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Transformationsfolgenanalyse

Die Ergebnisse des ostdeutschen Wissenschaftsumbaus aus der Perspektive des Jahres 2009

Die Betrachtung des ostdeutschen Wissenschaftsumbaus 1989 ff. leidet typischerweise unter der formalen Inkompatibilität zweier Perspektiven: Die eine erinnert zu viel, die andere zu wenig. Die eine löst sich nicht von den Details und damit finden sich – häufig zu Recht – viele Anlässe, um anhaltend empört zu sein. Die andere Perspektive löst sich zu sehr von den Details, konzentriert sich auf große Entwicklungslinien und damit lässt sich in den Vorgängen nur eine Normalisierungsgeschichte entdecken. Die Kunst der angemessenen Beurteilung bestünde darin, eine mittlere Perspektive zu entwickeln: hinreichend nahe am Realgeschehen, um die problematischen Aspekte nicht zu übersehen, und hinreichend vom Realgeschehen distanziert, um die Entwicklungslinien der Prozesse identifizieren zu können. Eine solche mittlere Perspektive dürfte auch am ehesten geeignet sein, um nicht nur den Ablauf, sondern auch die einstweiligen Ergebnisse des Wissenschaftsumbaus erklären zu können.

Der Vorgang wird meist unter Gerechtigkeitsaspekten kritisiert. Ich möchte ihn im Folgenden unter dem Aspekt der Funktionalität betrachten. Dazu können die Ergebnisse des Prozesses herangezogen werden. An den Ergebnissen werden nach landläufiger Übung die Erfolge, Teilerfolge und Misserfolge beliebiger Prozesse indiziert. Es dürfte nichts dagegen sprechen, dies auch beim ostdeutschen Wissenschaftsumbau so zu halten. Dessen Resultate lassen sich in zwei Gruppen sortieren: zum einen die Herstellung neuer Handlungsbedingungen für die Wissenschaft, zum anderen die innerhalb dieser erneuerten Bedingungen erzielten wissenschaftlichen Leistungen.

1. Die Herstellung neuer Handlungsbedingungen

Die Herstellung neuer Handlungsbedingungen vollzog sich in vier Stufen – die erste bis zum Beitritt des ostdeutschen Siedlungsgebietes zum »Geltungsbereich des Grundgesetzes«, die zweite in der Mitte des Jahres 1990 beginnend und sich bis 1992, an manchen Hochschulen auch darüber hinaus hinziehend, die dritte und vierte Stufe nach dem 3. Oktober 1990 einsetzend:


1. Die Erwähnung der ersten Stufe erfordert zugleich, eine gängige Wahrnehmung zu korrigieren. Ein wichtiger Teil der Veränderungen wird fälschlicherweise den Wirkungen der deutschen Neuvereinigung zugeschrieben, war aber nicht deren Ergebnis, sondern Resultat des letzten Jahres der DDR – 1990: Zu nennen sind hier insbesondere die Auflösung der SED- und FDJStrukturen an den Hochschulen und Akademien, die Wissenschaftsfreiheit, der freie Studienzugang, die Entsorgung ideologischer Studienanteile und die Möglichkeit zur freien Kommunikation über jegliche Grenzen hinweg.

2. Diese Veränderungen sollten auch von der personellen Seite her abgesichert werden. Daher begann, teils vor und teils nach dem Beitritt, eine paradoxe Intervention. Mit der Begründung, Wissenschaft und Politik fortan zu trennen, wurden Politik und Wissenschaft noch einmal explizit zusammengeführt: Personalkommissionen und Ministerien unternahmen politische Bewertungen der Wissenschaftler/innen, die sogenannten Integritätsüberprüfungen. Der Vorgang vermittelte seiner Form nach nichtjustiziable Strafansprüche mit dem Gebot legalen Handelns. In ihrem positivistischen Kern waren die Überprüfungsverfahren Beurteilungen individualbiografischer Vergangenheit mit dem Ziel, eine Sozialprognose über die Eignung (resp. Nichteignung) für den Öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen. Funktional war dieses Anliegen in das Zumutbarkeitskriterium übersetzt worden.


