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Einsichten. Die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur


Die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK)1 versteht sich als ein kanonisches Vorhaben postkanonischen Charakters. Es hält an der Bedeutung von über die Zeiten erfolgten Verdichtungen von Wissenstraditionen und der Verankerung in der Moderne ebenso fest, wie es eine dekonstruierende Verfremdung dieses Wissens dort gelten lässt, wo diese einen veritablen Erkenntnisgewinn verheißt. Dass ein solcher, zwischen Tradition und nachtraditioneller Verfremdung vermittelnder Zugang für die enzyklopädische Disposition jüdischer Wissensbestände Verwendung findet, ist nicht dem schnelllebigen Einfluss eines herrschsüchtigen Zeitgeists geschuldet. Vielmehr entspringt ein solcher Zugang der besonderen Natur des repräsentierten Sujets. So sind die jüdischen Lebenswelten Ausdruck einer eminent diasporischen Konstellation, traditionell verankert in einer sakral imprägnierten Textkultur. Von den sie umgebenden, wesentlich machtgestützten tellurischen Mehrheitskulturen unterscheiden sie sich signifikant. Während letztere sich in Analogie zum geometrischen Axiom in der Fläche generieren, findet die diasporische jüdische Lebenswelt das ihr entsprechende Ordnungsprinzip in der Axiomatik des ­ungeschützten Punktes. 


Punkt und Fläche erzeugen jeweils epistemologisch unterschiedliche begriffliche Bilderwelten. Während das Axiom der Fläche historisch den Emblemen von Grund, Macht und Herrschaft Vorrang gewährt, wird das Axiom des Punktes zur Illustrierung seines Selbst andere, weichere, genauer: textuelle Modi der Repräsentation hervorbringen – und dies vor allem dann, wenn es wesentlich um Zeiten einer beschleunigten Verwandlung von Zugehörigkeit geht, wie etwa den Übergang von der Vormoderne in die Moderne. Dies sind Umbrüche, die sich eher in Residuen niederschlagen, also in Spuren, in Anteilen, Fragmenten und Partikeln. Eine solche Zergliederung einer vorausgegangenen Einheit entspricht im Übrigen durchaus dem für enzyklopädische Darstellungen gültigen kaleidoskopischen Prinzip, ein vorausgesetztes Ganzes in eine es auflösende alphabethische Anordnung zu übertragen. 


Die dem Axiom des ungeschützten (jüdischen) Punktes im Unterschied zur machtgestützten Fläche der (nichtjüdischen) Umgebungswelten entsprechende Textkultur der Juden legte es nahe, auf das Konzept der Erinnerungsorte, der lieux de mémoire, beziehungsweise auf die mit Erinnerungsorten verbundenen Text- und Denkfiguren, auf sogenannte lieux de oeuvre zu setzen, um daraus die dem Gegenstand angemessenen Lemmata zu generieren. Diese können sich auf einen konkreten topographischen Ort, aber auch auf die mit historischen Gedächtnisorten verbundenen Textkulturen beziehen. Die sich um Denkfiguren rankenden Einträge – die gewählten Lemmata sind Titeln oder ikonischen Textfragmenten bekannter Werke entnommen – stehen für das Besondere und Neue der Lemmata-Struktur der EJGK. Herausgestellt findet sich ein solches, wesentlich dem Humus der jüdischen Textkultur verpflichtete Vorgehen auch dadurch, dass die Enzyklopädie keine dezidierten Personeneinträge kennt. Personen treten weitgehend hinter Werk und Wirkungsgeschichte des mit ­ihrem Namen verbundenen Textes zurück. Gleichwohl ist die EJGK auch einem realenzyklopädischen Zugang verpflichtet, insofern als dass sie dem mit dem Erinnerungsort, der Denkfigur oder dem Textfragment verbundenen Wissen Geltung gewährt. 


