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Volkskörper und Sprachleib


Als 2013 die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihren Ersten ­Bericht zur Lage der deutschen Sprache öffentlich vorstellte,1 da war der Publikums­andrang so überwältigend, wie wir das für eine linguistische Fachpublikation nicht erwartet hatten, selbst wenn diese sich ausnahmsweise an alle Interessierten wenden sollte. Soviel Neugier, beim Vorstellungsabend in Berlin, dann in den Zeitungen und den Radiosendungen und notabene auch bei den Käufern der Buchausgabe: Das ist eine unverhoffte Ermutigung für alle, die sich von einer Kulturnation eine größere Neugier auf und Sensibilität für sprachliche Entwicklungen wünschen.


Der Magen der deutschen Sprache, das zeigt der auf breiter Datenbasis gründende, mit viel Scharfsinn erarbeitete Bericht mit beruhigender Überzeugungskraft, der Magen der deutschen Sprache hat gerade in den letzten hundert Jahren, die der Sprachbericht erfasst, erstaunlich viel verdaut. Und es ist dem Deutschen – um im Bilde zu bleiben – meistens sehr gut bekommen. Viel besser, als diejenigen argwöhnen, die bei jeder neuen Speise gleich vor Übelkeit, Brechreiz und Kollaps warnen. Nie war der Wortschatz unserer Sprache so umfangreich und differenziert wie heute, keineswegs haben die Merkmale einer bürokratischen Amtssprache überhandgenommen, fremdsprachliche Wörter wie die viel beargwöhnten Anglizismen hat das Sprachsystem des Deutschen sich ebenso selbstbewusst einverleibt und angeeignet, wie es das in früheren Jahrhunderten mit dem Lateinischen und dem Französischen getan hat.


Die empfindliche Sorge vor einer vermeintlichen Überfremdung des Deutschen durch fremdes, feindliches Sprachmaterial, das sich ihm aufzwingt, in es eindringt, es sich zu eigen macht – diese Sorge ist so alt wie der National­gedanke selbst. Sie bereitet sich vor in der Sprachkritik des 17. und vor allem des 
18. Jahrhunderts. Und sie trägt noch immer Züge der keineswegs natio­nalen – 
und schon gar nicht nationalistischen –, sondern vielmehr sozialen Impulse, die sich aus dem Beharren auf der einheimischen Volkssprache gegenüber dem Latein der gelehrten oder dem Französisch der politischen Eliten ergaben und deren Dynamik ganz demokratisch ist: Volksherrschaft durch Volkssprache, durch die Möglichkeit zur verstehenden und mitredenden Teil
habe.


Der Kampf der Aufklärer und der (zumindest in dieser Hinsicht) ihre Anregungen aufnehmenden Stürmer und Dränger für eine deutsche, also volkssprachige Öffentlichkeit galt nicht der Herabsetzung des Anderen, sondern der Ermöglichung des Eigenen. Nicht weil er leider bloß ein Franzose ist und kein Deutscher, wird der alberne Riccaut de la Marlinière in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767) verspottet, sondern weil sein Französisch die Sprache eines exklusiven, eines ausschließenden Herrschaftsdiskurses ist. Nicht weil der starke deutsche Mann sich vom französischen Weichling durch sein beherztes Fluchen unterscheidet, lässt der junge Goethe seinen Götz von Berlichingen (1773) vom »im Arsch lecken« reden, sondern weil dieser Götz als ein auf seiner Freiheit bestehendes Individuum gegen eine Bildungskultur protestiert, die hier auf Unterwerfung zielt.


In beiden Fällen, wie in so vielen traurigen anderen, zeigt die Rezeptionsgeschichte, wie sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Kategorien verschieben. Von der Aufführungspraxis über die Literaturkritik bis in die Germanistik hinein werden beide, Lessing und der junge Goethe, mit ebendiesen Texten zu Verkündern eines Deutschtums erklärt werden, das sich gegen den dekadenten Erbfeind im Westen wendet. Die Bedeutung der Sprachbezeichnung ›Deutsch‹ verschiebt sich von der soziologischen Perspektive der Volkssprache zur nationalistischen, schließlich völkischen Perspektive eines ›Deutschtums‹, das biologisch aufgefasst wird. Es ist eine ähnlich schauerliche Verschiebung, wie sie in jüngster Zeit der demokratische Kampfruf »Wir sind das Volk!« erfahren hat.


