, Lebenserfahrungen, Reisen und Forschungen über den Umgang mit der Ressource Holz legte Hans Carl von Carlowitz 1713 in einem über 450 Seiten starken Folioband vor. Die Sylvicultura oeconomica – Anweisung zur wilden Baumzucht wurde vom Leipziger Buchhändler Johann Friedrich Braun verlegt. Das Werk erschien möglicherweise zu derselben Leipziger Ostermesse, auf der Johannes Böttger sein weißes, durchsichtiges Meissner Porzellan präsentierte.


Sein Ausgangspunkt ist die Ressourcenkrise seiner Zeit. Er begreift sie als eine Folge von Bevölkerungswachstum und von zunehmender Gier in der Gesellschaft. Er kritisiert das auf kurzfristigen monetären Gewinn – auf Geld ­lösen17 – ausgerichtete Denken seiner Zeit. Ein Kornfeld bringe jährlichen Nutzen, auf das Holz des Waldes dagegen müssen man Jahrzehnte warten, bis es hiebreif sei. Trotzdem sei die fortschreitende Umwandlung von Waldflächen zu Äckern und Wiesen ein Irrweg. Der gemeine Mann würde die jungen Bäume nicht schonen, weil er spüre, dass er deren Holz nicht mehr selbst genießen werde. Er »gehet verschwenderisch damit um / meinet, es könne nicht alle werden« (S. 94). Zwar könne man »aus dem Verkauf von Holz in kurzer Zeit ziemlich Geld heben […] Allein wenn die Holtz und Waldung erst einmal ruinirt / so bleiben auch die Einkünffte auff unendliche Jahre ­hinaus zurücke / und das Cammer=Wesen wird dadurch gäntzlich erschöpffet / daß also unter gleichen scheinbaren Profit ein unersetzlicher Schaden 
liegt.«18

Carlowitz beschreibt die Schlüsselrolle der Ressource Holz und betont, »daß das Holtz zur conservation des Menschen unentbehrlich sey«,19 da »keine Wirtschafft […] den Gebrauch des Feuers und des Holtzes entrathen könne«. Deswegen pädiert er für ein Bündel von praktischen Maßnahmen: eine – modern ausgedrückt – Effizienzrevolution durch Holtzsparkünste, z. B. Verbesserung der Wärmedämmung beim Hausbau und Verwendung von energiesparenden Schmelzöfen, Kachelöfen und Küchenherden; die planmäßige Auf-
forstung durch das Säen und Pflantzen der wilden Bäume und die Suche nach Surrogata für das Holz, z. B. Torf. Er empfiehlt also die Nutzung fossiler Energien zur Überbrückung von Zeiten des Holzmangels – als Brücken­-
technologie!


Aber dann entwickelt er eine überwölbende Idee: Dass die »Consumtion des Holtzes« sich im Rahmen dessen bewegen müsse, was der »Wald-Raum / zu zeugen und zu tragen vermag«. Dass man das Holz, das so wichtig sei wie das tägliche Brot, »mit Behutsamkeit« nutze, sodass »eine Gleichheit zwischen An- und Zuwachs und dem Abtrieb des Holtzes erfolget« und die Nutzung immerwährend, continuirlich, und perpetuirlich stattfinden könne. »Desßwegen sollen wir unsere oeconomie also und dahin einrichten / daß wir keinen Mangel daran leiden / und wo es abgetrieben ist / dahin trachten / wie an dessen Stelle junges wieder wachsen möge.«20

Abb. 3: »[…] nachhaltende Nutzung« anno 1713. Schlüsselstelle aus Carlowitz’ Sylvicultura oeconomica. Foto: Technische Universität Freiberg. Abb. 3: »[…] nachhaltende Nutzung« anno 1713. Schlüsselstelle aus Carlowitz’ Sylvicultura oeconomica. Foto: Technische Universität Freiberg.

Für dieses neue Denken scheint dem Autor das traditionelle Wort pfleglich nicht präzise genug die langfristige zeitliche Kontinuität von Naturnutzung zum Ausdruck zu bringen. Bei der Erörterung, »wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weil es eine unentbehrliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag«,21 taucht zum ersten Mal – eher beiläufig und tastend – der neue Terminus auf. Ein zweiter, genauerer Blick auf diese zentrale Stelle lohnt sich.