Die EJGK präsentiert jüdische Lebenswelten betreffendes Wissen methodisch an der Zeitenschwelle des Übergangs vom zwanzigsten in das einundzwanzigste Jahrhundert. Thematisch wird der Zeitraum der als einer jüdischen Epoche verstandenen zweihundert Jahre zwischen 1750 und 1950 in besonderer Weise berücksichtigt. Bei den Chiffren handelt es sich um Zeitzeichen. Ihnen kommt weniger eine ereignisgeschichtliche, als vielmehr eine periodisierende Bedeutung zu – symbolische Eckdaten einer die jüdische Existenzerfahrung in der Neuzeit umfassenden Ära zwischen beginnender Emanzipation und den Ausläufern der Katastrophe. In sinnstiftender Beziehung zueinander gesetzt, verhandeln jene periodisierenden Zeitchiffren historisierend die Existenz­geschichte der Juden in der Moderne sowohl von ihrer zukunftsfrohen Erwartung wie auch rückblickend von ihrem düsteren Ende her. 


Die Chiffre 1750 steht für ein temporales Umfeld, in dem tiefgreifende historische Veränderungen im Übergang von der Vormoderne in die Moderne wirksam werden. Es handelt sich wesentlich um von spätabsolutistischen Regimen Kontinentaleuropas angestoßene Maßnahmen der »Verbesserung« der Juden, ihrer Verwandlung in »nützliche« Untertanen – dies im Kontext der Mehrheitskulturen, die ihrerseits selbst weitreichenden Veränderungen ausgesetzt waren. Im Unterschied zu jenen graduellen Angleichungen sollten die Juden durch den Einschnitt der Französischen Revolution mittels deklarierter universeller Mensch- und Bürgerrechte ultimativ zu Gleichen werden. Verbunden war diese Verheißung freilich mit der Aufhebung der über Jahrhunderte hinweg gültig gewachsenen korporativen Privilegien, so der institutionellen jüdischen Autonomie und ihren weit gefächerten, alle Lebensbereiche durchdringenden religionsgesetzlichen Regularien. Diese dem Prinzip der Rechtsgleichheit geschuldete Transformation und die von ihr ausgelösten Erschütterungen begleiteten die Juden gleichsam epochal und warfen dabei alle bekannten jüdischen Fragen der Moderne auf. Vom Westen Kontinentaleuropas ausgehend wirkten sie sich auf die Kernbereiche jüdischer Lebenswelten in Mittel- und Ostmitteleuropa aus, um auch nach Russland auszustrahlen. Auch im Bereich des islamischen Orients waren sie, wenn auch abgeschwächt, zu ­verspüren gewesen. 


Die sich daraus ergebenden Fragen bestimmen wesentlich die thematische Anlage jener ins Zentrum der enzyklopädischen Darstellung gerückten Zeitachse zweihundertjähriger Dauer. Ob und wie Juden als Einzelne und als Bürger, aber auch als Teil eines religiösen wie ethnischen Kollektivs in jener als »jüdische Epoche« verstandenen Moderne wirklich gleich geworden waren und wie die jeweilige nichtjüdische Umwelt auf jene erlangte, vorgesehene oder verweigerte Gleichstellung reagierte, gehört zu den zentralen, zu den erkenntnisleitenden Fragen des in der EJGK versammelten enzyklopädischen Wissens. 


Im Zentrum des historischen Einzugsbereichs der abschließenden Zeitmarkierung 1950 verschränken sich die Erfahrungen des Holocaust und der jüdischen Staatswerdung. In diesem, mit Lemmata überaus dicht belegten Zeitenfeld finden sich die unterschiedlichen Dementi der Emanzipationserwartungen ebenso thematisiert wie die alles Vorausgegangene weit übersteigende Katastrophe der kollektiven Vernichtung; und dies gefolgt von der Kontingenz jener kurz danach realisierten Staatsgründung. Bei dieser handelt es sich um ein Phänomen, mit dem sich die diasporischen Voraussetzungen jüdischer Existenz insofern verkehren, als der ungeschützte Punkt sich seinerseits kategorial in eine machtgestützte Fläche verwandelt. 