Die Weise, in der dabei von den Sprachen geredet wird, lässt erkennen, wie biologische Vorstellungen in die linguistischen eindringen: Das Deutsche erscheint nun – entgegen allen Einsichten der Sprachgeschichte – als ein in sich abgeschlossener Sprach-Leib, dessen Reinheit so verteidigt werden muss wie der physische Leib gegen physische Enteignung oder Vergewaltigung; die Verteidigung der ›Reinheit‹ und die Polemik gegen ›Vermischung‹ sind hier wie dort, in der Sprachkritik wie in den biologischen und sexuellen Normen und Metaphern, dieselben. Und nebenbei ist es eigenartig zu sehen, wie dabei untergründig sexuelle Machtphantasien und Entmächtigungsängste mitwirken.


Im Laufe des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts sind es nicht mehr nur die Herrschenden, deren Sprache so abgelehnt wird wie das Französierende in Lessings Minna. Nun sind es, im Gegenteil, oft die politisch und wirtschaftlich Unterlegenen und Schwachen, denen gegenüber die eigene Stärke sich abgrenzen und machtvoll behaupten soll (und denen eine Subversionsdrohung zugeschrieben wird, die jedes Abwehrmittel rechtfertigt): die Juden zuerst, die seit den frommen Sprachpuristen der Romantik wie Achim von Arnim (1781–1831) oder Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und germanischen Mitstreitern wie dem Turnvater Jahn (1778–1852) zum Inbegriff des nicht nur religiös oder kulturell, sondern auch rassisch und sprachlich Anderen und Auszuschließenden werden; dann die Polen, die in einem so dezidiert nationalen Werk wie dem des Gustav Freytag (1816–1895) das eigentlich bedrohliche Feindbild abgeben müssen; dann die Slawen überhaupt; schließlich alle, die gegenüber dem eigenen Anspruch auf ›rein‹ verwirklichte Menschlichkeit als die Untermenschen erscheinen.


Gewiss, der Widerstand gegen dasjenige Französisch, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Überwältigung durch die napoleonische Expansion verbindet, gilt noch immer auch der Behauptung einer eigenen, auf demokratische Selbstverständigung zielenden Emanzipation; auch der Sprachpatriotismus von Grimms Wörtern bis zu Freytags Ahnen wird mitgetragen von der Hoffnung auf eine Republik der Freien und Gleichen, deren Idealbild, selbst in der nationalstaatlichen Ausprägung, noch nichts hochmütig Ausschließendes haben muss. Doch mit einer im Laufe des Jahrhunderts zunehmenden Intensität sind es die Fremdwörter und die fremdartigen – im 20. Jahrhundert wird es dann heißen: ›fremdrassigen‹ – Sprechweisen, sind es die Übergangszonen zwischen Dialekten und Soziolekten, in denen die Spuren des in den eigenen kollektiven Sprachkörper bedrohlich eindringenden Fremden gesucht und bekämpft werden: das ›Jiddeln‹ und ›Mauscheln‹ der Juden, das immer unbeholfene, die slawische Abkunft peinlich verratende Deutsch der Polen, und so fort. 


Es ist lehrreich, für einen Augenblick diese allzu vertraute deutsche Geschichte zu verlassen und auf eine weniger bekannte Parallelentwicklung dort zu schauen, wo die Deutschen sich von vornherein in der starken Position befinden: auf das benachbarte kleine Dänemark. Abgekürzt gesagt: Was für die deutschsprachigen Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts die Franzosen, das sind für die dänischen ihre deutschen Nachbarn – die sich ja nicht nur südlich der Landesgrenze bedrohlich breitmachen, sondern auch mitten in der eigenen Hauptstadt, in den bis ins Königshaus hinein dominierenden aristokratischen Dynastien und in den aufsteigenden bürgerlichen Kaufmannsfamilien.


Die Abwehr des politisch, sozial, kulturell übermächtigen, ja zeitweise ­hegemonialen Deutschen artikuliert sich auch hier zuerst als Kampf um Sprachreinheit. Die produktive Umdeutung des Stigmas einer quantitativ kleinen und qualitativ schwachen Bevölkerung (mit seinesgleichen rede man Deutsch, mit seinen Dienstboten Dänisch, lautete ein beliebtes Aperçu) ins Zeichen einer besonderen Erwählung – sie äußert sich auch hier zuerst als Um- und Aufwertung der eigenen Sprache. Nicht mehr das plumpe Verständigungsmittel der Bauern soll sie nun sein, sondern nichts Geringeres als die vom Himmel auf die Erde herabgestiegene Sprache der Engel selbst.


