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Zwischenrufe zur Wissenschafts- und Technologieentwicklung


Wer nie über die Prinzipien seiner Arbeit nachgedacht hat, 


hat nicht die Einstellung eines Erwachsenen zu ihr gewonnen.


(Robin G. Collingwood, Die Idee der Natur)1

1. Zur Geschichte des Wissenschafts- und Technologietransfers


Der Wissenschafts- und Technologietransfer beginnt gewissermaßen mit der Verlagerung der Forschung in den naturwissenschaftlichen Grundlagen­fächern, besonders in der Physik und Chemie, auf die Universitäten, nachdem diese unter dem Minister Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zunächst in der Berliner Neugründung, dann in Deutschland und schließlich in anderen Ländern reformiert worden waren. Die entsprechenden Denkschriften des Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) stützen sich auf die jeweiligen Erfahrungen an den damals modernsten Universitäten Halle a. d. Saale und Jena. Parallel dazu wurde die Gymnasialausbildung modernisiert, besonders in der Oberstufe und in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie mit einem Abschluss auf heutigem Bachelor-Niveau. Kaum bekannt ist dabei die Rolle der Kooperation zwischen Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) im Ministerium in München und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) als Rektor in Nürnberg, die sich von Jena her kannten. Diese von ›Geisteswissenschaftlern‹ propagierte und durchgeführte Reform des deutschen Bildungswesens im ersten Drittel des ­
19. Jahrhunderts stand gewissermaßen in Konkurrenz zum extrem elitären Modell der Ecoles normales supérieures bzw. polytechniques der französischen Revolution und Bonapartes und verfuhr nach dem (bei Hegel noch auf Französisch zitierten) Motto: das Bessere ist der Feind des Guten. D. h., bestehende Institutionen sind zu reformieren und nicht durch wenige Leuchttürme zu ­ersetzen – auch wenn die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts, der Vorläufer der heutigen Max-Planck-Institute, mit dem Theologen Adolf von Harnack (1851–1930) an der Spitze, später einen an besondere Forschungs­anforderungen angepassten Kontrapunkt setzt.


Eine dramatische Intensivierung des Transfers von akademischer Bildung in die Gesellschaft resultiert dann aus der immer enger werdenden Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Wirtschaft im letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts. Tatsächlich haben sich damals vor allem die Wissenschaftler der Technischen Hochschulen stark an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert. Für die Technische Hochschule Dresden, dem Vorläufer der heutigen Technischen Universität Dresden, können Andreas Schubert (1808–1870), der Konstrukteur der ersten deutschen Dampflokomotive, sowie Gustav Zeuner (1828–1907), der Entwickler der technischen Thermodynamik, als gute Beispiele angeführt ­werden. 


Im Laufe der 30er Jahre wurden an den Hochschulen in zunehmendem Maße rüstungs- und kriegsrelevante Arbeiten durchgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Wirtschaft und Wissenschaft eher zögerlich zum Dialog zurück. Zu einer Institutionalisierung an den Hochschulen kam es erst in den späten 70er Jahren, als die Bund-Länder-Kommission (BLK) die Gründung von Transferstellen an der Technischen Universität Berlin und an der Ruhr-Universität Bochum als Modellversuche initiierte – und natürlich an den Fraunhofer-Instituten und Helmholtz-Zentren.


Mittlerweile hat die Idee des Wissenschafts- und Technologietransfers weit über den Hochschulbereich hinaus Resonanz gefunden: Gewerkschaften, Industrie- und Wirtschaftsverbände sowie der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) haben sie genauso aufgegriffen, wie Großforschungseinrichtungen, Stiftungen, Behörden und Ministerien. Es überrascht nicht, dass diese Einrichtungen in ihrer Zielstellung, den Technologietransfer zu beschleunigen, nicht immer kooperieren und sich ergänzen, sondern gelegentlich miteinander konkurrieren und ein strategisches Verhalten an den Tag legen. Die ökonomische und politische Relevanz des Technologietransfers ist damit in aller Munde, überall finden Veranstaltungen zu dieser Thematik statt, auch hier im Freistaat Sachsen, wo »Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium gemeinsam dafür Sorge tragen, dass universitäre, außeruniversitäre und wirtschaftsnahe Forschung gute Bedingungen für ein ergebnisorientiertes Zusammenspiel vorfinden.«2 Damit dominiert die Vorstellung, dass man durch geeignete forschungs- und technologiepolitische Maßnahmen wirksame Innovationsschübe in den Unternehmen erzeugen kann, wenn auch gelegentlich vor einem falschen Aktionismus gewarnt wird.


