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»Recht« in der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

Das große Projekt der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur1 wurde von Anfang an von einer kleinen Kommission begleitet. Ihre Mitglieder waren der Politikwissenschaftler Richard Saage, der Historiker Manfred Rudersdorf, der Linguist Bernard Comrie, der Architekt und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt Salomon Korn und ich selbst als Rechtshistoriker (Vorsitz). Wir trafen uns regelmäßig in Leipzig, begutachteten die Fortschritte der Arbeit und berichteten an die Sächsische Akademie der Wissenschaften, intern bestens unterstützt von Dr. Markus Kirchhoff, extern von Frau Dr. Ute Ecker. In dieser Funktion haben wir die Konzeption des Projekts und seine schrittweise Realisierung bis zum Abschluss begleitet. Schwierigkeiten blieben zwar nicht aus, etwa die der Gewinnung von Mitarbeitern weltweit, der Implementierung von Standards, der sprachlichen Verständigung und Übersetzung, zuletzt auch der Betreuung der englischen Version im Internet, die jetzt zusätzlich im Projekt geleistet wird. Aber das Gelingen eines solchen umfassenden Werks ist vor allem ein Grund zur Freude. 


Diese Enzyklopädie ist ein »Panoptikum« im wörtlichen Sinn, wie es Jeremy Bentham verstanden hat2. Man sieht im Rundblick »alles«, Hohes und Niederes, Heiteres und wahrlich auch Entsetzliches, bezogen auf die jüdische Geschichte und Kultur. Der dabei ausgebreitete geistige Reichtum ist überwältigend und macht jedem Betrachter klar, was mit der »Vernichtung der europäischen Juden« (1989), um Raul Hilberg zu zitieren, zerstört oder wenigstens lange unterbrochen wurde. Die Enzyklopädie ist in diesem Sinn eine wahre Arche Noah, die vieles davon aufbewahrt und dann – nachdem die Wasser abgelaufen waren – behutsam auf dem Boden abgesetzt wurde. 


Die Lektüre der sechs Bände gerät wegen der Stichworte, unter denen manches zu finden ist, zum Rätselspiel. Vieles kann man erraten, anderes nimmt man verblüfft zur Kenntnis, vor allem die vielen unbekannten Dinge, die jeder erst lernen muss, der aus einer nichtjüdischen Tradition kommt. 


Um einen Eindruck von dem Rätselspiel der Lemmata zu geben, seien ­einige Beispiele genannt. Der Herausgeber und führende Kopf des Ganzen, Dan Diner, hat mit diesem Rätselspiel gewiss nicht nur für Überraschungen sorgen wollen, sondern auch einen pädagogischen Zweck gegenüber dem Leser verfolgt. Seine implizite Botschaft lautet, man solle sich in der weltweiten jüdischen Geschichte und Kultur nicht auf die gewöhnlichen Stichworte verlassen, sondern auf die Brüche achten, sich irritieren lassen und neugierig bleiben. Denn normalerweise liest man eine Enzyklopädie nicht nach dem Alphabet, sondern schlägt sie beim gesuchten Lemma auf. Wenn aber die Lemmata maskiert auftreten, wie hier oft geschehen, dann wird die Lektüre zum intellektuellen Abenteuer. Neugierige Leser erfahren mehr, ja sie werden so gefesselt, dass sie mit der Lektüre kaum aufhören können. 


Dazu einige Beispiele: Unter dem Lemma »Entreebillet« verbirgt sich, wie wohl die meisten Leser wissen, der Artikel über Heinrich Heine, ebenso unter dem Wort »Fackel« derjenige über Karl Kraus. Das Lemma »Tagebuch« führt zu Anne Frank, die »Todesfuge« zu Paul Celan, die »Reiterarmee« zu Isaak Babel. Das sind noch die leichtesten Rätsel. Dass man aber unter »Lebens­geschichte« die Biographie Salomon Maimons, unter »Zivilisationsprozess« das epochemachende Werk von Norbert Elias, oder unter »Offene Gesellschaft« das Werk Karl Raimund Poppers findet, ist schon etwas schwieriger. Dass das Wort Freiheit zu Sir Isaiah Berlin führt, ist wider alle vorschnelle Erwartung, aber sehr schön und einleuchtend. Ähnlich führt das Wort »Gesetz« nicht etwa zum Recht, sondern zur politischen Philosophie von Leo Strauss. Was erwartet man unter dem Wort »Verbesserung«? Nicht unbedingt die berühmte Emanzipationsschrift von Christian Wilhelm von Dohm aus dem Jahr 1781! 


Die Aufgabe, etwas zu den auf »Recht« bezogenen Lemmata zu sagen, ist nicht einfach zu erfüllen. Denn »Recht« (im weitesten Sinn) hat das Leben der Juden von Anfang an begleitet. Es hat das kultische Leben geordnet, das Familienleben und die Eigentumsordnung bestimmt und Strafen angedroht. Tora ist das Gesetz, gemeint ist insbesondere das Deuteronomium, das 5. Buch Mose. Nach der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des Volkes in die Welt wurde dieser Rechtsbestand die eigentliche Klammer um Kult und Leben, immer neu kommentiert und modifizierend ausgelegt. Dazu lese man das Stichwort »Kommentar«. Die großen Artikel »Talmud« und »Talmud tora« in Band 6 dokumentieren die Überlieferung und die Entwicklung von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. 