Carlowitz spricht hier einerseits von der Conservation des Holzes. Mit diesem Fremdwort greift er einen wichtigen Terminus aus der englischen und französischen Debatte auf. Es geht auch ihm um eine Nutzung, die so ­angelegt ist, dass sie zwar Holz erntet, aber den Wald »bewahrt«. Die Naturverjüngung durch den Anflug von Samen, so Carlowitz, muss durch künstlichen Anbau, also das Säen und Pflanzen von Bäumen unterstützt werden. Gemeint ist die Aufforstung oder Wiederaufforstung der Blößen in den devastierten 
Wäldern. 


Ziel von Conservation und Anbau ist die Nutzung, aber, und darauf kommt es ihm an, die langfristige, auf Dauer mögliche Nutzung. Um diesen Aspekt hervorzuheben und zu präzisieren, reiht Carlowitz nun drei in der Bedeutung eng verwandte Zeitbestimmungen aneinander: das Lehnwort aus dem Lateinischen continuirlich, das die Regelmäßigkeit und Dauerhaftigkeit der Prozesse signalisiert, das Attribut beständig, das die Vorstellung von zeit­licher Unbegrenztheit mit der von ortsgebundener Stabilität verbindet, und schließlich nachhaltend. Mit diesem Wort wird die Vorstellung von zeitlicher Dauer und Stabilität (»nach« einem bestimmten Zeitpunkt immer noch »halten«) nuanciert durch die Vorstellung des Einteilens (etwas nachhalten oder vorhalten, damit haushalten) und Zurückhaltens für später, der sparsamen, haushälterischen Verwendung begrenzter Ressourcen. Eine weitere Nuance, die in diesem Wort mitschwingt, ist die Idee der Treuhänderschaft. Tho trower handt naholden (zu treuer Hand nachhalten) war bereits eine feststehende Redewendung in der spätmittelalterlichen deutschen Rechtssprache. Sie bedeutete: ›etwas für jemand anderen, für später, treuhänderisch aufbewahren und verwalten‹. Bereits hier erscheint nachhalten als Praxis der Vorsorge für die Zukunft.


Bemerkenswert ist die durchgehend verbale Ausdrucksform, die Carlowitz an dieser Stelle verwendet. Auch seine Substantive sind Handlungsbezeichnungen. Conservation zielt ebenso wie Anbau und Nutzung auf die jeweilige Tätigkeit, konservieren, anbauen, nutzen. Die Existenz des Landes schließlich wird mit der substantivierten Verbform esse (Dasein) als ein sich vollziehender Vorgang ausgedrückt. Selbst die Adjektive sind auf Handlungen (kontinuieren, bestehen, nachhalten) orientiert. Die Partizip-Präsens-Form nachhaltend signalisiert einen aktiven Vorgang. Gemeint ist eine Handlung (nämlich eine bestimmte Art und Weise der Nutzung), die durch ihren konkreten Verlauf ­darauf abzielt und tatsächlich aktiv bewirkt, dass etwas erhalten bleibt. Der verbale Ausdruck rückt das Handeln und das systemische Denken in den ­Fokus. »Wenn wir fragen«, so der Freiburger Germanist Uwe Pörksen über diese Stelle bei Carlowitz, »ob ein Tun ›nachhaltend‹ ist, wirkt, gerät das ganze Umfeld ins Vibrieren und zeigt seine Teilhabe. […] Der verbale Ausdruck zwingt zum Handeln und zum systemischen Denken.«22

VI.


Der gesamte Gedankengang des Buches, könnte man ironisch sagen, kreist um das heute so aktuelle Thema »Nachhaltigkeit« und »Wachstum«. Freilich meint Carlowitz keineswegs das Wachstum des kursächsischen Bruttosozial­produkts, sondern das naturale Wachstum, anders gesagt die Prozesse von Wachsen, Reifen und Nachwachsen in der Natur. »Man soll keine alte Kleider wegwerffen / bis man neue hat«, zitiert Carlowitz ein Sprichwort und fährt fort: »Also soll man den Vorrath an ausgewachsenen Holtz nicht eher abtreiben / bis man siehet / daß dagegen gnugsamer Wiederwachs vorhanden.«23 Nachhaltig ist das, was die Produktionskraft der Natur erhält, ihre Fähigkeit zur Regeneration, zum »Nachwachsen«, zur natürlichen »Verjüngung« (das Wort ist eine Eindeutschung des lateinischen »regeneratio«) – modern ausgedrückt: was ihre Integrität und ihre Resilienz schützt oder wiederherstellt. 