Um die Zeitachse zwischen 1750 und 1950 rankt sich das in der EJGK versammelte jüdische Wissen. Gleichwohl kann dieses Wissen ohne seine vormodernen Arsenale nicht bestehen. Deshalb finden auch solche Einträge Aufnahme in die EJGK, die von ihrem neuzeitlichen Kernbestand abweichen. Dabei handelt es sich zum einen um Einträge zu periodisierenden Raumzeiten, denen im binnenjüdischen Diskurs ein hoher Sinn- und Deutungswert zukommt. So steht etwa das Lemma »Diaspora« – ein griechisches Wort für eine jüdische Kondition – in erster Linie für die Konstellation der Spätantike, eine Epoche, die für die damals vor sich gehende Ablösung des Christentums vom Judentum von ebenso hoher Relevanz ist, wie für die damals vor sich gehenden rabbinischen Verwandlungen des Judentums. Das Lemma »Aschkenas« steht für die vom westlichen Europa in östlicher Richtung erfolgende räum­liche Bewegungsrichtung eines jüdischen Mittelalters. »Sepharad« steht für die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Existenzerfahrung von solchen Juden und Conversos, die von der iberischen Halbinsel kommend in Richtung östliches Mittelmeer ins nordwestliche Europa und nicht zuletzt über den Atlantik Richtung Amerika zogen.


Systemisch beabsichtigte Durchbrechungen der Periodisierungsachse von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgen vor allem dort, wo in der Lemmatisierung auch und gerade für das Judentum als Kanon des Sakralen eminent Außerhistorisches zu berücksichtigen ist. Dieser Kanon bestimmt bei allem Wandel auch weiterhin die jüdischen Lebenswelten in ihrem Kern. So hat die EJGK als eine der jüdischen Existenzerfahrung verpflichtete Enzyklopädie dem Judentum in seiner sakralen Überzeitlichkeit auf Grundlage der von Offenbarung bestimmten Glaubenswelt und ihrer Geltung im jüdischen Religionsgesetz über alle historischen Zeiten hinweg angemessen Raum zu bieten. Mehr noch: Von seiner Anlage her wird ein derart enzyklopädisches Werk über Juden und jüdische Lebenswelten vornehmlich in der Moderne – und damit im Zeichen von Säkularisierung – anhand von konzentrischen Kreisen zu strukturieren sein, die in abnehmender Heiligkeit von einem sakralen Kern ausgehen.


So findet sich das Wissenskorpus jüdischer Existenzerfahrung in der Moderne in der EJGK in vier bzw. fünf verschiedene thematische Einzugsbereiche von jeweils unterschiedlich dichter jüdischer Konsistenz gegliedert: In den Bereich des Judentums als Gesetzesreligion und der es verwandelnden Modi von Säkularisierung und Profanierung; in den Bereich räumlich und ethnisch den Entwicklungen ihrer Umgebungskulturen folgender diverser Judenheiten; in den Bereich von einzelnen staatsbürgerlich emanzipierten, dem Kollektiv der Juden sich gleichwohl individualisierend entfremdender jüdischen Personen bzw. Personen jüdischer Herkunft; in den Bereich der von außen an die Juden herangetragenen Projektionen antisemitischen Charakters, mithin die Judenfeindschaft; in den Bereich der Ereignis- und Wirkungsgeschichte des ­Holocaust. 


Im Zentrum alles Jüdischen steht das Judentum als Gesetzesreligion. Dem Gesetz ist göttliche Zeitlosigkeit eingeschrieben. Die das Judentum tragenden, sakral durchdrungenen Begriffswelten bewahren zu allen Zeiten und über alle Räume jüdischer Existenzerfahrung hinweg Gültigkeit, dies nicht ohne reli­gionsgesetzlich begründete Anpassungen zu erfahren.


Vom Kern des sakralen Kanons (Judentum) setzen sich zunehmend Phänomene der Säkularisierung ab. Dabei wird zwischen zwei sich verweltlichenden Bereichen unterschieden: zwischen dem textuellen und dem institutionellen Bereich. Säkularisierungen von Textkultur setzen wesentlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein mit der vornehmlich in deutscher Sprache vorgenommenen, akademischen Verwandlung der sakralen Schriften in einen Korpus der Wissenschaft des Judentums. Diese Verwandlung, eine Art Konversion religiös fundierter Weisheit in aufgeklärtes Wissen, wird von einer ihr vorausgehenden geistigen, vom historischen Denken der nichtjüdischen Umwelt beeinflussten innerjüdischen Aufklärungskultur, der Haskala, vorbereitet. Sie geht einher mit dem Einbruch der Geschichte, genauer: des historischen Denkens in die Welt der Offenbarung bzw. in die des Religionsgesetzes. Diese Tendenz unterspült die Fundamente des traditionellen Judentums. 


