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Neuer Förderschwerpunkt in Sachsen: Forschungsprojekte zu Reclams Archiv, Klostergeschichte und NS-Militärjustiz

Erstmals wurden im Jahr 2009 vom Freistaat Sachsen Forschungsprojekte in den Geistes- und Sozialwissenschaften in einem geschlossenen Programm gefördert. Es ist nun in einer ersten Förderrunde mit sechs Projekten angelaufen. Bis zu zwei Millionen Euro stehen dafür künftig pro Jahr bereit.

»Mit diesem neuen Programm wollen wir vor allem solche Forschungsvorhaben fördern, die durch Exzellenz und Zuschnitt zu längerfristigen Verbundoder Drittmittelprojekten mit einer anschließenden Förderung durch andere Programme wie beispielsweise DFG-Forschergruppe oder Graduiertenkolleg führen können«, sagte Sachsens Wissenschaftsministerin Prof. Sabine von Schorlemer bei der Vorstellung der Projekte.

Mit der wissenschaftlichen Begutachtung der Projekte war die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig betreut. Eine wissenschaftliche Kommission aus Mitgliedern unterschiedlicher Fachrichtungen unter der Leitung des Akademie-Präsidenten Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer hat die Ende Juni eingegangenen Bewerbungen bewertet.

Immerhin 103 Projektskizzen waren eingereicht worden, von denen in der ersten Förderrunde sechs Projekte gefördert werden, vier davon in Leipzig. Dazu gehört auch ein Projekt, das besonders die Freunde der alten Buchstadt freuen wird: »Leipziger Verlagsarchive. Reclam und Insel als Erinnerungsspeicher und Labor. Teilprojekt 1: Der Leipziger Reclam-Verlag«, eingereicht vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Im Dezember 2005 hatte der in Stuttgart heimische Mutterverlag die Leipziger Dependance geschlossen. Nur das Verlagsarchiv war noch in Leipzig geblieben und 2008 dem Institut für Kommunikations- und Medien- wissenschaft für drei Jahre zur Erforschung überlassen worden. Es enthält nicht die Archivbestände des Verlages aus der Zeit von 1829 bis 1945, sondern den Archivbestand des nach 1945 in Leipzig weiterarbeitenden Reclam Verlags, der die Ostdeutschen nicht nur mit den preiswerten Schätzen der Klassiker versorgte, sondern mit mutigen Ersteditionen auch seinen Teil dazu beitrug, dass die Leser in der DDR kontroverse Texte zur Gegenwart zu lesen bekamen.

»In diesen Beständen stecken Dutzende Forschungsprojekte«, sagte der Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis, als er das Bucharchiv im letzten Jahr Leipziger Journalisten vorstellte. Es ist eines der spannendsten Verlagsarchive, in denen das Büchermachen in DDR-Zeiten, der mühsame Kampf gegen Zensur, um Papierkontingente und Abdruckgenehmigungen nachvollziehbar ist. Hier haben große Autoren, Gestalter und Verleger ihre Spuren hinterlassen.

»Database and Dictionary of Greek Loanwords in Coptic« heißt ein Forschungsprojekt des Ägyptologischen Instituts der Universität Leipzig, das ebenfalls gefördert wird und am 1. April 2010 startet. Es ist nicht das einzige Projekt, das sich hier so anglophil gibt, als ob moderne Forschung nur noch mit englischen Titulaturen zu verkaufen wäre. Dabei geht es um ein durchaus nettes kleines Forschungsfeld: ein Wörterbuch der griechischen Lehnwörter im Koptischen.

Anglophil gibt sich auch das Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig, dessen Forschungsprojekt »Multiple Secularities« am 1. Januar 2010 starten soll. Ein Blick auf die Website des Instituts zeigt: Für gewöhnlich flüchtet man sich dort auch nicht in vage englische Titel für Forschungsprojekte. Man kann also nur vermuten, das hinter dem Begriff »Vielfache Weltlichkeiten« so ein wenig der Leipziger Schalk steckt, ein paar alte Denk-Gewohnheiten zu hinterfragen – denn man redet zwar viel und laut von den vielen Religionen auf Erden, tut aber gern so, als wären Atheisten ein einheitlicher Block. Doch auch das Nicht-Religiöse hat augenscheinlich viele Facetten und ist möglicherweise deutlich vielfältiger, als so mancher Prophet das erwarten würde.

Da klingt dann ein Projekt, mit dem die Fakultät Sozialwesen der HTWK Leipzig sich beworben hat, fast profan: »Vertrauen in den Sozialen Diensten – Innovationsstrategien für wachsende Herausforderungen im Sektor sozialer Dienstleistungen«. Beginn: 1. Januar 2010. Das klingt ein bisschen wie Kranken- und Altenpflege. Das dauert dann bestimmt noch ein paar Jahre, bis man unter dem Begriff »Soziale Dienste« auch beginnt, Verwaltung, ÖPNV und Kommunalversorgung zu begreifen.

Spät kommt denn ein Forschungsthema, das das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden angemeldet hat: »Lebensläufe und Spruchpraxis von Wehrmachtsrichtern«. Beginn: 1. Januar 2010. Ein Thema, das gerade wieder hochaktuell wurde. Erst am 8. September 2009 hob der Bundestag alle NS-Urteile wegen »Kriegsverrat« auf, 64 Jahre nach Kriegsende. 64 Jahre nach dem Wirken von Wehrmachts- und Marinerichter wie Hans Karl Filbinger, die zuweilen auch in der Bundesrepublik noch steile Karrieren erlebten.

Die NS-Militärjustiz fällte laut Hochrechnungen etwa 30 000 Todesurteile, von denen etwa 23 000 vollstreckt wurden. Wenn das Institut tatsächlich gründlich forscht, könnte das ein weiteres sehr finsteres Kapitel der NS-Herrschaft und der Folgezeit ergeben.

Da klingt dann richtig friedlich, was das Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden erstellen möchte: ein »Sächsisches Klosterbuch«. Beginnen will man damit am 1. Januar 2010. Vielleicht wird es ja auch eine Publikation für breitere Leserschichten. Denn eine umfassende Klostergeschichte liegt für den Freistaat noch nicht vor. Man kennt zwar ein paar malerische Ruinen und ein paar Folgeeinrichtungen. Aber wie es war, als in Leipzig zum Beispiel allein vier Klöster ansässig waren und Augustiner, Dominikaner, Franziskaner und Zisterzienserinnen das Stadtleben bereicherten, das steht wohl in dem ein oder anderen alten Wälzer – ist aber systematisch noch nicht aufgearbeitet.

Und die sechs Projekte werden nicht die letzten sein, die der Freistaat so fördern will. Zum 31. März 2010 und zum 30. September 2010 können weitere Projektskizzen bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig eingereicht werden, teilt das Wissenschaftsministerium mit. Es sollen auch solche Forschungsvorhaben gefördert werden, die über die Erfüllung anspruchsvoller Qualitätskriterien hinaus regionale und überregionale Kooperationen zwischen Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen in den Geistesund Sozialwissenschaften unterstützen. Die Laufzeit der Projekte soll zwei bis maximal drei Jahre betragen.

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Heft 4 (2010)
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1867-7061

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