Mit dem 3. Oktober 1990 wurden die Rahmenbedingungen für die ostdeutsche Wissenschaft vor allem in zweierlei Hinsicht verändert:


3. Zunächst änderten sich im Zuge eines weitgehenden West-Ost-Transfers die kompletten Strukturen: die Hochschulstrukturen, die Organisationsformen außeruniversitärer Forschung, die Personalstruktur und das rahmensetzende Rechtssystem.

4. Sodann setzte – finanztransfergetrieben – eine grandiose Ausstattungsverbesserung der ostdeutschen Hochschulen und Forschungsinstitute ein. Der plötzlich in allen sanierten Büros verlegte Spannteppich vermittelte auf durchaus überzeugende Weise das Gefühl, nunmehr mit beiden Beinen im Westen zu stehen.


Sämtliche der genannten Strukturtransfers hatten Auswirkungen auf konkrete Personen. Daraus resultiert die häufige Frage nach Zahlen des Personalverbleibs bzw. -nichtverbleibs im akademischen System. Allerdings gibt es keine Gesamterhebung. Die empirisch abgesicherten Erhebungen, denen sich diesbezüglich relevante Zahlen entnehmen lassen, sind zum einen überschaubar, zum anderen aber in ihren Einzelheiten schwer miteinander vergleichbar. Zumindest lässt sich aus ihnen ableiten, dass es in den 90er Jahren eine massenhafte Beendigung von wissenschaftlichen Berufsbiografien gegeben hat. Darüber hinaus kann auf Grund der Schwierigkeiten, welche die vorliegenden Zahlenwerke bereithalten, nur eine plausible Schätzung auf der Basis einer Zusammenschau der verschiedenen statistischen Erfassungen und Hochrechnungen stattfinden. Diese plausible Schätzung ergibt, dass das 1989 beschäftigt gewesene Personal in folgenden Größenordnungen abgebaut worden ist:1


  • ca. 60 % an den Hochschulen (mit starken Unterschieden nach Ländern),
  • ca. 60 % in der außerhochschulischen Akademieforschung (die anderen 40 % wurde in Max-Planck-, Fraunhofer-, Großforschungs- und Blaue-Liste-Einrichtungen tätig),
  • ca. 85 % in der Industrieforschung.2

Der Personalabbau betraf vor allem (Ost-)Berlin und Sachsen. Dort hatte die DDR fast 50 % ihres gesamten Wissenschaftspersonals konzentriert. Das war nunmehr durch die beiden Bundesländer in diesen Größenordnungen nicht zu finanzieren. An der Universität Leipzig, der TU Dresden und der Humboldt-Universität zu Berlin, um drei Beispiele zu nennen, hatten daraufhin jeweils zwei Drittel des 1990 beschäftigten Personals ihren Arbeitsplatz räumen müssen.3 Neben den regionalen gab es disziplinenspezifisch erhebliche Unterschiede:


  • Die Sozial- und Geisteswissenschaften wurden stärker verwestlicht als die Naturwissenschaften.
  • Innerhalb der letzteren hatten ostdeutsche Professoren in den Ingenieurwissenschaften die größten Verbleibschancen, während die Verhältnisse an den medizinischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten stärker ost-west-ausgeglichen sind.
  • Innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften wurden die Sozialwissenschaften deutlicher verwestlicht als die Geisteswissenschaften. Doch ist dort intern nochmals zu differenzieren:
  • Einerseits gibt es Bereiche wie die Politikwissenschaft, die nahezu vollständig westdeutsch besetzt sind, da es dieses Fach so in der DDR nicht gab, während es sich in der Soziologie ausgeglichener verhält: Von 53 dort an ostdeutsche Universitäten berufenen Professoren waren – Stand 1997 – elf in der DDR promoviert oder habilitiert worden.4
  • Andererseits sind in den Geisteswissenschaften Fächer wie die Philosophie, die Geschichts- oder die Literaturwissenschaften sehr westdominant besetzt, während es in den Sprachwissenschaften und den sog. Kleinen Fächern eine deutliche Ausgewogenheit zwischen Ost und West gibt – zumindest solange Pensionierungen und darauffolgende Neubesetzungen noch keine Veränderung bewirk(t)en.5

