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Wissenschaft und Werte im gesellschaftlichen Kontext. Beiträge zur Tagung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzg, Leipzig am 20./21. 10. 2006. Herausgegeben von Wolfgang Fritsche, Lothar Kreiser und Lutz Zerling. (= Abhandlung, Math.-nat. Kl., Band 64, Heft 6). S. Hirzel, Stuttgart/ Leipzig 2008. 118 Seiten, 20 Abbildungen, 1 Tabelle.

Im Mittelpunkt der von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Tagung stand die Frage, wie die Wissenschaft zur Wertorientierung in der Gesellschaft beitragen kann. Der vorliegende Band enthält die von Gastrednern und Akademiemitgliedern aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gehaltenen Beiträge zur Werteproblematik. Weiterhin wurden im Band einige Vorträge aufgenommen, die zur Vorbereitung der Tagung im Rahmen der Kommission für Wissenschaft und Werte der Akademie gehalten wurden.

Inhaltlich lassen sich die insgesamt dreizehn Beiträge in zwei Komplexe untergliedern, wenngleich der Band chronologisch strukturiert ist. Ein erster Komplex aus der Feder namhafter Philosophen enthält grundlegende Ausführungen zu den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Werten sowie zum Diskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft über Wissenschaftsethik. Ein zweiter Komplex umfasst Probleme, die sich aus der Sicht verschiedener Disziplinen der Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften aus aktuellen Spannungsfeldern und Wertkonflikten in der Gesellschaft ergeben.

Im ersten philosophischen Komplex setzt sich Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) unter dem Titel »Wertfreiheit und Wertbindung der Wissenschaften « kritisch mit den gängigen Aussagen zur Werteproblematik auseinander. Zur Frage der Wertfreiheit erläutert er, dass zwar Wissen und Wahrheit von unserem Wollen und Wünschen unabhängig sein sollen, aber das Sollen bereits eine wertende Reaktion darstellt. Bei der begrifflichen Klärung von instrumentellem Wissen und Orientierungswissen führt er aus, dass letzteres eine freie Anerkennung von ethischen Werten verlangt. Aus den Erfahrungen der neueren deutschen Geschichte, in der wiederholt die an die Wissenschaft von außen herangetragenen vermeintlichen ›Ideen des Guten‹ ideologisch missbraucht worden sind, leitet er grundlegende Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Wissenschaftsentwicklung ab. In einem weiteren Diskussionsbeitrag zur »Wertintegration in die Wissenschaft« werden diese Gedanken vertieft.

Christoph Hubig (Stuttgart) geht in seinem Beitrag über »Wertneutralität, Wertambivalenz, Wertbindung – Wissenschaft und Technik zwischen Wertvorentscheidung und Bewertung« auf Probleme ein, die sich aus der zunehmenden wirtschaftlichen Nutzung von Forschungsergebnissen ergeben. Diese Tendenz, in die auch immer mehr die Grundlagenforschung einbezogen wird, erfordert es, vorzuentscheiden, welche Entitäten überhaupt unter welchen Gesichtspunkten untersucht werden sollen. Von diesen Wertvorentscheidungen sind die nachgeordneten Bewertungen der Forschungsergebnisse zu unterscheiden. Da selbst Grundwerte wie gesellschaftlicher Wohlstand und privatwirtschaftliche Interessen konfligieren, ist die Herausbildung einer erhöhten Wertkompetenz unabdingbar. Dafür ist die Erhaltung und der Ausbau von Strukturen zur Bildung und Naturerfahrung zu gewährleisten.