Der Pastor, Dichter und Sozialreformator N. F. S. Grundtvig (1783–1872) entwickelt in hochromantischem Enthusiasmus solche Vorstellungen, mit ungeheurer Resonanz im dänischen Volk. Auch bei ihm aber gleitet der soziale Protest der Volks-Mehrheit gegen die Herrschaftsschicht bedenklich leicht über in völkische Reinheitswünsche. Dann wird das Deutsche zur Sprache des Anderen, des schlechthin Bösen und Bedrohlichen; dann soll mit der Sprachreinigung, die es aus dem politischen Sprachgebrauch ebenso ausschließt wie aus den Kirchengesangbüchern und womöglich den schulischen Leseplänen, auch die biologische Integrität des Volkskörpers gesichert werden. Vergebens spotten Zeitgenossen wie Hans Christian Andersen (1805–1875), Grundtvig und sein deutscher Antipode Arndt sollten sich doch ersatzweise auf einer kleinen Insel zwischen Seeland und Fünen duellieren, die den bezeichnenden ­Namen ›Sprogø‹ trägt, ›Sprachinsel‹.


Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts Andersens literarischer Nachfahre Herman Bang (1857–1912) den weltläufigen Helden seines letzten Romans in einer fidelen dänischen Abendgesellschaft zeigt, dann demonstriert er mit trauriger Polemik die Konsequenzen dieses Nationalpurismus: Während dieser fremdländisch aussehende, weil von einer dänischen Mutter und einem ungarischen Vater abstammende Romanheld im Gespräch das richtige Wort sucht, unterbricht ihn ein Einheimischer und sagt, indem er triumphierend in die Runde blickt: »Sprechen Sie Deutsch, das geht besser.« Bang gab seinem Roman den Titel Die Vaterlandslosen – und kommentierte das mit der Bemerkung, er habe damit gerade nicht die Mischlinge, die Ausländer, die von der nationalen Sprachgemeinschaft ausgeschlossenen Fremden gemeint, sondern die ausschließenden Patrioten selbst.


Das alles ist Geschichte, längst vergangen. Aber wer die Debatten verfolgt, die fast gleichzeitig an so unterschiedlichen Orten wie in Dänemark im weiten Einflussbereich der Dänischen Volkspartei und in Viktor Orbáns Ungarn geführt werden, in Jarosław Kaczyńskis Polen und in den Niederlanden des Geert Wilders, in Donald Trumps Republikanischer Partei, im Österreich eines Norbert Hofer und hierzulande in der AfD, in der Alexander Gauland tatsächlich wieder vom ›Volkskörper‹ spricht –, wer diese Debatten über Volkskörper und Sprachleib verfolgt, der sieht nicht nur Ähnlichkeiten, sondern Kontinuitäten. Es sind streng genommen gar nicht Debatten, die da geführt werden – es ist eine kontinuierliche Debatte. Ihr Sprachreinheitsverlangen ist getrieben von der Angst vor einer gewaltsamen Durchdringung des Eigenen. Die Frage, wie oft eigentlich in politischen Kommentaren das Insistieren auf dem Deutschen und die Warnung vor der sexuellen Aggression fremdländisch aussehender junger Männer in Kombination auftauchen – diese Frage wäre eine empirische Untersuchung wert. Denn es gibt auch hier, mit dem Wort Erich Kästners (1899–1974), »chronische Aktualitäten«.


Vom Nationalismus seiner Zeit wandte sich Friedrich Nietzsche (1844–1900) schaudernd ab und beharrte, in donquichotteskem Eigensinn, auf seiner polnischen Abkunft. Der dänische Patriot Herman Bang erklärte sich aus ungefähr denselben Gründen, um dieselbe Zeit und mit derselben traurigen Polemik zum Franzosen. Und beide taten das demonstrativ auch in sprachlicher Performanz: der eine, indem er sich als ein einstiger »Nietzky«, der andere, indem er sich als ein »de Bang« ausgab. Vielleicht müssen wir uns angesichts solcher Vorbilder nicht gleich zu Syrern, Afghanen oder Libanesen erklären. Aber die Anstrengung, sich die Schwierigkeiten von Sprachvermittlung und Sprach­erwerb, von Selbstbewusstsein und Anpassungsdruck zumindest versuchsweise einmal aus der Perspektive der Eingewanderten vorzustellen, würde sich doch lohnen.


  1. 1Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.), Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Bericht zur Lage der deutschen Sprache, Berlin/Boston 2013; öffentlich vorgestellt am 18.11.2013 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Zweite Bericht zur Lage der deutschen Sprache zum Thema »Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache« befindet sich in Vorbereitung.
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Heft 16 (2016)
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1867-7061

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