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Gesellschaftlicher Zusammenhalt – einige Beobachtungen und offene Fragen


Die Rede vom gesellschaftlichen Zusammenhalt hat es in der deutschen politischen Öffentlichkeit innerhalb nur weniger Jahre ins Zentrum vieler Diskurse geschafft. In einer Welt, die einigermaßen in Unordnung geraten scheint, gelingt es auf diese Weise, den Blick nach innen zu lenken. Ob der Zusammenhalt etwas mit der Position Deutschlands in der Welt zu tun hat, bleibt dabei oftmals unerörtert. Dabei ergibt sich eine ganze Serie von Fragen, wenn man den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur zum Thema des innerhäuslichen Streits macht, sondern sich vergegenwärtigt, dass er einem historischen Wandel unterliegt und vielfältige Varianten weltweit kennt.


Schauen wir zuerst auf die Bemühungen der Bertelsmann-Stiftung den Zusammenhalt möglichst genau zu vermessen.1 Dies verbindet sich mit der Zusage, man liefere so »ein besseres Verständnis aktueller gesellschaftlichen Entwicklungen« und aktiviere »die Potentiale zur Stärkung des Zusammenhalts vor Ort«.2 Schaut man etwas genauer hin, basiert das ambitionierte Versprechen auf einer Umfrage, in der ausgewählte Deutsche gefragt werden, ob sie Vertrauen in das Handeln der Bundesregierung sowie in ihre Kreis- und Gemeindeverwaltung haben, ob sie den Zusammenhalt in Deutschland als gefährdet ansehen und der Meinung zustimmen, die »Leute kümmern sich nicht um Mitmenschen«. Gesellschaftlicher Zusammenhalt besteht in dieser Version also aus Politikvertrauen, Empathie für nicht näher definierte Mitmenschen und bleibt ansonsten den Befragten als leere Formel zum Selbstausfüllen überlassen. Ob man auf dieser Grundlage tatsächlich dem Land den Puls messen kann, sei dahingestellt. Es sieht jedenfalls professionell aus.


Dass sich jeder ein eigenes Verständnis vom gesellschaftlichen Zusammenhalt basteln kann, kennzeichnet nicht nur die Anstrengungen der Bertelsmann-Stiftung, sondern fällt auch bei einer ausführlicheren Betrachtung der Wortbeiträge von Politikerinnen und Politikern jeglicher Couleur im Bundestag und in der Presse auf. Systembejahung, Politikvertrauen, eine emotional eingebettete Sorge ums (wie und in wessen Interesse auch immer definierte) Gemeinwohl, Mitgefühl (häufig in Verbindung mit einer Referenz auf Familie oder angenehme Haustiere) und Solidarität, aber auch Rücksichtnahme in der Artikulation und Wahrnehmung eigener Interessen sowie (Eigen-)Verantwortung beim Umgang mit Herausforderungen, denen sich das Gemeinwesen gegenübersieht, sind wichtige, wenn auch bei weitem nicht alle Referenzen, auf die das Reden vom gesellschaftlichen Zusammenhalt verweist. Wer anderen die Anerkennung verweigert, bekommt Punktabzug in Sachen Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt ist durchweg positiv konnotiert und deshalb läuft der tägliche Wettbewerb in den Medien zwischen politischen Konkurrentinnen und Konkurrenten darum, wer ihn am besten repräsentiert, bewahrt oder wiederherstellt. 


Entsprechend ist die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts eine oft beschworene Signatur unserer Zeit, wobei nicht immer klar ist, seit wann diese Gefährdung herrscht und ob sie gerade zunimmt oder – wie die von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten Umfragedaten nahelegen – Corona-bedingt gerade im Abnehmen begriffen ist.3 Sicherheitshalber, so als traue man dem eigenen Befund nicht, wird auch gleich der Verdacht nachgeschoben, es handele sich eventuell nur um eine temporäre Besserung der Lage. 