Die gestörte Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit auf Gebieten wie Embryonenforschung, Tierversuchen und Kernenergie ist der Ausgangspunkt der Ausführungen von Dieter Birnbacher (Düsseldorf) »Ethische und kulturelle Werte – legitime Grenzen oder Behinderung der Forschung? « Diese Konfliktfelder werden in verschiedenen Kulturregionen und Ländern unterschiedlich wahrgenommen. Um das, was als bedrohlich aufgefasst wird, besser verstehen und bewerten zu können, unterscheidet der Autor zwischen ethischen und kulturellen Werten. Letzteren kommt nicht die hohe Verbindlichkeit wie ethischen Werten zu. Um die Kommunikationsstörungen und das daraus erwachsende Misstrauen abzubauen, muss die Wissenschaft verstärkt aufklären und dadurch mehr Transparenz schaffen.

Für den zweiten Komplex der Probleme aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gibt der Theologe Ulrich Kühn (Leipzig) eine grundlegende Orientierung. In seinem Beitrag über »Wissenschaft und Technik – Auftrag oder Gefährdung des Menschen?« stellt er heraus, dass aus der Besinnung auf da Wesen und die Würde des Menschen die entscheidenden Wertmaßstäbe für die Wissenschaft zu gewinnen sind. Die Diskussion ergab, dass diese Kriterien in der Tat im Schnittpunkt aller Wissenschaftsdisziplinen liegen. Das wurde durch die Ausführungen des Technikwissenschaftlers Horst Goldhahn (Dresden) über »Technik, Arbeit und Menschenwürde« untermauert. Er demonstriert eindrucksvoll, wie die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Automatisierung den Verlust von Arbeitsplätzen und Arbeitslosigkeit zur Folge hat. Daraus ergibt sich die große gesellschaftliche Aufgabe, für die entstehenden Freiräume verstärkt Bedürfnisse zu kreativen, kulturellen und geistigen Tätigkeiten zu entwickeln. Auf eine ganz andere Folge der wissenschaftlich-technischen Entwicklung geht der Politologe Richard Saage (Halle) mit dem Beitrag über »Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen – das amerikanische und das europäische Beispiel« ein. Konvergenz und das Zusammenwirken von Bio-, Gen-, Nano-, Kognitions- und Computertechnologien führen zu tief greifenden neuen Möglichkeiten, die körperlichen und geistigen Leistungen des Menschen zu verbessern (Enhancement). Die Aussagen einer amerikanischen und einer europäischen Studie über die Erwartungen an die neuen Leittechnologien werden einer vergleichenden und kritischen Analyse unterzogen. Mit der Frage, ob die angestrebten Verbesserungen möglicherweise die Autonomie des Menschen gefährden, sensibilisiert uns der Beitrag für einen verantwortungsvollen Umgang mit Zukunftstechnologien.

Die Wahrung der Würde des Menschen steht im Zentrum der Beiträge aus medizinischer und juristischer Sicht. Die Medizinerin Ortrun Riha (Leipzig) hinterfragt unter dem Titel »Medizinischer Fortschritt und Menschenwürde« die Beziehung dieser beiden Aspekte. Sie diskutiert die ethischen Probleme, die sich daraus für die moderne Medizin am Lebensanfang und am Lebensende ergeben. So umstrittene Aspekte wie embryonale Stammzellen, therapeutisches Klonen, Therapiebegrenzung und Patientenverfügungen werden behandelt. Für die sich daraus ergebenden Konflikte ist es ganz entscheidend, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gewahrt wird. Ein ganz anderes aber ebenso Konflikt beladenes Gebiet diskutiert der Rechtswissenschaftler Udo Ebert (Jena). Unter der Überschrift »Menschenwürde in Notlagen« geht er auf zwei konkrete Probleme der Rechtswissenschaft ein, die Zulässigkeit des Abschusses eines von Terroristen entführten Flugzeuges und die Folter zur Rettung von Menschenleben. In überzeugender Weise plädiert er für den Vorrang der Menschenwürdegarantie vor dem Recht auf Leben. Wie er ausführt, geht es dabei nicht um einen Konflikt von Recht und Moral, sondern um einen innermoralischen Konflikt zwischen utilitaristischer und deontologischer Ethik.