Gleichzeitig rückte aber auch das Recht derjenigen Völker heran, unter denen die Juden als Minderheit lebten, und wurde schicksalhaft wichtig. Von der Antike über das Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert gab es an die Juden gerichtete besondere Abgabenlasten, Privilegien, Schutzversprechen, Garantien eigener Gerichtsbarkeit und eines autonomen Gemeindelebens, einer »regulierten Selbstregulierung« sozusagen. Um hier hineinzufinden, sei beispielhaft auf das Lemma »Ehe« in Band 2 verwiesen. Alle diese Rechtsregeln kommen in der Enzyklopädie vor, aber meist als Teilelemente von Religion, Kunst und Kultur, als Polizeigebot oder Zensurmaßnahme, kurz als Sonderrecht für eine Minderheit. Dies kann anhand der Artikel »Kleiderordnung« in Band 3 oder »Porzellan­affen« in Band 4 gezeigt werden. Als teils öffnende teils begrenzende Bestimmungen sind schließlich auch die zentralen Verfassungsartikel zur Judenemanzipation während des 19. Jahrhunderts in die Betrachtung einzubeziehen. Erst recht ist dann das erneut diskriminierende »Sonderrecht« des NS-Regimes, aber auch anderer Staaten (wie etwa Ungarn, Österreich, Slowakei, Italien)3 ein »ungerechtes Recht«, das alle Errungenschaften der Gleichheit wieder zerstörte, Teil des Lemmas »Recht«. 


Zahlreiche Artikel weisen einen offenkundigen Rechtsbezug auf. Sie seien hier hervorgehoben, weniger um ein abgeschlossenes Bild zu zeichnen, als um ­einen Eindruck von der nur enzyklopädisch fassbaren Vielfalt der Materien zu vermitteln. In Band 1 ragt unweigerlich der Frankfurter »Auschwitz-Prozess« von 1963–1965 hervor, eine prozessuale und historiographische Wende der Bundesrepublik, das große Verdienst von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Ebenso epochemachend war der in Band 2 behandelte »Eichmann-Prozess«, beschrieben von Raphael Gross. Man könnte hier die wichtigen Artikel »Menschenrechte« (mit der Rolle von René Cassin), »Minderheitenrechte« (Band 4) und das mit den Rassegesetzen und dem Alliierten Tribunal doppelt besetzte Stichwort »Nürnberg« anschließen. Unverzichtbar als Voraussetzung hierfür ist schließlich das Lemma »Der verwaltete Mensch«, in dem es um die Analyse des Autors und Opfers H. G. Adler auf der Grundlage der Erfahrung von Theresienstadt geht. 


Genannt seien noch einige wichtige Stichworte mit älterem rechtlichen Kontext, etwa das mittelalterliche »Magdeburger Recht« (Bd. 4), das Privileg (Bd. 5), das »Preußische Judenedikt« von 1812, die österreichischen »Toleranzpatente« (Bd. 6), die vielen Rechtsnormen zur Annahme neuer Familiennamen (»Namensgebung«, Bd. 4), der »Völkerbund« und das »Völkerrecht« (Bd. 6), wobei sich hinter letzterem wieder ein Personalartikel über den großen Völkerrechtler Hersch Zwi Lauterpacht verbirgt. 


Um nicht mit weiteren Stichworten ins Uferlose zu geraten, möge auf denjenigen Artikel aufmerksam gemacht werden, der vielleicht das größte Interesse moderner Juristen auf sich zieht, nämlich »Reine Rechtslehre« (Bd. 5), ebenfalls von Raphael Gross. Er beschreibt Leben und Werk von Hans Kelsen, dieses doch wohl wichtigsten Juristen des 20. Jahrhunderts, seine Herkunft und persönliche Entfaltung, sein Emigrantenschicksal und seinen heutigen Weltruhm. Wissenschaftshistorisch besonders fesselnd sind dort der Abschnitt »Habsburgische Hintergründe« sowie derjenige über Kelsens Alterswerk »Secular Religion«. Dort nimmt Kelsen noch einmal polemisch Stellung gegen die Vermischung religiöser Standpunkte oder metaphysischer Implikationen mit wissenschaftlichen Aussagen. Er beharrt darauf, Wissenschaft, wie er sie verstand, sei keine säkulare Religion, sondern eine Sphäre menschlicher Erkenntnis, die auf metaphysische oder theologische Letztbegründungen verzichtet. Ob dies möglich ist, fordert schon als Frage alle kritische Wissenschaft heraus. 


Die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, wie sie nun komplett in klassischer Buchform auf Deutsch sowie schrittweise auf Englisch im Internet zu lesen ist, ist eine exzellente Leistung, hervorgegangen aus dem Simon Dubnow-Institut in Leipzig und getragen von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Sie vereint eine Fülle weltweit erarbeiteten Wissens, vernetzt es – auch durch die erwähnte originelle Vergabe der Lemmata – und ist höchst aktuell. Diese Aktualität liegt in der überall sichtbaren Präsenz jüdischer Geschichte und Kultur in nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaften, sei es durch herausragende Beispiele jüdischen Denkens und Künstlertums, sei es durch die unermesslichen Leiden des Judentums im 20. Jahrhundert. Die Leistungen, vor allem aber die Zeugnisse des Leidens sind in Bibliotheken und Museen, in Städten und Dörfern überall zu besichtigen – Bereitschaft zum Sehen und zum Nachdenken vorausgesetzt. Dass diese enzyklopädische »Arche« in deutscher Sprache geschrieben oder ins Deutsche übersetzt worden ist, konnte nicht anders sein. Wir alle wissen warum. 


  1. 1Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, 7 Bände, Stuttgart/Weimar 2011–2017.

  2. 2Jeremy Bentham, Panopticon; or, the Inspection House, London 1791; siehe auch Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, dt. Ausgabe, 
4. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, 256 ff. 

  3. 3Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963; ders., Die faschistischen Bewegungen, München 1966.
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Heft 20 (2018)
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