Parallel zur geistigen Bewegung der Transformation von Gesetz in Geschichte erfolgt räumlich ungleichzeitig eine von der jeweiligen Obrigkeit verfügte, sukzessiv realisierte Auflösung der korporativ verfassten jüdischen Gemeindeautonomie. Eine solche Säkularisierung vormals eigenständiger, dem Religionsgesetz verpflichteter Institutionen führt zu einer Schwächung der traditionellen, religiös legitimierten jüdischen Autoritäten. Dabei ist eine doppelte Bewegung zu beobachten: Im westlichen Europa, also dort, wo den Juden staatsbürgerliche Gleichheit gewährt oder eine solche in Aussicht gestellt wird, emanzipieren und akkulturieren sich die Judenheiten an und in die sie jeweils umgebenden Nationalkulturen. Dabei konfessionalisieren sich die religiösen Anteile ihres Selbstverständnisses, sie werden zu einer Glaubensgemeinschaft unter anderen Glaubensgemeinschaften. Im östlichen Europa, dort, wo wesentlich im Russischen Reich Juden in weit größerer Zahl und zudem räumlich überaus kompakt, wenn auch nicht zusammenhängend leben, erfolgt ein Verfall korporativer Institutionen, ohne dass die Folgen dieses Prozesses durch die Gewährung bürgerlicher Gleichheit und eine sie begleitende Freizügigkeit kompensiert würden. Verfall und staatlich verfügte Eliminierung des korporativen Gehäuses jüdischer Existenz bei gleichzeitig blockierter Modernisierung und staatsbürgerlicher Individualisierung zog in Folge eine sichtbare Wandlung jüdischen Selbstverständnisses nach sich, das – im Unterschied zur westlichen Entwicklung der Juden – sich ethnisch-kollektiv formierte. 


Hinzu trat die Vielfalt der den Juden eigenen Sprachkulturen. Dabei sind folgende Sprachschichten voneinander zu unterscheiden: Die sakral imprägnierte, für den Kultus wie in der Textexegese übliche Kombination des Hebräischen und Aramäischen; regionale jüdische Vernakularsprachen wie das Jiddische oder Ladino als Mittel der alltäglichen innerjüdischen Verständigung; die als jüdische Bildungssprachen adaptierten imperialen oder kosmopolitischen Verwaltungs-, Wissenschafts- und Literatursprachen ihrer Umgebungskulturen wie das Deutsche und – daran gemessen in eher schwächerer Intensität – 
auch das Russische; im Vorderen Orient in vielfältiger Hinsicht das Arabische und als Akkulturationssprache auch das Französische. Dabei kommt dem Deutschen im 19. Jahrhundert als Sprache der Wissenschaft des Judentums, der Ausbildung von Rabbinern und gerade der jüdischen Reformbewegung in Mitteleuropa, aber auch darüber hinaus neben dem Hebräischen eine gleichsam liturgische Bedeutung zu. Die zwischen den verschiedenen Judenheiten sich entwickelnden Unterschiede sind insbesondere an den jeweiligen Akkultura­tionserfolgen in den national sich transformierenden, multinational komponierten imperialen Reichsgebilden abzulesen. 


Ein weiter vom sakralen Kern des Judentums sich entfernender konzentrischer Kreis bildet in der EJGK ein Cluster von Lemmata aus, das sich vornehmlich Phänomenen der Akkulturation in Verbindung mit Personen und Persönlichkeiten widmet, die einem eher individuell ausgeprägten, vom jüdischen Kollektiv sich entfernenden Selbstverständnis zuneigen. Solche Personen gingen in der Regel aus Kontexten vertiefter Säkularisierung in Verbindung mit weitgehend erfolgreich verlaufenden Vorhaben staatsbürgerlicher Emanzipation hervor. Ihre dabei sich abschwächende jüdische Zugehörigkeit lässt sich kaum über das religionsgesetzliche Regelwerk des Judentums und seiner Markierungen angemessen fassen. Um der Komplexität und Vieldeutigkeit jüdischer Zugehörigkeit in der Moderne zu genügen, wird in der EJGK bekanntermaßen nicht zuletzt auch aus diesem Grund auf explizite Personeneinträge verzichtet. Einträge, die mittelbar Personen thematisieren, bedienen sich im ­Titel wesentlich emblematischer Motive, Formeln, Embleme und Textfragmente, die auf dem Resonanzboden des allgemeinen Wissens für Werk und Wirkung der Person aussagekräftig, ja ikonisch sind. 