Die vielfältigen Versuche, den Wissenschaftstransfer zu beschleunigen und die damit verbundenen positiven Effekte für die Wirtschaft, die man sich durch passende forschungspolitische Eingriffe erhofft, sind für den Wirtschafts- und den Wissenschaftstheoretiker Anlass genug, sich einmal mit den Grundlagen dieses Transferproblems auseinanderzusetzen. Die tatsächliche Entwicklung der wirtschaftlichen Lage zeigt, dass die Stimulierung der Wirtschaft durch Maßnahmen der Transferpolitik nicht uneingeschränkt erfolgreich ist, dass vielmehr ein tieferes Verständnis über das Funktionieren des Transfermechanismus fehlt. Es droht die Gefahr eines kurzatmigen Aktionismus, wenn die Wirtschaftspolitik Fehlentwicklungen nicht verlässlich erkennt, wenn die Rolle des Transfermechanismus in einem Wirtschaftssystem, vor allem in einem marktwirtschaftlichen System, nicht hinreichend verstanden 
wird.


Diese gesamte Problematik ist für die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern, auch im Freistaat Sachsen, besonders aktuell. Von den ursprünglich 91.000 Personen, die 1991 unmittelbar nach der Wende in den neuen Bundesländern in Forschung und Entwicklung (FuE) tätig waren, blieben 2005 noch knapp 74.000. Seitdem nimmt die Zahl wieder zu und lag im Jahr 2013 um 20 % über dem Niveau von 1995 (vgl. Abb. 1), wobei diese Entwicklung vor allem von den staatlichen und staatlich geförderten Forschungseinrichtungen getragen wurde. Die geringste Steigerung verzeichnete die private Wirtschaft mit einem Zuwachs von lediglich 6 % in diesem Zeitraum. Der Anteil der privaten Wirtschaft in den neuen Bundesländern an allen FuE-Beschäftigten fiel daher von 46 % im Jahr 2000 auf 37 % im Jahr 2013.3 Beachtenswert ist, dass die Zahl der FuE-Beschäftigten in den alten Bundesländern zwischen 1995 und 2013 um 30 % zunahm. Damit sind in ›Ostdeutschland‹ die strukturellen Voraussetzungen zur Hervorbringung von Innovationen und für technologische Effizienzsteigerung auf Seiten der privaten Wirtschaft weiterhin auf inzwischen kaum noch absehbare Zeit stark eingeschränkt. Der Forschung an den Universitäten und den anderen staatlichen Forschungseinrichtungen kommt damit eine ungleich größere Bedeutung zu.


Abb. 1: Entwicklungen im Bereich FuE zwischen 1995 und 2013. Aus: Alexander Eickelpasch, »Forschung, Entwicklung und Innovationen in Ostdeutschland: Rückstand strukturell bedingt«, in DIW Wochenbericht 82/41 (2015), S. 909. Abb. 1: Entwicklungen im Bereich FuE zwischen 1995 und 2013. Aus: Alexander Eickelpasch, »Forschung, Entwicklung und Innovationen in Ostdeutschland: Rückstand strukturell bedingt«, in DIW Wochenbericht 82/41 (2015), S. 909.
Abb. 2: Entwicklung des Anteils neuer Produkte am Umsatz zwischen 1995 und 2013. Aus: Alexander Eickelpasch, »Forschung, Entwicklung und Innovationen in Ostdeutschland: Rückstand strukturell bedingt«, in DIW Wochenbericht 82/41 (2015), S. 916. Abb. 2: Entwicklung des Anteils neuer Produkte am Umsatz zwischen 1995 und 2013. Aus: Alexander Eickelpasch, »Forschung, Entwicklung und Innovationen in Ostdeutschland: Rückstand strukturell bedingt«, in DIW Wochenbericht 82/41 (2015), S. 916.

