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Bildung und Wissenschaft jenseits disziplinärer Grenzen

In welcher Hinsicht und aus welchen Gründen die deutsche Universität den Anschluss an die internationale Entwicklung verloren hat1

Der modernen deutschen Universität wohnt von den Gründerjahren Anfang des 19. Jahrhunderts ein außergewöhnlich hohes Maß der sozialen und kognitiven Schließung inne, das maßgeblich durch ihre Autonomie und ihre korporative Selbstverwaltung gestützt wird. Dass sie sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts und endgültig in den 1970er Jahren sozial für immer größere Massen an Studierenden öffnen musste, hat in ihrem Inneren ein Spannungsverhältnis zwischen der Bewahrung ihres sakralen disziplinären Kerns und ihrer öffnung für neue Ausbildungsbedürfnisse weit über den lange Zeit dominanten Staatsdienst hinaus erzeugt, das bis heute noch nicht aufgelöst werden konnte. Der Kampf um die Umsetzung des Bologna-Prozesses ist die aktuelle Erscheinung dieses historisch tief verwurzelten Spannungsverhältnisses.

Die Oligarchie der Lehrstühle und Institute und die korporative Selbstverwaltung haben ermöglicht, länger als im angelsächsischen Kontext die Kerngebiete der Disziplinen vor interdisziplinärer Befleckung zu schützen und rein zu halten. Gleichzeitig bildeten sie die soziale Grundlage für vergleichsweise geringe Fähigkeiten der Expansion, der daraus folgenden Erneuerung und der Schaffung neuer Forschungsfelder, neuer Disziplinen und auch neuer Studiengänge im Schnittfeld mehrerer Disziplinen. Neue Forschungsgebiete an den Rändern und an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen wurden untergeordnetem oder randständigem Personal (Mitarbeiter, Privatdozenten, Nichtordinarien) überlassen und konnten deshalb überhaupt nicht oder nur sehr verzögert Fuß fassen. Dazu gehört auch, dass die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Gestalt der Promotion auf einer Mitarbeiterstelle in direkter Abhängigkeit von dem Lehrstuhlinhaber erfolgte. Auch dadurch wird das in der Rekrutierung von Nachwuchs steckende Erneuerungspotential eingeschränkt. Außerdem wurde die Einrichtung eines Graduiertenstudiums verhindert, in dem Forschung und Lehre weit mehr als in den grundständigen Diplom- und Magisterstudiengängen im Humboldtschen Sinne integriert werden können.

Was insbesondere in den USA breit ausgebaut wurde, existiert hierzulande bis heute nur in höchst prekärer Weise an den Rändern der Disziplinen, mit wenig Chancen des richtigen Aufblühens. Beispiele für auf diese Weise neu entstandene Disziplinen sind Psycholinguistik, Neurolinguistik, Behavioral Economics, Neuroeconomics, Historical Sociology, Adminstrative Science. Beispiele für breite und fest etablierte Forschungsfelder sind Gender Studies, Studies in Law, Studies in Religion, Studies on Ethnicity, Educational Research, Migration Studies, Cultural Studies, Development Studies und European Studies. Nichts davon findet sich in Deutschland auf breiter Front institutionalisiert. Die wesentliche strukturelle Ursache dafür besteht darin, dass die deutsche Universität wie ein Bollwerk den Kern ihrer Disziplinen bewahrt hat, spiegelbildlich dazu aber die soziale und kognitive öffnung bis heute nur als einen Widerspruch zu ihrer Tradition erlebt, den sie nicht aufzuheben vermag.

Betrachten wir zum Vergleich die amerikanische Universität, dann sind es fünf wesentliche strukturelle Unterschiede, die ihr die weit größere Kraft zur Expansion in Forschung und Lehre und zur ständigen Erneuerung verliehen haben. Es war (1) der komplette Verzicht auf hierarchische Strukturen, (2) die Organisation der Lehre in großen Departments von selbständig lehrenden jüngeren und älteren Professoren ohne feste Mitarbeiter, (3) die Integration von Forschung und Lehre im Graduiertenstudium, (4) die Organisation der Forschung in flexibel zusammengesetzten Forschungsteams und in interdisziplinären Forschungszentren und (5) die Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre als Recht der einzelnen Professoren, aber nicht als Recht ihrer korporativen Selbstverwaltung bis in die Spitze der Universitätsleitung hinein. Letzteres heißt, dass sich die Professoren nicht in permanenten Territorialkämpfen verschleißen, sondern sich auf ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit konzentrieren können, während die Leitungsaufgaben den professionellen Händen des Universitätsmanagements überlassen bleiben. Diese strukturellen Bedingungen haben ein größeres Erneuerungspotential geschaffen und sie haben ermöglicht, dass neue Disziplinen und neue Forschungsfelder nicht in den Kinderschuhen steckengeblieben sind, sondern sich gleichrangig zu den Kerngebieten zu voller Blüte entfalten konnten. Ebenso war es möglich, auf der Grundlage dieser disziplinären Ausdifferenzierung und interdisziplinären Forschung eine Vielzahl von Bachelor-Studiengängen im Schnittfeld verschiedener Disziplinen zu entwickeln und zu einem attraktiven Angebot zu machen.