Eine besonders problematische Implikation der Vorgänge waren die Schwierigkeiten, die der Transformationsmodus den jüngeren und mittleren ostdeutschen Wissenschaftlergenerationen bei der Integration in den neu organisierten akademischen Betrieb bescherte. Deren Angehörige hatten noch in der DDR ihre ersten Schritte in der Wissenschaft absolviert und dann mit dem Umbruch ihre akademischen Lehrer und Netzwerke verloren. Aus beiden Generationen gelang es nur wenigen, sich gegen das in den ersten Jahren wirksame Stigma, in der DDR wissenschaftlich sozialisiert worden zu sein, in die neuen Strukturen zu integrieren. Es mangelte den jüngeren Wissenschaftlern sowohl an der Einbindung in die nun relevanten Netzwerke als auch häufig an habitueller Passfähigkeit. Sie stießen daher an eine gläserne Decke.6 Hier kam zum Zuge, was Ethnologen Tribalismus nennen: »eine Verhaltenstendenz der Bevorzugung von Kontakten zu Mitgliedern der eigenen Kulturgruppe«.7

Der weitgehende Verzicht auf die komplette ostdeutsche Nachwuchskohorte hatte eine wesentliche Voraussetzung: Die akademische Grundversorgung Ostdeutschlands konnte vergleichsweise problemlos aus den vorhandenen personellen Ressourcen der westdeutschen Wissenschaft erfolgen. Zwar war in einigen Fächern eine solche Anzahl von Professuren zu besetzen, dass die vorhandenen westlichen Personalreserven eigentlich überfordert waren, und die Wettbewerblichkeit der Berufungsverfahren ließ sich häufig nur noch formal aufrechterhalten. Aber es konnte dann immer noch auf Anwärter zurückgegriffen werden, die nach allem menschlichen Ermessen in der westdeutschen Normalsituation ihre Chancen ausgereizt hatten, ohne auf eine Professur gelangt zu sein.8 Wer westelbisch habilitiert war, konnte beispielsweise in den neu aufzubauenden Rechts- und Wirtschaftswissenschaften angesichts der Vielzahl zu besetzender Positionen kaum abgewiesen werden.9

Gleichwohl muss das – je nach Fächergruppe relative oder absolute – Übergewicht westdeutscher Berufungen in Ostdeutschland grundsätzlich weder verwundern, noch muss sich dahinter prinzipiell ein Problem verbergen: Die ostdeutsche Partialpopulation bildete nun einmal nur 21 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung. Insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften hätte man es wohl auch keinem Studierenden ernsthaft wünschen dürfen, ausschließlich von früherem DDR-Personal belehrt zu werden. Allerdings wäre die zahlenmäßige westdeutsche Dominanz im akademischen Personal in Ostdeutschland nur dann völlig unproblematisch gewesen, wenn sich alsbald auch eine dem ostdeutschen Bevölkerungsanteil entsprechende Veröstlichung des wissenschaftlichen Personals an westdeutschen Hochschulen ergeben hätte. Dies war nicht der Fall.10

Stattdessen erwies sich die Aufwärtsmobilität (von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin zur Professorin) als signifikant geringer als die Abwärtsmobilität (vom Wissenschaftler zum Vorruheständler, vom Professor zum sog. Professor alten Rechts, von der unbefristeten Oberassistentin zur befristeten Projektmitarbeiterin, vom Industrieforscher zum Versicherungsvertreter usw.). Faktisch hatte nahezu jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler in Ostdeutschland seit 1990 eine Veränderung des beruflichen Status erfahren: »Beendigung oder Neudefinition der Karrieren nahezu aller DDR-Wissenschaftler«, fasste Dieter Simon, Wissenschaftsratsvorsitzender der Zieldefinitionsphase, zusammen, was sich hinter dem für diese Vorgänge vielfach gebrauchten Begriff »personelle Erneuerung« verbarg.11 Im Ganzen war das ursprünglich tätige Personal stark dezimiert, deutlich vermännlicht sowie verwestlicht worden.12 Für einige in der DDR benachteiligte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hatte der Personalaustausch auch zuvor undenkbare Chancen geboten. Gleichzeitig wurden aber auch früher benachteiligte Wissenschaftler von der allgemeinen Welle des Stellenabbaus erfasst.