Nun könnte man sich damit zufriedengeben, dass es seit längerem ein zirkulierendes Stereotyp gibt, wonach die Deutschen ungeachtet ihrer insgesamt eigentlich erfreulichen komparativen Wohlstandsvorteile zu Missmut und Unzufriedenheit neigten. Die Debatte um den gesellschaftlichen Zusammenhalt greift allerdings tiefer, auch wenn wir vorläufig mehr Fragen als Antworten haben, wie viele Verästelungen zu beachten sind. Im Folgenden werden ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit einige dieser Fragen kurz aufgeworfen, für ihre tiefer schürfende Beantwortung fühlt sich nicht zuletzt das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt verantwortlich, das am 1. Juni 2020 seine Arbeit aufgenommen hat und in dessen interdisziplinären Gründungsdiskussionen ich für die Komplexität des Gegenstandes sensibilisiert worden bin.4

Beginnen wir mit der narrativen Grundfigur eines neuerdings erschütterten gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dann erhebt sich die Frage, ob in dieser Diagnose auch eine (implizite oder explizierte) Aussage über die Vergangenheit steckt. Es erscheint so, als würde mindestens unausgesprochen eine Erzählung über die Vergangenheit mitgeführt, wonach es früher um den Zusammenhalt besser oder sogar vorzüglich bestellt gewesen sei. Nun wird niemand dies für die gesamte Welt- oder gar für die gesamte Nationalgeschichte der Deutschen ernsthaft behaupten wollen. Aber die jüngste Zusammenhaltskrise wird abgegrenzt gegen einen allerdings sehr vage gehaltenen Hintergrund lange gewohnter Stabilität. Dieses etwas bräsig daherkommende Geschichtsbild kennt vermutlich analoge Erschütterungen in der bedingungslosen Kapitulation vom Mai 1945 und vielleicht noch in den Tumulten des Jahres 1968. Eine unsichere Gegenwart wird einer irgendwie mehr Vertrauen erweckenden Vergangenheit gegenübergestellt. Dieses Bild hat allerdings die Erschütterungen gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Revolution von 1989 und der darauffolgenden Transformationsperiode kaum auf dem Zettel. Ostdeutsche jedenfalls mögen sich im Bild kürzlich schwindenden Zusammenhalts (im Sinne von Regime-Stabilität) kaum wiedererkennen und viele von ihnen mit Zufriedenheit auf ihr stabilitätserschütterndes Engagement zurückschauen. Die Erfahrung des tiefgreifenden Umbruchs in den letzten 30 Jahren mit all ihren Auf- und Abstiegen, mit Abwanderung und entwerteten Lebensentwürfen wie neu begonnenen Karrieren hat eine gewisse Vertrautheit mit Erschütterungen produziert, die sich im Bild der vordem stabilen und nunmehr Zusammenhalt verlierenden Bundesrepublik nicht wirklich wiederfindet. Dass spätestens aller zehn Jahre aus gegebenem Jubiläumsanlass erst (kurz) des revolutionären Umbruchs und anschließend (ausführlicher) der nationaldemokratischen Restabilisierung eines vereinigten Deutschlands gedacht wird, macht diese fortdauernde Differenz immer wieder sichtbar. Dass die Forderung von oben, doch bitte den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht in Gefahr zu bringen, auch etwas Bedrückendes (um nicht zu sagen Unterdrückendes) haben kann, ist denen, die die revolutionäre Politisierung von 1989 erlebt haben, präsenter als denen, für die der Umbruch in einem anderen Land passierte. Diese Überlegung kann auch zu der Frage führen, ob gesellschaftlicher Zusammenhalt immer und überall das höchste Gut und ein nicht näher anzusehender heiliger Gral ist oder ob es Umstände gibt, in denen seine Infragestellung ein legitimes Anliegen sein kann. Diese Erschütterung des Zusammenhalts geht dann einher mit ­einer Politisierung sozialer Konflikte, die zur Beseitigung von gesellschaft­lichen Entwicklungsblockaden und zur Herstellung größerer Gerechtigkeit und Partizipationschancen führt sowie einem Mehr an Freiheit und Geschwisterlichkeit zum Durchbruch verhelfen. Solche Situationen sind in vielerlei Hinsicht voraussetzungsreich. Sie können auch missbräuchlich aufgerufen werden wie im aktuellen Bemühen der AfD, eine Wende 2.0 in Erinnerung an das Jahr 1989 für sich zu reklamieren. Aber ungeachtet solch ärgerlicher Camouflage bleibt aus einer globalhistorischen Perspektive die Frage relevant, ob es auch legitime Infragestellungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts gibt. Diese Frage überhaupt zu stellen, hilft vielleicht, den Begriff der ihm auch anhaftenden Biedermeierlichkeit zu entkleiden.