Wir stoßen hier auf den ökologische Kern von Carlowitz’ Nachhaltigkeitsbegriff: Die Natur ist milde (im damaligen Sprachgebrauch = freigebig). Es ist eine gütige Natur mater natura – Mutter Natur. Carlowitz spricht von der constantia naturae, vom Wunder der Vegetation, von der lebendig machenden Krafft der Sonnen, von dem wundernswürdigen ernährenden Lebens=Geist, den das Erdreich enthalte. Die Pflanze ist corpus animatum, »belebter Cörper, welcher aus der Erde aufwächset, von selbiger seine Nahrung an sich zeucht, sich vergrößert und vermehret.« Der Bäume äußerliche Gestalt steht für Carlowitz in einem Zusammenhang »mit der innerlichen Form, Signatur, Constellation des Himmels, darunter sie grünen« und mit der matrix, der Mutter Erde und deren natürlicher Wirkung. Die Natur ist unsagbar schön. Sie ist »nimmermehr zu ergründen. Sie hält den Menschen noch viele Dinge verborgen«. Aber wir können im Buch der Natur lesen und im Experiment erforschen, »wie die Natur spielet« und »der sonderbaren Wunder-Wercke der Natur nachdenken.«24 Kein Zweifel, sein Naturbegriff hat eine spirituelle Dimension. 


Wie ist das ökonomische Denken angelegt? Der Ausgangspunkt ist die simple Feststellung: Der Mensch befindet sich nicht mehr im Garten Eden. Er kann nicht mehr alles der Natur überlassen. Er kann sich nicht darauf verlassen, dass die Natur einen immerwährenden Überfluss liefert. Er muss der »vegetation der Erden hierunter zur Hülffe kommen« (Vorbericht), dabei aber niemals »wider die Natur handeln«, sondern stets »mit ihr agiren«.25 Carlowitz zitiert die bis heute als Formel für Nachhaltigkeit herangezogene Stelle aus der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments: das Gebot, die Erde zu bebauen und zu bewahren (1. Mose 1, 2, 15), als Begründung für eine moralisch fundierte Ökonomie.


Unter dem Schirm des Carlowitzschen Nachhaltigkeitsbegriff entwickelte sich ein Forstwesen, das sich weitgehend von den quantifizierenden Methoden des 18. und 19. Jahrhunderts, von mathematischen und geometrischen Modellen leiten ließ. Mit dem deutschen Wort »Forsteinrichtung«, eine Eindeutschung des französischen »aménagement« umriss es selbst seinen anthropozentrischen »managerial outlook«. So verstanden wurde »Nachhaltigkeit«, ins Englische übersetzt mit »sustained yield forestry« weltweit zum forstlichen Leitbild. In dieser Fassung wurde der Fachausdruck zur Blaupause unseres ­modernen Konzepts »sustainable development«. Nachhaltigkeit als Begriff ist ein Geschenk der deutschen Sprache an die Sprachen der 
Welt.


Unter demselben Schirm des Carlowitzschen Konzepts entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine alternative Suchbewegung. Diese wollte den Geheimnissen des natürlichen Wachstums, einer dauerhaften Fruchtbarkeit und den Beziehungen und Wechselwirkungen in der »oeconomia naturae« auf die Spur kommen. Dieser Weg führte über die Forschungen Linnés, Goethes, Humboldts und anderer zur Begriffsbildung »Oecologie« (Ernst Haeckel, 1866).26 Die Integration beider Strömungen mit dem Gedanken der Entwicklung im Konzept »sustainable development« ist der große Wurf, den die »Erdpolitik« des späten 20. Jahrhundert unter den Vorzeichen eines drohenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Kollaps’ vollzog. Seine Tragweite haben wir noch längst nicht verstanden.


Epilog


Warum lohnt es sich, heute den Ursprüngen unserer Begrifflichkeit nachzu­gehen? Auf die Frage, was er als erstes tun würde, wenn ihm der Fürst die Regierung des ­Staates anvertraue, antwortete im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der chinesische Weise Konfuzius: »Unbedingt die Bezeichnungen richtigstellen«. Zheng Ming, wörtlich übersetzt: »auf korrekte Begriffe halten« steht noch heute im Zentrum chinesischer Philosophie.


Eine solche »Arbeit am Begriff« (Hegel) ist vor allem dort angebracht, wo ein Terminus in das Feuerwerk der Reklamesprache und der politischen Propaganda gerät. Und das ist mit Nachhaltigkeit wie mit keinem anderen vergleichbaren Begriff passiert. Tagtäglich hören und lesen wir von der »nachhaltigen Befreiung der Kopfhaut von Schuppen«, von der »nachhaltigsten Autobahn aller Zeiten«, vom »nachhaltigen Wachstum«. Der Begriff ist akut von semantischer Erosion, von Verwässerung und Entkernung bedroht. Eine Rückbesinnung auf die »Sperrigkeit« des Begriffs wäre dem entgegenzuhalten. Er sperrt sich nämlich zumindest potenziell gegen das herrschende kurzfristige Kosten-Nutzen-Kalkül, gegen den »Laissez-faire«- und den »Let’s make money«-Diskurs. 


