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Säkularisierung und Religion

Die Erfahrung einer zunehmenden Säkularisierung des neuzeitlichen Lebensgefühls und des neuzeitlichen Denkens wirft die Frage auf, welche Bedeutung Religion und Glaube für die Zukunft haben. Mit dieser Frage hat uns nicht nur der in der DDR-Zeit staatlich verordnete Marxismus konfrontiert. Sie wird nun auch vom sogenannten »neuen Atheismus« aufgeworfen.1 Religion und Glaube seien nicht nur wissenschaftlich überholt, sondern sie seien für Mensch und Gesellschaft schädlich und irreführend. Das wird erneut verkündet und von den Lesern gern konsumiert.2

In diesem Zusammenhang ist eine Unterscheidung wichtig, die im theologischen Diskurs bereits vor 50 Jahren getroffen wurde: die Unterscheidung zwischen »Säkularisierung« und »Säkularismus«.3 Unter »Säkularisierung« ist dabei der Vorgang der Entgötterung der Welt zu sehen, wie er sich schon im biblischen Schöpfungsbericht zeigt. Sonne, Mond und Sterne sind keine Götter mehr (wie häufig in der Antike), sondern werden nun als Geschöpfe Gottes betrachtet. Das gibt sie frei für eine welthafte, »säkulare« Betrachtung und Untersuchung. In diesem Sinne ist die neuzeitliche Naturwissenschaft auch als Ergebnis des biblischen Glaubens anzusehen. Im Mittelalter gilt Albert der Große als der Inaugurator neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens, sein Schüler Thomas von Aquin hat das durch die Benutzung der Philosophie des Aristoteles untermauert.

Von diesem Vorgang der Säkularisierung ist das Phänomen des neuzeitlichen »Säkularismus« zu unterscheiden, der einen Transzendenzbezug von Welt und Mensch überhaupt bestreitet. Philosophisch könnte man hierbei an den von Nietzsche beschriebenen »Tod Gottes« denken.

Dieser »Säkularismus« hat sich insbesondere in Europa ausgebreitet, er bestimmt das Lebensgefühl und das Denken vieler Menschen. Freilich zeigen Umfragen, dass die Annahme einer Transzendenz durchaus noch weit verbreitet ist. Aber es ist kein Geheimnis, dass (etwa im Unterschied zu Amerika) der Glaube an Gott, von Richard Dawkins »Gotteswahn« genannt, immer stärker zurückgedrängt wird, jedenfalls aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschaltet werden soll.4

Freilich haben führende Vertreter der Naturwissenschaften diesen Überschritt von der Säkularisierung zum Säkularismus nicht mit vollzogen. In der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wird hier zumindest ein offenes Problem gesehen.5

Die Beurteilung dieser Entwicklung kann natürlich ganz unterschiedlich ausfallen. Dass sich darin auch ein kultureller Wandel vollzieht, wird von niemandem bestritten. Die Frage ist dann lediglich, ob dieser Wandel als Verlust oder als Fortschritt zu begreifen ist. Diese Frage hat eine anthropologische und eine gesellschaftliche Dimension. Die anthropologische Dimension unserer Frage soll im Folgenden durch eine Skizze des biblischen Menschenbildes in den Blick gerückt werden (1), die gesellschaftliche Dimension durch einen Rekurs auf die Diskussion, die der Gottesbezug des deutschen Grundgesetzes und die Überlegungen zu einer europäischen Verfassung ausgelöst haben (2). Ein kurzer Ausblick (3) steht am Schluss.

1. Zum biblischen Menschenbild

Die menschliche Geschichte beginnt nach dem Zeugnis der ersten Kapitel der Bibel6 mit einem Brudermord (Gen 4, 8). Dieser ersten Katastrophe folgen sodann noch zwei weitere: die Sintflut als Folge der menschlichen Bosheit (Gen 6–9) und der Turmbau zu Babel als Form menschlicher Hybris mit dem Ergebnis der Sprachenverwirrung (Gen 11). Besonders die letztere dürfte relevant für die uns heute bedrängenden Fragen und Probleme sein. Der Mensch, der in seiner Allmachtsphantasie seine Grenzen zu überschreiten versucht, riskiert seine Kommunikationsfähigkeit.

Was nach biblischer Überlieferung positiv vom Menschen zu sagen ist, bündelt sich im ersten Schöpfungsbericht (Gen. 1), woran dann etwa der Psalm 8 anknüpft.