Eine Reihe von Beobachtungen lässt interessante Rückschlüsse auf die Effi­zienz des Wissenschaftstransfers zu. So dauert es 5 bis 15 Jahre, bis eine neue Erfindung auf dem Markt ist, bevor damit der eigentliche Technologietransfer vollendet ist. Außerdem tragen viele Innovationen, angefangen vom Zuse-Computer bis zum siemenseigenen Faxgerät, zwar eine deutsche Handschrift, in wirtschaftlichen Nutzen umgesetzt werden sie dann allerdings von anderen. Dieses Zeugnis einer gewissen Marktignoranz, eines Verlusts an Wettbewerbsfähigkeit, kommt auch in einem schrumpfenden Anteil neuer Produkte am Umsatz zum Ausdruck: Im verarbeitenden Gewerbe in den neuen Bundesländern fiel dieser Anteil von etwa 27 % im Jahr 2001 auf etwa 12 % im Jahr 2013. Auch der Abstand zu den alten Bundesländern hat sich wieder vergrößert: Erreichte die ›ostdeutsche‹ Industrie im Jahr 2006 noch etwa 73 % des ›westdeutschen‹ Umsatzanteils innovativer Produkte, so waren es 2013 nur noch 62 %.4 Der Anteil der ›Ladenhüter‹ im Erzeugnissortiment nimmt gegenüber den Neuentwicklungen also wieder zu.


Andererseits – um die positiven Aspekte nicht zu vergessen – mani­festiert sich Wissenschaftstransfer beispielsweise im Freistaat Sachsen als ergebnisorientiertes Zusammenspiel zwischen Grundlagenforschung (Universitäten und Hochschulen, Max-Planck-Institute), der sogenannten anwendungsorientierten Grundlagenforschung (Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft), der anwendungsorientierten Forschung (Fraunhofer-Institute) und der Industrieforschung (besonders in den industrienah ausgerichteten außeruniversitären hochschulnahen Forschungseinrichtungen). Weiter stehen in Sachsen für junge technologieorientierte Unternehmen Technologieparks, Technologiegründerzentren, ein High-Tech Gründerfonds sowie ein Technologiegründerfonds zur Verfügung.


Für die Förderung dieser Einrichtungen wurden Mittel in beachtlicher Höhe bereitgestellt, die FuE-Aktivitäten wurden in den neuen Bundesländern seit der Wende deutlich ausgeweitet. Dennoch erreicht die Forschungs- und Entwicklungsintensität hier im Jahr 2013 insgesamt nur 86 % des ›westdeutschen‹ Niveaus, die private Wirtschaft kommt lediglich auf 50 %.5 Bei der Förderung von FuE in ›Ostdeutschland‹ sollte daher aus Sicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) weiterhin die Vernetzung der Wissenspotenziale in Wirtschaft und den Wissenschaftseinrichtungen im Vordergrund stehen. Mit einem baldigen Abbau des Rückstandes gegenüber den alten Bundesländern sollte allerdings nicht gerechnet werden.6

Werfen wir vor diesem Hintergrund nun einen Blick auf diese Zusammenhänge aus der Sicht der Wissenschaftstheorie.


2. Thesen zum Projektmanagement in Wirtschafts- und Bildungspolitik


1.


In der entwickelten Dienstleistungsgesellschaft sind wir längst in eine Phase der relativen Marginalisierung der Sachgüterproduktion und der Industriearbeit eingetreten, gerade auch was die Anzahl der Beschäftigten betrifft. Das zeigt ein Blick auf das gesamte Nationalprodukt/Nationaleinkommen. Die Analogie zur Entwicklung der Landwirtschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist offensichtlich: Man geht an den sich daraus ergebenden Herausforderungen vorbei, wenn man, wie seinerzeit die Physiokraten, den dinglichen Bedarf an Nahrung, Kleidung und Wohnung und damit die Herstellung von Dingen aus Rohmaterialien in ihrer Bedeutung für die Arbeits- und Güterteilung überschätzt und Ausbildung und Bildung nicht an die neuen Verhältnisse 
anpasst.