Den Begriff als »Plastikwort«, als hoffnungslos verbraucht oder »verbrannt« aufzugeben, halte ich für keine gute Option. Ich wiederhole: »Sustainability is the key to human survival«. Wir haben keinen terminologischen Ersatz. Weder zukunftsfähig, noch postkarbon oder resilient haben für sich genommen das Zeug dazu. Was bleibt, ist die Suche nach seinem Kern, nach seiner Essenz. Und sie führt unweigerlich zu den Anfängen der Begriffsbildung. Denn an den Ursprüngen wird immer Elementares verhandelt. Etwas, das nach der Etablierung des Begriffs im Zuge seiner Operationalisierung in den Hintergrund rückt. Insofern wäre das 300 Jahre alte Buch von Carlowitz viel mehr als eine kostbare antiquarische Rarität aus dem sächsischen Barock, nämlich ein Spiegel, ein Resonanzboden, an dem wir unseren Umgang mit einem Schlüsselwort der Gegenwart und Zukunft überprüfen können. Meine These wäre also, dass in den aktuellen Kämpfen um die Deutungshoheit die »Urtexte« des Nachhaltigkeitsdenkens aus einer vormodernen und präkapitalistischen Epoche eine geistige Ressource bilden, die wir dringend brauchen.


  1. 1Der Beitrag basiert auf dem Buch des Verfassers: Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010.

  2. 2Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica Oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung Zur Wilden Baum=Zucht, Leipzig 1713, Reprint Freiberg (TU Bergakademie) 2000/2013. Siehe auch die Neuausgabe: Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica, hg. von Joachim Hamberger, München 2013.

  3. 3Christopher G. Weeramantry, Vorwort zu Klaus Bosselman, The Principle of ­Sustainability, Ashgate 2008, S. vii.

  4. 4World Commission on Environment and Development, Our Common Future (Brundtland Report), Oxford /  New York 1987, S. 43.

  5. 5Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, London 1972, S. 158.

  6. 5Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, London 1972, S. 158.

  7. 6Carlowitz, Sylvicultura oeconomica (Fn. 2), S. 105.

  8. 7gl. zum Folgenden Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit (Fn. 1), S. 105–125; ders., »Der Erfinder der Nachhaltigkeit«, inDIE ZEIT vom 25.11.1999; ders., »Hans Carl von Carlowitz. Ein Freiberger Oberberghauptmann prägte 1713 den Begriff Nachhaltigkeit«, in Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins, Heft 87, Freiberg 2001, S. 13–31.

  9. 8Hieronymus Joachim Wäger, Leichenpredigt von Carlowitz, Freiberg 1714 (ein ­gedrucktes Exemplar befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden).

  10. 9Carlowitz, Sylvicultura oeconomica (Fn. 2), S. 44.

  11. 10Ebd., S. 50.

  12. 11John Evelyn, »Sylva, or a Discourse on Forest-Trees and the Propagation of Timber«, in Guy de la Bédoyère (Hg.), The Writings of John Evelyn, Woodbridge 1995. Vgl. auch Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit (Fn. 1), S. 87–97.

  13. 12Evelyn, Sylva (Fn. 11), S. 298.

  14. 13Vgl. Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit (Fn. 1), S. 97–104.

  15. 14Zitiert nach: Georg Meister und Monika Offenberger, Die Zeit des Waldes, Frankfurt a. M. 2004, S. 73.

  16. 15Veit Ludwig v. Seckendorff, Teutscher Fürstenstaat (1656), Reprint Aalen 1972, S. 471 f.

  17. 16Carlowitz, Sylvicultura oeconomica (Fn. 2), S. 87.

  18. 17Ebd., S. 79.

  19. 18Ebd., S. 87.

  20. 19Ebd., S. 372.

  21. 20Ebd., S. 98.

  22. 21Ebd., S. 105 f.

  23. 22Uwe Pörksen, Email-Mitteilung an den Verfasser vom 20.3.2012.

  24. 23Carlowitz, Sylviacultura oeconomica (Fn. 2), S. 88.

  25. 24Ebd., S. 39.

  26. 25Ebd., S. 31.

  27. 26Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, S. 286.
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