Gesellschaftlicher Zusammenhalt wurde nicht zufällig in der Mitte der 2010er Jahre zum Sorgenthema in der Bundesrepublik. Scharfe Auseinandersetzungen um die infolge zahlreicher Kriege von Afghanistan bis Syrien sprunghaft gewachsene Zuwanderung und die Dilemmata, die ein seine Dysfunktionalität beweisendes europäisches Migrationsregime (Dublin III) hervortrieb, haben die politische Tektonik des Landes verändert. Eine neue Partei tauchte auf und beanspruchte gleich, eine »Alternative für Deutschland« zu sein. Sie sammelte einerseits Teile eines nationalkonservativen Bürgertums auf, die mit dem Europäisierungskurs (symbolisiert in der Aufgabe der D-Mark) und der Modernisierung der CDU unter Kohl und Merkel immer unzufriedener geworden waren. Andererseits gelang der AfD die Entfaltung einer populistischen Rhetorik, die eine nicht unerhebliche Wählerklientel band, die vordem eher linken Parteien (SPD oder Die Linke) ihre Stimme gegeben hatte und diese Rhetorik von »Umvolkung« und »kultureller Überfremdung« attraktiv fand, weil sie ihre Souveränitätspaniken bediente. Dies wiederum ist übrigens eine Entwicklung, die in anderen europäischen Ländern bereits früher zu beobachten gewesen war. Eine vor dem Hintergrund deutscher Geschichte besonders bedenkliche Besonderheit stellte die dritte Komponente in dieser Partei dar, die der Entfesselung des rechtsextremen Potentials entsprang. Im Unterschied zu jenen letztlich zumeist marginal gebliebenen Bemühungen deutscher rechts­extremer Parteien, dem Verdacht zu entgehen, es handele sich um Neonazis und damit Wiedergänger der weltweit geächteten Verursacher von Judenmord und Weltkrieg, gelang diesmal der Anschluss an die modernisierte Programmatik der Nouvelle Droite und New Right aus dem westlichen Europa. Allerdings erwies sich die AfD als unfähig, dieser temporären Allianz eine umfassende Agenda anzubieten. Dazu waren die Interessenlagen und politischen Traditionen, auf die sich die verschiedenen Strömungen in der Partei beriefen, zu unterschiedlich und sogar gegensätzlich, was sich auch in einer sukzessiven Verdrängung einer ganzen Serie von Führungsfiguren ausdrückte. Den Ausweg suchte die AfD in einer monothematischen Zuspitzung (zunächst gegen den Euro, danach gegen Immigration, neuerdings gegen die Corona-Politik der Regierung), die sich auf ein historisch seit langem etabliertes Repertoire populistischer Gegenüberstellung von »Establishment« und »Volk« stützt. 


Wo liegen die tieferen Ursachen dieser Entwicklung? Angesichts des gleichzeitigen Auftretens solcher populistischen Parteien und Bewegungen in vielen Ländern von den Brexiteers in Großbritannien bis zu Orbáns Fidesz in Ungarn oder Donald Trumps Wahlsieg in den USA ist diese Frage nicht einfach zu ­beantworten, aber eine wichtige Dimension ihrer Beantwortung scheint mir die Untersuchung zu sein, warum und inwiefern Teile der Eliten wie auch Teile der Bevölkerung auf eine grundsätzliche Neuverhandlung jener Verflechtungen drängten, die man seit den 1990er Jahren als »Globalisierung« zu beschreiben sich angewöhnt hatte. Weder war »die Globalisierung« bis dahin ein einheitlicher Prozess noch hatte es an Kritik (vor allem von Gewerkschaften und transnationalen Organisationen wie dem Weltsozialforum) gefehlt, aber sie wurde in der Öffentlichkeit weithin als alternativlos dargestellt und empfunden. Dies änderte sich nach der Finanzkrise von 2008/10, als zwei Dinge vor allem deutlich geworden waren: erstens, dass »die Globalisierung« keineswegs völlig anonym war, sondern sich in den Bankern der Wallstreet, die mit ihren Kartons fluchtartig die früheren Kommandozentralen verließen, personifizieren ließ; und zweitens, dass Staaten keineswegs ohnmächtig gegenüber globalen Trends waren, sondern die finanzielle Macht der Gesellschaften mobilisieren können, um Krisen zu überwinden (und Banken aus der Misere zu befreien).