Auf einer Tagung im Jahre 2002 bilanzierten Akteure des Wissenschaftsumbaus ihr seinerzeitiges Tun und dessen seitherige Wirkungen. Im Ganzen fiel die Rückschau positiv aus, doch schloss dies deutliche Selbstzweifel und kritische Anmerkungen ein: »Von Schuld, die man auf sich geladen habe,nsgesamt um 54 bzw. 22 Pläsündigung an einer ganzen Generation (Horst Kern), von Ungerechtigkeiten (Benno Parthier), … von persönlicher Tragik (Manfred Erhardt), von einem schmerzlichen Prozeß (Jens Reich), von einer Katastrophe für die Betroffenen (Gerhard Maess …), von Fehlentscheidungen der Ehrenkommissionen (wenngleich nur gelegentlichen, Erich Thiess …), von ungerechtfertigten Härten an der Humboldt-Universität (… Richard Schröder)«.13

Am deutlichsten formulierte der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß: »Wenn ich als altes Wissenschaftsratsmitglied, das sowohl im Evaluationsausschuss als auch im Strukturausschuss und in vielen Kommissionen beider Ausschüsse gedient hat, einen Wunsch frei haben sollte, dann den, das wir – und sei es auch nur auf eine mehr oder weniger symbolische Weise – gutzumachen versuchen, was damals, bewirkt durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, an persönlichem Unrecht geschah gegenüber Akademieangehörigen, die, obgleich von bewiesener Leistungsfähigkeit, freigestellt, unzureichend weiterfinanziert und schließlich doch fallengelassen wurden. Und ebenso gegenüber Hochschullehrern, die wiederum trotz dokumentierter Leistungsfähigkeit der Abwicklung ihrer Einrichtungen zum Opfer fielen. Hier ist in zu vielen Fällen nicht nur fahrlässig mit der Ressource Geist umgegangen worden, sondern auch Würde und Leben einzelner Wissenschaftler verletzt worden.«14

2. Wissenschaftliche Leistungsbilanz

Mit den neu gestalteten Handlungsbedingungen sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich eine konkurrenzfähige Wissenschaft auch in Ostdeutschland entfalten könne. Ob das gelungen ist, lässt sich inzwischen überprüfen. Kriterien dessen sind nicht Gerechtigkeit oder Effizienz des Prozesses, sondern das Maß des wissenschaftlichen Erfolgs, also Effektivität. Dafür stellt die Wissenschaftsforschung Methoden zur quantitativen und qualitativen Leistungsbewertung bereit, mit deren Hilfe sich ein relational objektiviertes Urteil gewinnen lässt. Eine Sekundärauswertung von jüngeren gesamtdeutschen und internationalen Leistungsvergleichen, in die insgesamt 66 verschiedene Indikatoren einbezogen waren,15 hat generalisierend ergeben:


  • Insgesamt ist die Leistung der ostdeutschen Forschung (ohne Berlin) in den mit hoher Reputation belegten Sektoren – Universitäten und außeruniversitäre Forschung – weit überwiegend durchschnittlich bzw. unterdurchschnittlich.
  • Dagegen fällt sie im Fachhochschulsektor im sektorinternen Vergleich überdurchschnittlich aus – also in dem Teilsystem, das mit den geringsten Forschungsressourcen ausgestattet ist.

Es kann dies anhand einiger ausgewählter Daten exemplarisch illustriert werden. Dabei lässt sich der Erwartungswert hinsichtlich der ostdeutschen Anteile an den gesamtdeutschen Forschungsleistungen bzw. der ostdeutschen Präsenz bei etwa 15 % fixieren:16