Ein weiterer Kreis der enzyklopädischen Wissensanordnung unterscheidet sich von den vorangegangenen insofern, als dort Wahrnehmungen und Reak­tionen auf Juden und Judentum thematisiert werden, die diesen von außen auferlegt beziehungsweise auf diese projiziert werden. Hier ist von einer kulturell tief eingefressenen Judenfeindschaft die Rede – ausgehend vom antiken Antijudaismus bis hin zum modernen Antisemitismus. Der ihn repräsentierende große Komplex von Lemmata gehört recht eigentlich nicht in eine kanonische Zusammenführung jüdischer Wissensbestände. Gleichwohl ist der Gegenstand dieses Kreises von erheblicher, gar von existentieller Bedeutung und bestimmt das Schicksal der Juden in fundamentaler Weise auch und gerade deshalb, weil ihm die Bedeutung einer Welterklärung zukommt. In deren Zentrum nisten sich vornehmlich Vorstellungen von Kabale, Intrige und Verschwörung ein. Der Lemmatisierung mittels Denkfiguren verpflichtet, findet sich das Phänomen der modernen Judenfeindschaft in der EJGK mithin nicht unter einem Lemma »Antisemitismus« abgehandelt, sondern unter dem Eintrag »Verschwörung« – wie überhaupt in dem Werk keine Lemmata anzutreffen sind, die auf das Suffix »-ismus« enden – und dies aus konzeptionellen Gründen. Schließlich haftet den aus der politischen und sozialen Sprache des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen Begriffsbildern eine Neigung ins Teleologische an, die zu Verhärtungen in der Wahrnehmung von Wirklichkeit beitragen – ganz im Unterschied zu den eher weichen, sich mit Mehrdeutigkeiten und Ambiguitäten abfindenden jüdischen Lebens- und Erfahrungswelten. Diesen sind Formen des Übergangs, der Entgrenzung und Überschreitung wesensnahe. 


Mit dem Komplex des Antisemitismus verwandt, indes nicht mit ihm identisch, ist das Wissensfeld zum Ereignis und der Wirkung des Holocaust. Darin sucht die EJGK mittels Auswahl und der doch umfänglichen Anzahl der jenes Geschehen berücksichtigenden Lemmata zweierlei zu erreichen: Die der Vernichtung des europäischen Judentums innewohnende historische Wucht angemessen abzubilden, dabei jedoch der Versuchung zu widerstehen, die Deutung der jüdischen Geschichte dem teleologischen Sog des Holocaust zu überlassen.


Die den Holocaust betreffenden Einträge sind unterschiedlich gehalten. Manche nähern sich dem Geschehen in faktographischer Absicht; andere nehmen sich wesentlich der Nachgeschichte an; viele widmen sich Fragen der Repräsentation, vornehmlich der literarischen Darstellung des Ereignisses. Um der im Modus der industriellen Vernichtung notwendig angelegten Wiederholung des immer Gleichen entgegenzuwirken, suchen die den Holocaust thematisierenden Einträge, auf ikonisch gewordene Denkfiguren und Bilderwelten auszuweichen – der unmittelbare Zusammenhang von Ereignis und Nachwirkung wird hier zugrunde gelegt.


Die universelle Bedeutung des Ereignisses und seiner Wahrnehmung wird dadurch gewürdigt, dass auch solche Autoren und ihre Werke jüdisch lemmatisiert werden, die weder jüdisch noch jüdischer Herkunft waren, aber es als humanistisch gesonnene Künstler des Wortes oder als aufgeklärte Virtuosen des Denkens vermochten, das Ereignis in seiner krassen Besonderheit noch während des Geschehens poetisch zu dokumentieren oder intellektuell zu 
erfassen – womit deren Aufnahme in einen jüdischen Kanon begründet wäre. 