Dies waren zwei entscheidende Voraussetzungen dafür, dass viele gesellschaftliche Akteure – in durchaus unterschiedliche Richtungen – ihre Koordinaten neu ausrichteten. Der Grundsatz des Neoliberalismus, wonach eine Ausweitung der absolut gesetzten Marktlogik auf möglichst viele Gesellschaftsbereiche und möglichst alle Teile der Welt Effizienzvorteile gegenüber jeglicher Art von interventionistischer Steuerung garantiere und damit (leider nur à la longue) Wohlstand für alle sichere, verlor an Kurswert. Unternehmen richteten ihre Politik der transregionalen Lieferketten anders aus, die Möglichkeit neuer Handelskriege leuchtete am Horizont auf, die Idee kultureller Überforderung durch Migration fand mehr Gehör (auch wenn parallel der Tourismus eine weitere Demokratisierung durch Billigairlines erlebte). Gleichzeitig erhöhte sich aber die Abhängigkeit der Exportbranchen (und der dort Beschäftigten!) von den wachsenden Massenmärkten in den Schwellenländern. 


Eine weitere Dimension trat hinzu: angesichts von Klima- und Biodiversitätskrise geriet das klassische Wachstumsmodell, dem auch die Globalisierungsideologie der 1990er Jahre gefolgt war, in eine Legitimationskrise, für die Greta Thunberg zum Symbol wurde. Dass diese Krise nur durch transregionale Kooperation angegangen werden kann, zeigen die naturwissenschaftlichen Modellrechnungen ebenso wie die Gipfeldiplomatie seit Rio de Janeiro 1992 sehr nachdrücklich, auch wenn diese Einsicht nicht jedem und jeder zugänglich scheint.


Unter diesen Umständen ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass die Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrages unter den neuen Globalisierungsbedingungen von heftigen Konflikten begleitet ist – zu unterschiedlich sind die Interessen und zu unterschiedlich sind die Konsequenzen einzelner Entscheidungen für verschiedene Gruppen. Der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt kann in dieser Sichtweise interpretiert werden als gegenseitige Ermahnung, über diesem notwendigen und wahrscheinlich sogar notwendigerweise polarisierten Streit die Kommunikationsgemeinschaft nicht aufzugeben, in der dieser Streit ausgetragen wird.


Dass dies ein ziemlich grundsätzliches Dilemma darstellt, steht außer Frage. Interessant ist, wohin sich die Exponenten der konservativen Teile jener Sozialformation wenden, die man als Bürgertum oder Mittelschichten bezeichnen kann, und zu deren sozioökonomischen Perspektiven derzeit eine breite Debatte läuft, die Verunsicherung und Abstiegsängste ebenso wie Anpassungsfähigkeit an neue Konstellationen betont.5 Schrecken sie vor einem Bündnis mit Rechtsextremen zurück oder verfolgen sie eine Strategie der Einhegung, die dem rechten Rand die Bindung größerer Wählerschichten an eine konservative Hegemonie zutraut? Gleichermaßen lässt sich fragen, ob jene Wählerinnen und Wähler, die der AfD die Aufsehen erregenden Erfolge 2017–2019 bescherten, auf Dauer darüber hinwegsehen, dass ihre Hinweise auf soziale Schieflagen zwar rhetorisch gegen den Anspruch der sogenannten Volksparteien gewendet werden, die grundgesetzlich verankerten Versprechen einzulösen, aber kaum Eingang in die Programmatik der AfD jenseits vereinzelter lokaler Initiativen finden. 