  • Institutionell gibt es mit der TU Dresden eine von insgesamt 15 ostdeutschen Universitäten, die bei den verschiedenen Bewertungen überwiegend im oberen Leistungsdrittel der deutschen Universitäten vertreten ist. Sie gehört damit als einzige ostdeutsche Universität zu den als Gesamtinstitution auch gesamtdeutsch forschungsstarken.17
  • Von den 54 ostdeutschen gemeinschaftsfinanzierten Forschungsinstituten finden sich sechs Institute (= 11 %) im bundesweiten Vergleich auf Spitzenpositionen; von diesen sind fünf in Sachsen.
  • Neun der 21 ostdeutschen Fachhochschulen (= 43 %) finden sich unter den bundesweit forschungsstarken Fachhochschulen. Damit ist der ostdeutsche Fachhochschulsektor – in Relation zu seiner Größe – insgesamt forschungsaktiver als der westdeutsche FH-Sektor.
  • Die Drittmitteleinnahmen der öffentlich finanzierten ostdeutschen Forschung betragen 12 % aller in Deutschland eingeworbenen Drittmittel.
  • Quantitativ besonders stark sind in Ostdeutschland die Ingenieurwissenschaften vertreten: 21 % aller Professuren dieser Fächergruppe finden sich an ostdeutschen Hochschulen. Von den gesamtdeutsch eingeworbenen Drittmitteleinnahmen der Ingenieurwissenschaften fließen 14 % nach Ostdeutschland.
  • Der ostdeutsche Anteil an den gesamtdeutsch eingeworbenen Forschungsmitteln aus dem Forschungsrahmenprogramm der EU beträgt 6 %.
  • Unter den Community-intern gewählten DFG-Fachgutachter/innen stammen 11 % aus ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen.
  • Eine Auswertung der ostdeutschen Erfolge in den Vorentscheidungen und Endentscheidungen der beiden Runden der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern (2006 und 2007) ergibt: Der gewichtete Anteil ostdeutscher Anträge (ohne Berlin), die innerhalb der vier Auswahlstufen zum Zuge kamen, betrug 3,2 %.18 Werden die finanzierungswirksamen Endentscheidungen der beiden Auswahlrunden betrachtet, so ist festzuhalten: Die Universitäten der ostdeutschen Flächenländer partizipieren zu 2,3 % an der insgesamt verteilten Fördersumme.

Nun wäre eines nicht von vornherein unplausibel: Man könnte einwenden, dass es sich bei diesen Zahlen lediglich um Momentaufnahmen handele und die Dynamik der Entwicklung nicht abgebildet werde. Es erschiene ja denkbar, dass die bislang abgelaufene Zeit noch nicht lang genug gewesen sei. Nach weiteren beispielsweise zehn Jahren könne durchaus eine Normalisierung des Leistungsniveaus der ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen stattgefunden haben. Um diesen Einwand zu prüfen, sei exemplarisch ein Indikator im Zeitvergleich betrachtet. Mitteleinwerbungen bei der DFG gelten in Deutschland als so etwas wie die Königsdrittmittel. Daher erscheint es gerechtfertigt, diese Kategorie von Drittmitteln als Symptom von Forschungsstärke zu betrachten. Dann lässt sich für unseren Zweck betrachten, wie sich die ostdeutschen Universitäten im Bundesranking der DFG-Einwerbungserfolge im Zeitverlauf zu platzieren vermögen (Tab. 1):


  • Für die Jahre 1991 bis 2001 ist eine tendenzielle Aufwärtsbewegung bei der Platzierung der ostdeutschen Universitäten zu konstatieren. In den beiden Zeitvergleichen von 1991–1995 zu 1996–1998 und von 1996–1998 zu 1999–2001 stehen insgesamt 17 Platzaufstiegen bzw. Platzverteidigungen nur vier Abstiege gegenüber.
  • Diese Aufwärtstendenz hat sich zwischen 2002–2004 deutlich abgeschwächt und neigt für den Zeitraum von 2005–2007 zur Umkehr: Standen im Zeitvergleich 1999–2001 zu 2002–2004 noch neun Platzaufstiegen fünf Abstiege gegenüber, so konnten in der Gegenüberstellung der Berichtszeiträume 2002–2004 und 2005–2007 lediglich fünf Universitäten einen Aufstieg verzeichnen, während sechs Hochschulen nun z. T. deutlich schlechter platziert sind.