Die Erschaffung des Menschen ist nach Gen 1, 26 ff. schon dadurch von den vorangegangenen Schöpfungswerken unterschieden, dass sie mit einem Selbstgespräch Gottes beginnt. Der hier begegnende Plural »Lasset uns Menschen machen« hat immer wieder zum Nachdenken herausgefordert. In diesem Selbstgespräch wird gleich einleitend die besondere Würde des Menschen gegenüber den anderen Geschöpfen herausgestellt, indem der Mensch (und eben nur der Mensch) als Ebenbild Gottes qualifiziert wird.

Diese besondere Würde des Menschen besteht vor allem darin, dass er als Herrscher über die übrige Kreatur angesehen wird und den Auftrag erhält, sich die Erde untertan zu machen (Gen 1, 28). Dazu kommt, dass er als Mann und Frau geschaffen ist und wie zuvor schon die Tiere die Aufgabe hat, sich zu vermehren.: »Schöpfend ausieser seiner Würde führen uns gegenwärtig in Aporien. Ist die Herrschaft des Menschen über die nichtmenschliche Welt nicht zu einer unser Leben gefährdenden Ausbeutung mutiert? Und stößt der Auftrag, sich zu vermehren, nicht mehr und mehr an die Grenzen der Kapazität unserer Welt? Interessant ist noch eine Einzelheit: Im Schöpfungsmythos bleibt die Nahrung des Menschen auf pflanzliche Kost beschränkt (Gen 1, 29), die Ernährung auch mit Tieren erscheint erst als Gebot nach der Sintflut (Gen 9, 3).

Die besondere Würde des Menschen als Gottes Bild ist in der Frömmigkeit des alten Israel lebendig geblieben. Ein Zeugnis ist Psalm 8, wo es vom Menschen heißt: »Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan« (Ps 8, 6–7).

Es ist also ein dialektisches Bild vom Menschen, das wir vom biblischen Zeugnis her erhalten: Seine Hoheit korrespondiert mit seiner Sünde und seinem Hochmut.

Dieser Dialektik entspricht ein weiterer Zug des biblischen Menschenbildes. Es ist Gottes Absicht, den Menschen zu retten, zu erlösen. Eine Überwindung seiner Gefährdung ist dem Menschen nicht durch eigene Kraft möglich. Sie ist nur als Geschenk Gottes erfahrbar und besteht primär in der Wiederherstellung des schöpfungsmäßigen Gottesverhältnisses. Die Alten haben diese Absicht bereits im sogenannten Protevangelium Gen 3, 15 angezeigt gesehen. Deutlicher ist diese rettende Absicht Gottes im sogenannten Kainszeichen (Gen 4, 15) und dann vor allem im Symbol des Regenbogens nach der Sintflut (Gen 9, 12) zum Ausdruck gebracht. Geschichtliche Greifbarkeit erlangt dieser Zug des biblischen Menschenbildes in der Geschichte des – in Abraham begründeten – Bundes Gottes mit seinem Volk, das er erwählt und rettet. Dieser Bund erfährt neutestamentlich die universale Erweiterung auf die ganze Menschheit hin, für deren Sünden Jesus Christus gekommen und gestorben ist.

Auf das Menschenbild bezogen, heißt das, dass der Mensch in seiner Ambivalenz Gegenstand der errettenden Liebe Gottes ist. In sich selbst betrachtet gilt er als erlösungsbedürftig und zugleich als erlösungswürdig. Durch den Geist Gottes wird er neu geschaffen und dem Bilde Christi gleichgestaltet (Röm 8, 9; 2 Kor 3, 18).

Ein entscheidendes Merkmal dieses errettenden Handelns Gottes ist es, dass der Mensch als Bundespartner Gottes verpflichtet wird, die Ordnung des Bundes einzuhalten, also alttestamentlich: nach dem guten Gesetz Gottes zu leben, sein Leben auf den Gehorsam gegenüber Gott auszurichten. Dieses Gesetz wird im Neuen Testament nicht aufgehoben, sondern es wird vertieft und auf seinen Kern hin ausgelegt: die Liebe zu Gott und dem Menschen (Röm 13, 8–10, vgl. Mt 22, 37–39). Die aus dieser Konzentration hervorgehende neue Lebensordnung ist vor allem in der Bergpredigt beschrieben. Hier wird auch die Gesinnung des Menschen orientiert – in Auslegung der alttestamentlichen Rechtsvorschriften. Es wird über Feindesliebe als Weg zum Frieden, über eine neue Art zu beten und über Sorglosigkeit gesprochen. »Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist«, der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten (Mt 5, 48 u. 45).