Ein Blick in die Historie des Populismus belegt, dass die zweite Hälfte der 2010er Jahre keineswegs der erste heftige Ausschlag populistischer Erfolge war. Man könnte überspitzt formulieren, dass der Populismus ein Begleitprodukt repräsentativer Regierungsformen ist, die angesichts einer wachsenden Komplexität gesellschaftlicher Entwicklung durchweg vor dem Dilemma stehen, dass die Art und Weise des Zustandekommens politischer Entscheidungen für die Repräsentierten nur bedingt durchsichtig ist. So geraten die Regierenden sowie die Parteienvertreterinnen und -vertreter in den Parlamenten fast zwangsläufig in den Verdacht, Partikularinteressen (oder jedenfalls das, was Wählerinnen und Wähler dafür halten) in übertriebener Weise zu beachten. Heftige Inzidenzen populistischer Bewegungen können als Indikator dafür angesehen werden, dass diese Spannung einen bestimmten Kipppunkt erreicht hat. Das Beispiel der USA in den 1890er Jahren ist dafür erhellend (auch, weil es mit der Populist Party den Namensgeber für diese Art von Protest hervorgebracht hat). Die Farmer fernab der Ostküste sammelten sich hinter der populistischen Fahne, weil sie den Eisenbahn- und Finanzmagnaten nicht zutrauten, ihre Interessen angemessen mit zu vertreten. Allerdings zeigt der Blick in den historischen Rückspiegel auch, dass solche Erfolge immer temporär geblieben sind. Wahrscheinlich auch, weil der populistische Impuls gegen das Repräsentativsystem entweder zu einer Schwäche der Institutionalisierung alternativer Parteistrukturen oder zu rasch wachsendem Misstrauen der Basis gegen das in der eigenen Bewegung wachsende Establishment führt. Dass dies nicht immer so sein muss, zeigt allerdings der Aufstieg des Populismus zu hybriden Regierungsformen etwa in Lateinamerika oder in jüngerer Zeit im östlichen Europa.6

Ob sich mit dem derzeit laufenden Wandel der Medienstrukturen auch das Verhältnis von Regierenden und Repräsentierten grundsätzlich ändert und damit für die beschriebenen Dilemmata neue Auflösungen ergeben, ist gleichermaßen eine offene Frage, die zwar von verschiedenen Seiten gestellt worden ist,7 aber bislang nur mit Trendaussagen beantwortet werden kann.


Ein letztes Bündel von neu aufgetauchten Fragen hat die diesjährige Corona-Krise aufgeworfen. Die Pandemie und die daraufhin veranlassten Einschränkungen der grenzüberschreitenden und gesellschaftsinternen Mobilitäten trafen auf eine bereits weithin entfaltete Diskussion zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hat die global zirkulierende Gefahr die Menschen zusammengeschweißt oder in kleinere, sich voneinander abgrenzende Solidargemeinschaften getrieben? Bringt die Erfahrung einer weltweiten Allianz der Impfstoff-Forscherinnen und -forscher den Kosmopolitismus voran oder werden die Egoismen von Eliten und einzelnen Regierungen, sich die Vakzine privilegiert zu sichern, zu einem weiteren Treibsatz in Richtung Isolationismus? Man kann solche offenen Fragen immer weiter auflisten, und ihre Beantwortung wird die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zweifellos weiter in Atem halten. Vor allem aber zeigt die Offenheit der Fragen, dass es keine unumkehrbare und alternativlose Tendenz gibt, sondern die Antworten Gegenstand der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen sein werden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann weder verordnet werden, noch ist er naturgegeben, sondern er muss im Streit errungen werden und steht am nächsten Tag schon wieder zur Disposition. Davor sollten wir keine Angst haben, sondern dies als Chance zur Intervention begreifen.


  1. 1https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/gesellschaftlicher-zusammenhalt (1.10.2020). 

  2. 2Ebd.

  3. 3https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/august/gesellschaftlicher-zusammenhalt-verbessert-sich-in-der-corona-krise (1.10.2020).

  4. 4Vgl. dazu Nicole Deitelhoff, Olaf Groh-Samberg und Matthias Middell (Hg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Ein interdisziplinärer Dialog, Frankfurt a. M. 2020.

  5. 5Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2018.

  6. 6Für einen Überblick zu den zahlreichen Erscheinungsformen des Populismus, der allerdings noch nicht wirklich in einen überzeugenden Entwurf vergleichender Populismusforschung geführt hat: Cristóbal Rovira Kaltwasser u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of Populism, Oxford 2017; Carlos de La Torre (Hg.), Routledge Handbook of Global Populism, London / New York 2019.

  7. 7Hans-Jürgen Puhle, Populism and Democracy in the 21st Century (SCRIPTS, Working Paper 2), Berlin 2020.
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Heft 22 (2020)
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