Dieser Trend spiegelt sich auch in einer Gesamtbilanz der Platzierungsveränderungen wider, die Aufstiege und Abstiege miteinander verrechnet:


  • Können die ostdeutschen Hochschulen in den Zeitvergleichen von 1991– 1995 zu 1996–1998 und von 1996–1998 zu 1999–2001 sich insgesamt umzu gelangen.">9tze verbessern, so reduziert sich diese Aufwärtsbewegung zwischen 1999–2001 und 2002–2004 auf neun Plätze.
  • Im Vergleich der Berichtszeiträume 2002–2004 und 2005–2007 verlieren die ostdeutschen Universitäten insgesamt elf Plätze.

Insgesamt zeigt sich: Die ostdeutschen Universitäten begannen mit einem dynamischen Einstieg bei der DFG-Mitteleinwerbung in den 90er Jahren. Seit Beginn des aktuellen Jahrzehnts flacht die Dynamik ab und hat sich inzwischen leicht ins Negative verkehrt. Letzteres ist noch kein dramatischer Befund: Bei 14 einbezogenen Universitäten können die neueren Gesamtveränderungen zum einen Zufallsschwankungen dokumentieren; zum anderen fiel in den letzten berücksichtigten Zeitraum (2005–2007) auch die Verteilung der Mittel der Exzellenzinitiative. Allerdings: Diesen Zahlen ist jedenfalls keine Aufwärtsdynamik zu entnehmen, sondern eher eine Konsolidierung auf unterdurchschnittlichem Niveau.

Tab. 1: Bundesweite Rangplätze der ostdeutschen Universitäten in Bezug auf die DFG-Bewilligungen absolut 1991–1995, 1996–1998, 1999–2001, 2002–2004 und 2005–2007 Berücksichtigt sind Hochschulen, die im angegebenen Zeitraum insgesamt mehr als 0,5 Mio. Euro DFG-Bewilligungen erhalten haben. Rangreihe geordnet nach der Platzierung im Zeitraum 2005–2007. DFG: Förder-Ranking 2003, Bonn 2003, S. 42 f.; DFG: Förder-Ranking 2006, Bonn 2006, S. 152 f.; DFG: Förder-Ranking 2009, Bonn 2009, S. 158 f.; eigene Berechnungen. Tab. 1: Bundesweite Rangplätze der ostdeutschen Universitäten in Bezug auf die DFG-Bewilligungen absolut 1991–1995, 1996–1998, 1999–2001, 2002–2004 und 2005–2007 Berücksichtigt sind Hochschulen, die im angegebenen Zeitraum insgesamt mehr als 0,5 Mio. Euro DFG-Bewilligungen erhalten haben. Rangreihe geordnet nach der Platzierung im Zeitraum 2005–2007. DFG: Förder-Ranking 2003, Bonn 2003, S. 42 f.; DFG: Förder-Ranking 2006, Bonn 2006, S. 152 f.; DFG: Förder-Ranking 2009, Bonn 2009, S. 158 f.; eigene Berechnungen.

3. Fazit

Vollbracht wurde eine Systemintegration der ostdeutschen Wissenschaft, die jedoch nicht mit einer Sozialintegration einherging. Inhaltlich sind sowohl die Forschungsreputation als auch die forschungsbezogenen Leistungsdaten der ostdeutschen Wissenschaft – mit einigen lokalen und fachbezogenen Ausnahmen – seit den 90er Jahren und anhaltend bis heute eher unterdurchschnittlich. International werden die ostdeutschen Universitäten nur ausnahmsweise wahrgenommen. Kurz: Die ostdeutsche Wissenschaft stellt sich, nach ihrer radikalen Umgestaltung und zumindest einem Jahrzehnt in konsolidierten Strukturen, als überwiegend leistungsgedämpft dar.

Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Sehr verwegen wäre sicher die umstandslose Behauptung, bei höherem Verbleib des ostdeutschen Personals gäbe es heute eine deutlich bessere Leistungssituation. Aber: Der ostdeutsche Wissenschaftsumbau war maßgeblich durch das Instrument der Evaluation geprägt. Wollte man nun dem Vorgang mit ebendiesem Instrument zu Leibe rücken, dann wären zumindest die in Kauf genommenen politischen und moralischen Kosten ins Verhältnis zu den erzielten wissenschaftlichen Leistungsergebnissen zu setzen.