Es ist freilich gleichzeitig die Überzeugung des biblischen Menschenbildes, dass auch Christen noch unterwegs sind, dass sie das Ziel noch nicht ergriffen haben (Phil 3, 12 ff.), dass ihr Leben ausgerichtet ist auf die Vollendung in der Ewigkeit. Für die Erhaltung von Recht und Frieden in der Welt ist die staatliche Gewaltordnung unumgänglich (Röm 13, 1 ff. bes. 2.4.).

Ein letzter zu erwähnender Zug des biblischen Menschenbildes ist sein sozialer Charakter. Der Mensch ist als Mann und als Frau geschaffen. Gott rettet ihn in der Geschichte des von ihm erwählten Volkes, nicht als reines Individuum. Die Erlösung durch Christus und den Geist stellt ihn sofort hinein in die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern, in die Gemeinde der Christen. Er ist nicht ein Einzelner, der sich dann erst entschließt, Glied der Gemeinschaft zu sein. Sondern er wird von vornherein als Glied der Gemeinschaft, als Mitmensch, in den Blick genommen. Erst daraufhin gilt er natürlich auch als Einzelner vor Gott. Das alttestamentliche Gesetz und die neutestamentliche Bergpredigt ordnen diese gemeinschaftliche Existenz, innerhalb derer auch gilt, dass der Einzelne vor Gott angemessen lebt. Das Grundgebot der Nächstenliebe ist sozusagen ontologisch begründet.

Für unsere Frage nach der Säkularisierung ergibt sich zunächst einmal die Einsicht, dass der Mensch in die Welt gestellt ist und dort, in seinem welthaften Tun, zur Verantwortung gezogen wird. Diese Verantwortung wird von ihm sowohl im zwischenmenschlichen Bereich wie im Verhältnis zu dem »Haus«, das ihm zum Leben gegeben ist, erwartet. Dabei weist die Verantwortung ›vor Gott‹ darauf hin, dass er in allem, was ihm zu tun aufgetragen ist, letztlich gebunden bleibt – gebunden an Vorgaben, über die er nicht verfügen kann. »Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist« (Micha 6, 8) – er hat es nicht erst zu erfinden und selbst festzulegen.

Angesichts der Gefährdungen, die gegenwärtig von den Möglichkeiten ausgehen, die der Mensch selbst geschaffen hat, scheint es vernünftig zu sein, an die Grenzen dessen zu erinnern, was uns erlaubt ist, und an das, was uns als Rahmen der Entfaltung unseres Menschseins vorgegeben ist. Natürlich setzt diese Einsicht nicht von vornherein ein Bewusstsein um eine Transzendenz voraus. Andererseits jedoch könnte die Annahme einer Verantwortung vor einer transzendenten Größe – »Gott« genannt – an die Unabdingbarkeit der Bindung an Vorgegebenes erinnern. Damit ist die Frage noch nicht entschieden, wo nun endgültig die Grenzen verlaufen, deren Überschreitung dem Menschen zum Unheil gereicht. Andererseits haben wir gerade im 20. Jahrhundert gelernt, jenem Optimismus gegenüber misstrauisch zu sein, der noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Unbegrenztheit der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten entgegengebracht wurde.7 Das Problembewusstsein im Blick auf die »Dialektik der Aufklärung«8 ist zunehmend gewachsen. Die Erinnerung an das dem Menschen als Geschöpf vorgegebene Mandat ist keine Rückführung in eine die Säkularisierung leugnende Unmündigkeit, sondern trägt heute dazu bei, das Überleben der Menschen und der Welt überhaupt zu ermöglichen. Die Nichtbeachtung der eigenen Begrenztheit hat schon nach der biblischen Sage beängstigende Folgen9, an denen wir bis heute zu leiden haben.

2. Zur Frage eines Gottesbezuges in der Verfassung

Das Problem des Säkularismus ist nicht nur eine Frage der Anthropologie, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das soll im Blick auf die Diskussion der letzten Jahre um den Gottesbezug einer etwaigen europäischen Verfassung verdeutlicht werden.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet sich in der Präambel ein ausdrücklicher Gottesbezug. Dort heißt es zu Beginn: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen [...] hat das Deutsche Volk [...] dieses Grundgesetz [...] beschlossen.« Ein solcher Gottesbezug ist nach kontroverser Diskussion nicht in den ursprünglich vorgesehenen europäischen Verfassungsvertrag (2003) und in den Vertrag von Lissabon (2007/2009) aufgenommenVaticanum verwiesen, dessen Plädoyer für die Religions dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen Rechte des Menschen, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben [...]«. Es ist dies – ebenso wie die Formulierungen in Artikel 17 des Arbeitsvertrages zur EU-Verfassung, die den Status der Kirchen betreffen – ein Kompromiss vor allem mit dem französischen laizistischen Selbstverständnis, dem Verfassungen wie der Griechenlands oder Irlands deutlich entgegenstehen.