2.


Dienstleistungen, von der Medizin bis zur Kinder- und Altenbetreuung, vom Bildungsbereich bis zur Haushaltsführungs oder zur Touristik, besonders aber in der gesamten Branche der IT-Dienstleistungen setzen nicht bloß technisch-praktische Fähigkeiten voraus. Besonders wichtig ist für sie ein gutes Projektmanagement. Das liegt an den besonderen Problemen eines nachhaltigen ökonomischen Verhältnisses von Angebot und Nachfrage für nicht-dingliche Güter. Diese sind nicht raumzeitlich stabil wie transportierbare Waren oder Immobilien, es sei denn, es handelt sich um ›sprachliche‹ Dienstleistungen im weitesten Sinne, die sich im Internet wie schriftliche Erzeugnisse vom Ort und der Zeit der Autorschaft relativ unabhängig machen lassen und daher ökonomisch austauschbar (kaufbar) werden. Für andere Leistungen – wie die der Aufsicht und Pflege – bleibt aber die Orts- und Zeitgebundenheit ein Hauptproblem, ein anderes die Verlässlichkeit des Dienstleistungsangebots etwa durch eine örtliche Firma. Diese Nachhaltigkeit des Dienstleistungsversprechens setzt das ökonomische Überleben der Firma voraus, was seinerseits eine stabile Nachfrage, einen nachhaltig effektiv gemachten Bedarf voraussetzt. Ein solcher Bedarf muss im Kontrast zu bloßen Wünschen und Bedürfnissen verstanden werden, da letztere als solche noch keinen nachhaltigen Kauf von Dienstleistungsgütern begründen können. Ein Hauptproblem der Organisation von Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften ist daher die Verwandlung von latent bestehenden Bedürfnissen an Dienstleistungen in einen nachhaltigen Bedarf, in eine monetär untersetzte Nachfrage, die ihrerseits die Grundlage für ein nachhaltiges Dienstleistungsangebot liefert, das sich im freien ökonomischen Tausch bewähren kann. Die Lösung dieser Probleme der Arbeits- und Güter- bzw. Leistungsverteilung von einer dirigistischen Staatsorganisation allein zu erwarten, dürfte deren Leistungskraft bei Weitem überschätzen. Andererseits bedarf es durchaus staatlicher Steuerungen und entsprechender Incentives. 


3.


Gerade die digitale Revolution ist keine bloße technische Revolution, sondern eine Revolution der Kommunikations- und Kooperationsprozesse. Solange in Deutschland und weiten Teilen Europas das Fach Informatik schwerpunktmäßig (rechen-)technisch betrieben wird, oder auch bloß als Computertechnik wahrgenommen wird, also nicht in ihrer Einbettung in gesamte Koopera­tionsprozesse statt in eine Prozesstechnik der Dingherstellung begriffen ist, hinken wir in diesem Bereich hinter den schon entwickelteren Dienstleistungsgesellschaften wie den USA oder Großbritannien hinterher. Wir brauchen daher viel mehr Leute, die auf höchstem Niveau institutionelle Prozesse beschreiben und damit Projekte architektonisch entwerfen, also planen können. Das setzt ein strukturelles und institutionelles Denken bzw. Darstellen von Projektplänen voraus. 