  1. 1Grundlagen dieser Zusammenschau sind: Werner Meske, Die Umgestaltung des ostdeutschen Forschungssystems. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1993; Hansgünter Meyer, Neugestaltung der Hochschulen in Ostdeutschland. Szenarien – Friktionen – Optionen – Statistik, Berlin 1993; Peer Pasternack, Geisteswissenschaften in Ostdeutschland 1995. Eine Inventur. Vergleichsstudie im Anschluß an die Untersuchung »Geisteswissenschaften in der ehem. DDR (Konstanz 1990)«, Leipzig 1996; Thomas Neie, »Die Entwicklung des Personalbestandes an den ostdeutschen Hochschulen 1990–1993«, in hochschule ost 1/1996, S. 133–148; Gertraude Buck-Bechler, Hans-Dieter Schaefer und Carl-Hellmut Wagemann (Hg.), Hochschulen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch zur Hochschulerneuerung, Weinheim 1997; Dirk Lewin, Datenalmanach zum Handbuch Hochschulen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1997; Anke Burkhardt, Stellen und Personalbestand an ostdeutschen Hochschulen 1995. Datenreport, Wittenberg 1997; Arno Hecht, Die Wissenschaftselite Ostdeutschlands. Feindliche Übernahme oder Integration?, Leipzig 2002.
  2. 2Ein Ergebnis vor allem des Wirkens der Treuhand-Anstalt, die wiederum »den Markt« dafür verantwortlich machte, der freilich dafür nichts kann: Es war die Unterkapitalisierung der Unternehmen – oft geoutsourcter Industrieforschungsabteilungen –, die ihnen den auf dem Technologiemarkt nötigen langen Atem versagte, und diese allgemeine Kapitalschwäche eines bislang planwirtschaftlich verwalteten Siedlungsgebietes kann »dem Markt« nicht direkt zugerechnet werden.
  3. 3Peter Gutjahr-Löser, »Die Umgestaltung der Universität Leipzig nach der Wende«, in Rektorat der Universität Leipzig (Hg.), Wissenschaftsstandort Leipzig. Die Universität und ihr Umfeld. Beiträge der Konferenz anläßlich des »Dies academicus« am 2. Dezember 1996, Leipzig 1997, S. 23–42, hier S. 33; Alfred Post, »Planung und Realisierung der neuen TU Dresden 1991 bis 1994. Gemeinsame Aufbruchjahre mit dem Rektor Günther Landgraf «, Supplement zu Europäisches Institut für postgraduale Bildung an der TU Dresden (Hg.), Prof. Dr. Dr. Günther Landgraf – der TU Dresden verbunden, Dresden 2005; Thomas Raiser, Schicksalsjahre einer Universität. Die strukturelle und personelle Neuordnung der Humboldt-Universität zu Berlin 1989–1994, Berlin/Baden-Baden 1998, S. 119.
  4. 4Jürgen Kaube, »Soziologie«, in Jürgen Kocka und Renate Mayntz (Hg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch, Berlin 1998, S. 255–301, hier S. 297.
  5. 5Vgl. Pasternack, Geisteswissenschaften in Ostdeutschland 1995 (Fn. 1).
  6. 6wie sie aus den Forschungen zu Karriereverläufen von Frauen in der Wissenschaft bekannt ist
  7. 7Sabine Helmers, Theoretische und methodische Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung, Berlin 1990, S. 13. Vgl. auch Peer Pasternack, »Wandel durch Abwarten. Ost und West an den ostdeutschen Hochschulen«, in Deutschland Archiv 3/1996, S. 371–380.
  8. 8»Nicht zuletzt aufgrund des großen Zeitdrucks«, so formulierte es zurückhaltend der seinerzeitige Generalsekretär des Wissenschaftsrates, »ist es nur teilweise gelungen, den internationalen Standards entsprechende Berufungsverfahren durchzuführen.« (Wilhelm Krull, »Im Osten wie im Westen – nichts Neues? Zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates für die Neuordnung der Hochschulen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR«, in Renate Mayntz (Hg.), Aufbruch und Reform von oben. Ostdeutsche Universitäten im Transformationsprozeß, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 205–225, hier S. 215.) Vgl. auch die instruktive qualitative Untersuchung des ostdeutschen Berufungsgeschehens der 90er Jahre von Karin Zimmermann, Spiele mit der Macht in der Wissenschaft. Passfähigkeit und Geschlecht als Kriterien für Berufungen, Berlin 2000.