Die Lemmata-Struktur der EJGK ist Ergebnis eines dichten systematischen Abgleichens innerhalb des bestehenden jüdischen Wissenskorpus und seiner enzyklopädischen Wissensarsenale. Die dabei erfolgte Generierung einer dem Gegenstand ebenso angemessenen wie innovativen Lemma-Struktur folgte ­einem komplexen Prozess der Auswahl, die sich von der Unterscheidung dreier Wissenskomplexe leiten ließ: Von Text, Institution und Lebenswelt. Dabei wurde in einem ersten Schritt und im Sinne der für das Werk grundlegenden Überschreitungsphänomene von der Vormoderne in die Moderne eine vorläufig binär codierte Linie der Unterscheidung zwischen sakralen und profanen Wissensbereichen vorgenommen, die es gleichwohl weiter zu differenzieren galt. So wurden in das aufbereitete Korpus jüdischen Wissens diskursiv Schneisen geschlagen, um durch stetigen Abgleich zu sinnstiftenden Längs- und Querverbindungen zu gelangen, aus denen heraus sich eine für die Anlage des Gegenstandes signifikante Auswahl der Lemmata ergab.


Der Wissensbereich Text ist für die diasporische Kultur der Juden grund­legend. »Text« bedeutet in diesem Zusammenhang sowohl Substanz wie Medium jüdischer Existenz, womit der Bereich Textkultur im Werk der EJGK entlang der Unterscheidung sakral/ profan überaus weit ausgreift. 


Die Lemmata zum Sakralen umfassen Einträge zu den verschiedenen Korpora des Judentums – ausgehend vom zentralen Eintrag zur hebräischen Bibel (Tanach), über Artikel zum Midrasch, zur zusammen mit dem Talmud abgehandelten Mischna hin zum Schlüsselcharakter aufweisenden Artikel zu den Maßgaben der Halacha, der zudem einen Übergang zum weit aufgefächerten Komplex von Recht und Institution öffnet. In dieses Themengebiet fallen auch Einträge zu Texten, die an der Schwelle zum Profanen stehen. Im Kontext von Text und Hermeneutik steht auch die Bedeutung des hebräischen Alphabets wie der alphabetischen Zahl (Alef-Bet). Berücksichtigt wird die materielle Welt des Buchdruckes und der durch sie beschleunigt eintretenden Übergänge von der sakralen zur profanen Textkultur bis hin zu Verlags- und Zeitungswesen. Zwischen dem Text und der vom Religionsgesetz durchdrungenen Institution vermitteln Einträge, die Einrichtungen von sakraler Wissensvermittlung (Talmud tora) zum Gegenstand haben. Daran schließen die Themenfelder zu jüdischer Gelehrsamkeit an, die in Form von Einträgen zu ikonischen Werken, wesentlichen Periodika sowie Institutionen der Wissenschaft des Judentums und der ihr vorausgehenden intellektuellen Kultur der Haskala zur Darstellung kommen. 


In den Zusammenhang des Sakralen gehört auch das Verhältnis von Judentum und Islam. Dieses wird in Einträgen beschrieben, die den Institu­tionen und den lebensweltlichen Konstellationen der Existenzerfahrung von Juden unter muslimischer Herrschaft galten (Ahl al-kitab, Dhimmah) und damit auch Formen textueller gegenseitiger Beeinflussung beschreiben (Kalām, Falsafah). Für das 19. Jahrhundert tritt die Würdigung der Beschäftigung mit dem Islam durch herausragende Persönlichkeiten des Reformjudentums wie Abraham Geiger (Koran) oder den Nestor der islamwissenschaftlicher Gelehrsamkeit, Ignaz Goldziher (Muhammedanische Studien) hinzu. 


Zum Themenbereich Text und Textkultur gehören ganze Lemmata-Cluster, die sich literarischen Werken und Autoren von ikonischem Rang in der jüdischen Tradition zuwenden. Sie diversifizieren sich nach Gattung, Motiven, Räumen, Sprachen und Strömungen. Diesen Einträgen, darunter die zahlreichen nach Titeln oder Titelbestandteilen benannten Lemmata, kommt in der Anlage der Enzyklopädie in besonderem Maß die Aufgabe zu, jene als Verschiebung und Verflüssigung von Emblemen der Zugehörigkeit bezeichnete Phänomene von Säkularisierung und Profanierung zu thematisieren. 