Inzwischen spricht man in den Wirtschaftswissenschaften in diesem Zusammenhang von ›hybrider Wertschöpfung‹ und ›hybriden Leistungsbündeln‹. Sie sind charakterisiert durch eine enge Verzahnung von Planung, Entwicklung, Erstellung und Benutzung von dinglichen Sachen (Waren) und Diensten, wie z. B. Projektberatung und Software-Komponenten – zur Lösung je spezifischer Problemstellungen bei den Kunden. Man denke z. B. an Wartungsdienste. Noch ist die obige Unterscheidung von Sachgütern und Dienstleistungen in den Wirtschaftswissenschaften nicht kanonisch, auch wenn sie zur groben Benennung der sich an den Beispielen deutlich zeigenden Sachprobleme ausreichen sollte. Die Herstellung einer gemeinsamen Sprache ist eben ein Problem in allen Wissenschaften. Spätestens hier treffen sich die Erfordernisse an eine gute Technikwissenschaft und an eine gute geisteswissenschaftliche Bildung. Denn das Kerninteresse der Geisteswissenschaften gilt dem Verstehen von Institutionen, die uns allererst zu kooperativen und in einem moralischen und rechtlichen Rahmen interagierenden Personen machen, samt allen sprachtechnischen Kanonisierungen wesentlicher Unterscheidungen, z. B. in den Rechtswissenschaften oder in einer Soziologie der Institutionen, die weit mehr ist als Fragebogenstatistik. Entsprechendes gilt für die Politikwissenschaft, aber auch für die Philosophie.


4.


Der einzige nennenswerte Produktionsfaktor im internationalen Wettbewerb ist langfristig neben politischer Stabilität und Rechtssicherheit Bildung und deren Struktur, was z. B. Thomas Picketty in seinem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert empirisch-historisch auf der Makro-Ebene nachweist. Direkte Staatsinterventionen und Auslandsinvestitionen spielen dagegen eine eher marginale Rolle (bis auf den mit ausländischen Firmenansiedlungen verbundenen Technologietransfer), was z. B. die Wirtschaftsentwicklungen in Fernost von Japan bis China und Vietnam beweisen. Strukturprobleme in Ländern wie dem Saarland, Nordrhein-Westfalen oder den neuen Bundesländern sind entsprechend mittelfristig auch nur durch Bildung und nicht etwa durch direkten staatlichen Industriesupport – wie im Fall der Halbleiterherstellung in Sachsen oder in Donald Trumps Plänen für die USA – zu beheben. 


5.


Obwohl man immer einer (unnötigen) Ent-Industrialisierung gegensteuern muss – was übrigens auch die gegenwärtige US-Administration versucht, aber wohl unter falschen Annahmen eines Glaubens an ›alternative‹ Fakten –, 
führt eine Überbewertung technischer Bildung tendenziell zurück in eine bloße Werkbank-Produktion, in kaum zukunftsträchtige Konkurrenz zu billigeren Produzenten einerseits, in Unterschätzung der Folgen der zunehmenden Auto­matisierung für die Anforderungen in der Arbeitswelt der nahen Zukunft andererseits.


6.


Als Paradigma fehlgeleiteter ›Innovation‹ können wir vor diesem Hintergrund die Bachelor-Master-Hochschulreform ansehen. Denn für die Projektsteuerung der Bologna-Reform fehlte ein Masterplan. Zu fordern wäre gewesen, dass auf der Bachelor-Ebene mindestens zwei Fächer zu studieren sind, um durch Kombinationen viele besondere Schwerpunkte zu ermöglichen. Interdisziplinarität findet im Kopf der Einzelpersonen statt oder gar nicht. Die Reform hat zwei Grundprinzipien vernünftiger Institutionenentwicklung nicht beachtet: das Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums und das Prinzip der zielgerichteten Rahmenvorgaben. Das Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums als Grundsatz vernünftiger Entwicklung verlangt, dass man vor ­einer Ersetzung einer institutionellen Praxis und ihrer Regeln durch eine andere weiß, nicht bloß glaubt, dass die neue Form wesentliche Probleme der alten löst, ohne mehr oder gravierendere neue Probleme zu schaffen. Es ist durchaus zweifelhaft, ob die Bologna-Reform mit ihrer Abschaffung der Diplomstudiengänge in den natur- und technikwissenschaftlichen Fächern nach diesem Prinzip als ›vernünftig‹ zu werten ist. So hatten z. B. die alten Studiengänge immer ein Haupt- und Nebenfach vorgesehen, dabei kanonisches Grundlagenwissen und interdisziplinäres Denken vermittelt. 