  9. 9Zur Vermeidung von Missverständnissen: Es gab selbstredend auch Fächer, in denen sich dies anders verhielt.
  10. 10Inzwischen sind solche Unterscheidungen zwischen Ost- und Westherkunft nicht mehr sinnvoll: Die Generation, die nunmehr den akademischen Betrieb zu dominieren beginnt, hat ihre wissenschaftliche Sozialisation nach 1990 erfahren und bei ihren Stationen nicht mehr zwischen Ost und West unterscheiden müssen.
  11. 11Dieter Simon, »Lehren aus der Zeitgeschichte der Wissenschaft«, in Kocka und Mayntz (Hg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung (Fn. 4), S. 509–523, hier S. 509.
  12. 12Wolfgang Schluchter, »Der Um- und Neubau der Hochschulen in Ostdeutschland. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel der Universität Leipzig«, in hochschule ost 9/1993, S. 5–18, hier S. 13.
  13. 13Jakob Wegelin, »Geklonte Defizite. Ein Symposium der Evaluierer hält nach zehn Jahren ratlose Rückschau auf die Wissenschafts-Transformation in Ostdeutschland«, in Leibniz Intern Nr. 12, 30. 4. 2002, S. 13–15, hier S. 14 f.
  14. 14Jürgen Mittelstraß, »Unverzichtbar, schwer kontrollierbar. Die Strukturkommission – Alibi oder zeitgemäßes Instrument der Hochschulpolitik?«, in Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hg.), 10 Jahre danach, Essen 2002, S. 29–32, hier S. 32; vgl. auch Ders., »Laßt uns noch einmal über die Bücher gehen …«, in Leibniz intern Nr. 12, 30. 4. 2002, S. 10 f.
  15. 15Peer Pasternack, unter Mitarbeit von Daniel Hechler, Forschungslandkarte Ostdeutschland, Wittenberg 2007.
  16. 16Nachfolgende Prozentangaben sind ins Verhältnis zu den sozioökonomischen und wissenschaftsspezifischen Referenzdaten zu setzen: In den fünf östlichen Bundesländern (ohne Berlin) leben 16,3 % der deutschen Bevölkerung und werden 11,6 % des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts erzeugt. Der ostdeutsche Anteil am Bundesgesamt beträgt beim wissenschaftlich-künstlerischen Hochschulpersonals 15,6 %, bei der Universitätsprofessorenschaft 15,4 %, bei den Fachhochschulprofessuren 16,4 % und beim öffentlich finanzierten Wissenschaftspersonal (Hochschulen und außeruniversitäre Forschung) 16,4 %. Der Finanzierungsanteil der ostdeutschen Länder für hochschulische und außeruniversitäre Wissenschaft beträgt 15,9 % der von allen deutschen Bundesländern aufgewendeten Mittel.
  17. 17Daneben verfügen nur die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die TU Chemnitz und die Bergakademie Freiberg über jeweils mehrere Forschungsbereiche, die sich im oberen Leistungsdrittel der deutschen Universitäten platzieren können. Die Universität Potsdam, die Universität Leipzig, die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und die TU Ilmenau sind zumindest in Einzelbereichen in einem gesamtdeutschen Vergleichshorizont forschungsstark. (Vgl. Pasternack, Forschungslandkarte Ostdeutschland (Fn. 15), S. 118–122, 235 f.)
  18. 18Zu methodischen Details der Berechnung vgl. Peer Pasternack, »Exzellenz – Qualität – Solidität. Realistische Selbstwahrnehmungen und die Chancen der ostdeutschen Hochschulen«, in Frauke Gützkow und Gunter Quaißer (Hg.), Jahrbuch Hochschule gestalten, Bielefeld 2008, S. 63–79, hier S. 64.
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Heft 4 (2010)
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