Eine ähnliche Absicht ist mit den Themenfeldern zu Philosophie und Theo­rie verknüpft. Um ihre zentralen Einträge versammeln sie zahlreiche weitere Lemmata (etwa Denkstil, Dekonstruktion, Phänomenologie, Psychoanalyse), in denen sich auch jüdische Erfahrung und jüdisches Wissen in universale Erkenntnis überträgt – um nur einige wenige herauszustellen. 


Der zweite große Wissensbereich der EJGK ist den Institutionen des Judentums und der Judenheiten in ihren jeweiligen Umwelten von Recht und Politik gewidmet. Auch hier steht der Übergang von sakral imprägnierten in profane Phänomene im Vordergrund der lemmatisierenden Anordnung. Ausgangspunkt ist das der jüdischen Autonomie und ihren charakteristischen Ausdrucksformen und Institutionen gewidmete Themenfeld. Zentral sind hier die Reglements der Vormoderne mit ihren weitgehend religionsgesetzlich bestimmten Körperschaften von Rechtsetzung und Rechtspflege sowie die nach außen, an die jeweilige Obrigkeit gewandten Einrichtung der Fürsprache (Kahal, Bet Din, Bann, Shtadlanut).


Der Ablösung der Autonomie in der Ära der Emanzipation widmet sich zunächst ein Themenfeld, das vorwiegend dem rechtlichen Status von Juden gilt. Lemmata wie Toleranzpatent oder Sanhédrin sind den initialen Ereignissen gewidmet; Einträge wie Paulskirche, Duma, Sejm behandeln signifikante Orte der Emanzipation, aber auch skandalisierende Ereignisse der Ära wie der Berliner Antisemitismusstreit und die Dreyfus-Affäre werden in diesem Zusammenhang behandelt; das Lemma Minderheitenrechte gilt der rechtlichen Lage der Judenheiten in den neuen Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg.


Mit der Perspektive äußerlicher Rechtsetzung korrespondiert ein weiteres, der modernen politischen Erfahrung wie auch jüdischer Politik gewidmete Themenfeld. Dabei geht es um den jeweiligen regionalen Kontext (etwa Ansiedlungsrayon) sowie signifikante Orte der Migration (Bremerhaven, Ellis ­Island); zum anderen um jüdische politische Organisationen und Parteien wie den Central-Verein oder den Bund. Hieran schließt das Themenfeld Diplomatie an, das der Sphäre des Engagements für jüdische Belange in der Sphäre internationaler Politik gilt. Die hier zum Tragen kommenden modernen Formen der Fürsprache etablierten sich als Phänomen lebensweltlicher Säkularisierung und Modernisierung zuerst in Gestalt sich selbst ermächtigender Notabeln, um sich alsbald den Formen international wirkender jüdischer Organisationen anzuverwandeln und so etwas wie eine jüdische diplomatische Tradition auszubilden. Einen solchen Übergang bildet der Eintrag zum Board of Deputies ab, während der Eintrag Alliance israélite universelle jener Institution gilt, die jüdisches diplomatisches Engagement im 19. Jahrhundert geradezu emblematisch verkörpert. Den Rahmen bildete die Große Politik, deren Verfahrensweisen im Zeitalter der Balance es jüdischen Vertretern erlaubte, auf Kongressen und Konferenzen ihre Belange vorzutragen (Wiener Kongress, Berliner Kongress). Im 20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts einer zunehmenden nationalstaatlichen Parzellierung der internationalen Politik, wurden die Grenzen einer derartigen nichtstaatlichen Interessensvertretung offenkundig. Innerhalb dieses Kontexts von jüdischer Politik und Diplomatie wird auch die zionistische Bewegung verortet. Deren Gründerfigur Herzl ist anhand seiner literarischen Vision Altneuland lemmatisiert, wesentliche Debatten der zionistischen Kongresse sind unter ihrem Gründungs- und Erinnerungsort Basel abgehandelt. 