Der Mythos vom Turmbau zu Babel ist irreführend insofern, als er suggeriert, dass es ein gemeinsames Großprojekt gewesen sei, das zu einem Verständigungsproblem zwischen den Menschen geführt habe. Babylonische Sprachverwirrungen entstehen vielmehr aus einer allzu festen Regionalisierung von Expertise und Ausdrucksform. Die Kommunikation über Disziplinen hinweg, also über die Fachsprachen als bereichsspezifische Lokalsprachen hinaus, macht daher möglichst vielfältige Kombinationen disziplinärer Fachausbildung dringend nötig. Stattdessen verfestigt das Bologna-Modell auf der einen Seite die Trennung der Disziplinen und multipliziert auf der anderen Seite Hybrid­fächer, welche mit den Versprechen der Transdisziplinarität antreten, aber disziplinäre Tiefenbildung vermissen lassen. ›Konservative‹ Fächer wurden dagegen dazu getrieben, in die Bachelor-Phase ein reines Curriculum ihrer Disziplin als Grundlage unterzubringen und den Wahlfachbereich als bloßen Blumenstrauß anzubieten. Die Chance wurde vertan, wie in den USA eine stringente fachdisziplinäre Vertiefung in einem professionell durchgeführten Aufbaustudium auf ein breiteres Bachelorstudium folgen zu lassen, das noch offen gehalten ist für spätere Ausdifferenzierungen. An die Stelle einer solchen Rollenbestimmung der Bachelor-Phase ist die Rhetorik von Employability und ›Schlüsselqualifikationen‹ getreten.


Mangelnde Projektplanung zeigt sich besonders klar an der Wiedereinführung eines Lehramtsstudiums mit Staatsexamen, welches den Schülern, die sich für das Lehramt entscheiden, ein Monopol gegen die disziplinären Studiengänge sichert und damit zugunsten einer Pädagogischen Hochschule im Gehäuse der Universität tendenziell fachliche Innovationen aus der Schule ausschließt.


7.


Das Land Sachsen braucht eine Innovationsoffensive, nicht nur im Bereich der technischen Ausbildung, Forschung und Innovation, dem Ingenieurbereich und den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Natur- und den Technikwissenschaften, sondern auch im Blick auf die Ausbildung im Bereich des Verstehens unserer politischen und gesellschaftlichen Institutionen, auch der Ökonomie, des Wissenschaftsbetriebs, der Schulen, der Geschichte, Kultur und Kunst. Projektmanagement und -planung setzen ein integratives Denken voraus, und zwar für alle möglichen Prozesse in der Teilung von Arbeit und Leistung. Für deren Explikation reichen mathematische Formelsprachen und ein Reden und Rechnen nach festen Definitionen und Schemata 
nicht aus.


8.


Eine Bildungspolitik, welche sich aus fiskalischen Gründen nur an der Anzahl der Landeskinder ausrichtet, verabschiedet sich aus der weltweiten Konkurrenz um die besten Köpfe. Die Steuerung des Landes aus bloß technisch-ökonomischer Perspektive ist mittel- und langfristig ein Innovationshemmnis. Gerade hier wäre ein politisches Projekt- und Prozessdenken über Formen und Folgen von institutionellen Rahmenentscheidungen nötiger denn je. 


Innovationspolitik sollte daher die Bildung in ihrem umfassendsten Sinn als Grundlage haben. Die heutigen Herausforderungen, wie Fokussierung auf hybride Wertschöpfung, fachübergreifende Kooperation, die sich beispielsweise auch in den Ansätzen der Open Innovation widerspiegeln, verlangen viele unterschiedliche Talente und integrative Kompetenzen.


  1. 1Robin G. Collingwood, Die Idee der Natur, Frankfurt a. M. 2005, S. 10.
  2. 2So Staatsminister Kajo Schommer (1940–2007) schon am 23.4.1994.

  3. 3Vgl. Alexander Eickelpasch, »Forschung, Entwicklung und Innovationen in Ostdeutschland: Rückstand strukturell bedingt«, in DIW Wochenbericht 41 (2015), S. 907–918, 
http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.515881.de/15-41-1.pdf 
(3.2.2017).

  4. 4Ebd., S. 915 f. sowie Abb. 2.

  5. 5Ebd., S. 917.

  6. 6Ebd., S. 918.
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Heft 17 (2017)
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