Die deutschen Universitäten werden jetzt auf einen neuen Pfad der kognitiven öffnung (interdisziplinäre Forschung), der sozialen öffnung (Bologna) und der horizontalen sowie vertikalen Differenzierung (Exzellenzinitiative) gesetzt. Gleichzeitig wird das Bollwerk der korporativen Selbstverwaltung der Professoren zunehmend geschliffen und durch ein Hochschulmanagement mit einem Hochschulrat als Aufsichtsorgan ersetzt. Letzteres ist sicherlich ein Eingriff in die Herrschaftsstrukturen der Universität, der ihnen weit mehr Fähigkeit zum Wandel und zur Anpassung an neue Herausforderungen verleihen wird, als dies bisher möglich war. Allerdings wird die flächendeckende Kontrolle der Professoren durch Zielvereinbarungen und Kennziffern nach den Prinzipien von New Public Management stupide Punktejäger an die Stelle kreativer, ihrer inneren Berufung und Begeisterung für die Sache folgenden Forscher und Lehrer setzen und damit den Erkenntnisfortschritt erheblich bremsen.

Weitgehend unangetastet geblieben ist jedoch die oligarchische Struktur der Organisation von Lehre und Forschung. Das bedeutet, dass in den interdisziplinären Projekten nur Mitarbeiter ohne akademische Karriereaussichten verheizt werden, ohne dass daraus neue Forschungsfelder und Disziplinen in fest institutionalisierter Form und auf breiter Front entstehen. Damit fehlt auch der Lehre ein Unterbau der disziplinären Ausdifferenzierung und multidisziplinären Zusammensetzung neuer Studiengänge. Dieses Manko wird noch dadurch verstärkt, dass ein wachsender Teil der Lehre in den Randgebieten von den Ordinarien auf Mitarbeiter, Lehrkräfte und Lehrprofessoren abgewälzt wird. Diese Strategie verhindert die feste wissenschaftliche Fundierung der neuen, im Schnittpunkt mehrerer Disziplinen angesiedelten Studiengänge.

Man wird auf eine weitere Reforminitiative warten müssen, bis das Erneuerungspotential der deutschen Universität erkennbar gesteigert sein wird, die soziale und kognitive öffnung nicht nur im Widerstreit mit dem sakralen Kern steht, sondern dieser Widerstreit produktiv in neue Forschungsfelder und Disziplinen umgesetzt wird und damit das Alte nicht zu Grabe getragen werden muss, sondern in einem neuen Umfeld in erneuerter Form fortbestehen kann. Das ist letztlich auch die allein erfolgversprechende überlebensstrategie der Geisteswissenschaften alter Tradition. Bologna könnte ihnen sogar eine neue Chance eröffnen. Sobald man begriffen haben wird, dass die 12-jährige Schulzeit – ob im Gymnasium oder in der nach Bedarf differenzierten Gemeinschaftsschule verbracht – keine direkte Befähigung zum wissenschaftlichen Studium vermittelt, können sie in der Kernkompetenz eines Liberal Arts College zu neuer Blüte gelangen. Ein solches College wäre auf einen Bachelorstudiengang nach dem humanistischen Bildungsideal spezialisiert und würde junge Menschen sowohl direkt für den wachsenden Arbeitsmarkt der Kulturwirtschaft als auch für ein anschließendes Graduiertenstudium (M. A., Ph. D.) in den Geisteswissenschaften qualifizieren.

  1. 1Der Aufsatz ist zuerst in derFrankfurter Allgemeinen Zeitung, 24. Juli 2008, S. 8, erschienen.
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Heft 1 (2008)
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1867-7061

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