Der dritte große Wissensbereich der EJGK ist Phänomenen der Alltagskultur gewidmet. Jüdische Alltagskulturen weisen auch im Prozess zunehmender Verweltlichung eine starke Bindung an das Sakrale auf; in gewisser Hinsicht sind sie Gefäße der Traditionsbewahrung. Dem gelten die weit angelegten Themenfelder zu Alltag, Ritus und Sakralität. Die Spannung zwischen Religionsgesetz und sich profanierender Lebenswelt wird in diesem Zusammenhang von Einträgen ausgelotet, die sich mit Fragen der Frömmigkeit, dem Speisegesetz (Kashrut), dem Ritus des Schächtens, der Liturgie und dem Kalender bis hin zu rites des passages wie der Beschneidung, der Bar/Bat-Mizwa, der Eheschließung sowie den Regularien von Bestattung und den mit ihrer Durchführung betrauten heiligen Gesellschaften befassen. 


In systematischer Nachbarschaft zu diesen Themenfeldern werden unter dem hierfür angewandten Kunstbegriff der Mehiza Fragen des Geschlechts bzw. der Geschlechterdifferenz verhandelt. Der traditionell patriarchalisch aufgeladene religionsgesetzliche jüdische Kanon fordert ein zeitgenössisches enzyklopädisches Projekt insofern heraus, als dieses die im Zeichen des Themenfeldes Gender/Geschlecht stehenden Artikel thematisch von traditionellen, auf die Weiblichkeit fixierten Festlegungen zu lösen sucht und sie durch die Einbeziehung von Themen männlicher Körperlichkeit erweitert. In diesem Themenfeld stehen Artikel, die sich mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, etwa durch die rituellen Maßgaben der Kleiderordnung, und schließlich mit Fragen der Frauenbildung (Bais Yaakov, Hochschule für Frauen) und der Frauenorganisationen (Jüdischer Frauenbund) befassen. 


Jenseits der rituellen Bedeutung von Körperlichkeit werden Phänomene des Sports behandelt. Dabei werden unterschiedliche, in den jüdischen Lebenswelten auffällige Sportarten berücksichtigt, vornehmlich solche, denen in ­migrantischer Umgebung der Charakter sozialer Aufstiegsrituale zukommt – 
etwa Boxen und Baseball in den Vereinigten Staaten oder Fußball auf dem ­europäischen Kontinent. 


Ein weiteres Themenfeld bilden Berufe und Professionen. Auch dieses folgt einem an einer binären Unterscheidung orientiertem Auswahlprinzip – hier ist es die Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Formen des Produzierens, Wirtschaftens und Vermittelns. So stehen Lemmata offen oder mittels lieux verdeckt für Handwerk und Handel, für Hoffaktoren und Bankiers, für Hausierer und Uhrmacher, für Pächter (Pacht) und Gutsverwalter, für die Diamanten- und Textilindustrie (Antwerpen), für das Eisenbahnwesen und die Warenhäuser – aber auch für den amerikanischen New Deal und andere auffälligerweise von Juden ausgeübte Berufe, erfüllte Funktionen und angenommene Rollen. 


Das im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig beim Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, erschienene siebenbändige Werk sucht aufzuweisen, welches Potenzial historisch angeleiteter Erkenntnis dem jüdischen Sujet innewohnt. Obschon gegenwärtig beim Verlag Brill Publishers Leiden/ Boston eine englischsprachige Ausgabe (Encyclopaedia of Jewish History and Culture, EJHC) erscheint, ist die EJGK von ihrer Anlage und Umsetzung her ein deutschsprachiges Unterfangen. Gleichwohl ist sie ein internationales Projekt. Eine solche Orientierung erwächst nicht nur aus der weiten akademischen Vernetzung seines Gegenstandes, sondern ist auch und vor allem der Natur der Sache geschuldet. So sind etwa 450 Autorinnen und Autoren aus den verschiedensten Wissenschafts- und Sprachkulturen an dem Werk mit seinen 
ca. 800 Artikeln unterschiedlichen Zuschnitts und Umfangs beteiligt gewesen.


  1. 1Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, 7 Bände, Stuttgart/Weimar 2011–2017.
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Heft 20 (2018)
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