Die Bildung als Schlüssel zur Wertkompetenz kam bei der Tagung immer wieder zur Sprache. Explizit geht die Ägyptologin Elke Blumenthal (Leipzig) in ihren Ausführungen: »Vom Wert der Geisteswissenschaften« auf diese Problematik ein. Aus Erkenntnissen der Ägyptologie leitet sie ab, wie sehr wir das Wissen um die Vergangenheit brauchen, um uns selbst zu verstehen und um den Sinn des menschlichen Seins und Tuns zu reflektieren. Das wird, wie sie ausführt, nur gelingen, wenn die Sachwalter der Geisteswissenschaften die Verantwortung wahrnehmen, ihre Zeugnisse zum Sprechen zu bringen. Eine ganz andere Sprache, die immer weniger verstanden wird, ist die der Natur. Im Beitrag »Das Umweltverhalten des Menschen und der Wert der Natur« legt der Biologe Wolfgang Fritsche (Jena) dar, dass offensichtlich der Wert der Natur nicht erkannt wird, da der Mensch sonst angemessener handeln würde. Zum Wissen über ökosystemare Prozesse muss für ein tieferes Naturverständnis das Gefühl der Verbundenheit mit dem Lebendigen treten. Das Wissen um den instrumentellen Wert der Natur sollte durch das Empfinden ihres intrinsischen Wertes vertieft werden. Ökologische Werte und Kriterien spielen auch in den Ausführungen des Wirtschaftswissenschaftlers Hans-Ulrich Zabel (Halle) über »Wirtschaft und Werte – marktregulierter Automatismus oder Herausforderung an die Akteure?« eine wesentliche Rolle. Er verdeutlicht, dass die Maximierung ökonomischer Gewinne zu gravierenden sozialen und ökologischen Knappheiten führt. Um diese Situation zu überwinden, muss den verantwortlichen Akteuren bewusst werden, dass für eine dem Leben dienende Ökonomie die Reintegration ökologischer und sozialer Werte unabdingbar ist.

Der grundlegende Vortrag von Hans Joachim Meyer (Berlin), Sprachwissenschaftler und ehemaliger sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst über »Werte als Voraussetzung für das Gelingen politischer Freiheit« ist zugleich ein Appell an die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. In einer Zeit und in einem Land, in dem der Wertepluralismus in Beliebigkeit ausartet, verdienen seine klaren Worte alle Aufmerksamkeit. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: »Aber die Freiheit lebt nicht nur in den individuellen Freiheiten, sondern auch in der Gemeinsamkeit der Werteüberzeugung und des darauf basierenden verantwortlichen politischen Handelns. Die geschichtliche Erfahrung lehrt nämlich, dass die rücksichtslose Nutzung der eigenen Freiheiten die gemeinsame Freiheit auch ruinieren kann.« Einige Zeilen weiter heißt es: »Aber die freiheitliche Gesellschaft kann sich mit der Konstatierung der Wertepluralität nicht begnügen, weil sie ohne gemeinsame Wertegrundlagen weder stabil ist, noch eine Zukunft haben wird.«

Die Herausgeber und Autoren hoffen, dass der Band auf die eingangs gestellte Frage, wie die Wissenschaft zur Wertorientierung der Gesellschaft beitragen kann, Antworten gibt. In der Realität des Lebens geht es weniger um Werte als solches, sondern um Wertkonflikte und widerstreitende Interessen. Indem die Wertambivalenzen und die Spannungen zwischen den Werten transparent gemacht werden, helfen sie der Wertorientierung. Die Wertentscheidung liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Aber dafür ist ein Bildungssystem erforderlich, das dialektisches Denken vermittelt und entscheidungsfähig macht. Die Entwicklung der Gesellschaft bedarf eines ständigen Wertediskurses, um, wie der damalige Akademiepräsident Uwe-Frithjof Haustein (Leipzig) im Schlusswort betont, das Wertebewusstsein zu wecken und in Grundfragen einen Konsens zu finden. Dazu möchte der Band einen Beitrag leisten.

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Heft 1 (2008)
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ISSN:
1867-7061

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