Die Argumente gegen einen ausdrücklichen Gottesbezug in einer europäischen Verfassung liegen auf der Hand.

Eine Verfassung wird für alle Menschen geschrieben. Es hat sowohl in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern eine Entwicklung stattgefunden, deren Ergebnis eine steigende Zahl von Menschen ohne jede religiöse Bindung ist. Die Zahl der Konfessionslosen in Ostdeutschland wurde 2001 mit mehr als 70 % angegeben. Gesamtdeutsch gesehen bildet die Zahl derer, die in irgendeiner Form an Gott glauben, zwar noch die Mehrheit. Aber wäre es trotzdem nicht ehrlicher, in einer Verfassung als einer für alle gleichermaßen geltenden Ordnung keinen Gottesbezug festzuschreiben, sondern die Religion, die gewiss des Schutzes des Staates bedarf, von vornherein als Privatsache zu betrachten und ihren Einfluss aus allen staatlich-öffentlichen Einrichtungen und Maßnahmen herauszunehmen? Dies wäre der Weg des Laizismus, wie er in Frankreich beschritten worden ist. Das deutsche Grundgesetz hat diesen laizistischen Weg nicht beschritten – das ist nicht nur aus der Formulierung der Präambel sichtbar geworden, sondern auch aus anderen Verfassungsbestimmungen. Dazu kommen die Staat-Kirche-Verträge in den deutschen Ländern. Dies ist immer wieder kritisch angefragt worden, auch von theologischer Seite. In Polen hat man in der Präambel der Verfassung einen Kompromiss gefunden; so beinhaltet die Präambel der Verfassung von 1997 (2001) die Formulierung: »beschließen wir, das polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten [...]«.

Sodann: Die Verfassung ist ein »weltlich Ding«. »Dem weltlichen modernen Staat kann kein Gottesbezug höhere Weihen verschaffen.«10 Auch ein Verfassungsvertrag für Europa ist ein ›weltlich Ding‹, selbst wenn er Kirchen und Religionsgemeinschaften den gebotenen Respekt bezeugt.11

Diesen und anderen kritischen Fragen an einen Gottesbezug in der Verfassung ist der positive Sinn dieses Bezugs, also das, was man seine »Leistung« nennen könnte, gerade auch im Blick auf das staatlich organisierte, sich in der Verfassung aussprechende Gemeinwesen gegenüberzustellen. Worauf weist ein Gottesbezug hin? Dies ist wenigstens in dreierlei Hinsicht anzudeuten:

(a) Wenn in der Präambel von dem »Bewusstsein der Verantwortung vor Gott« die Rede ist, dann ist damit auf eine Instanz und auf einen Horizont verwiesen, die eine Verabsolutierung des Staates unmöglich machen. Das politische Gemeinwesen ist sekundär gegenüber dem, vor dem es sich zu verantworten hat. Hier ist eine Begrenzung der staatlichen Gewalt und eine Absage an totalitäre Staatsmodelle im Blick.12 Die Väter des Grundgesetzes hatten den Staatstotalitarismus der NS-Zeit vor Augen und wollten mit dem Hinweis auf die Verantwortung vor Gott ein solches totalitäres Selbstverständnis des Staates, das den Menschen zu seinem Mittel degradieren und über ihn verfügen kann, im Ansatz unmöglich machen.

Zugleich sollte mit dieser Formulierung und dann mit den entsprechenden Einzelbestimmungen der Verfassung ausgeschlossen werden, dass der Staat sich als weltanschauliche Instanz versteht. Das hat seine zunehmend aktuelle Bedeutung im Gegenüber zum kommunistischen Weltanschauungsstaat bekommen, der seine Bürger, so weit es ging, auf den Atheismus festlegen wollte. Das gilt gleichzeitig aber auch gegenüber einem Staatsverständnis, dem zufolge der Staat sich eine religiös bindende Autorität anmaßt und den Bürgern eine religiöse Weltanschauung oktroyieren will. Die »Verantwortung vor Gott«, die gekoppelt ist mit der »Verantwortung vor den Menschen«, hat den Sinn, den Staat als säkulares Phänomen auszuweisen, das für ein menschenwürdiges Zusammenleben in einem Gemeinwesen zu sorgen hat, aber dabei gerade die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des Bekenntnisses der Menschen (Art. 4) schützt und garantiert. Der Hinweis auf Gott in der Präambel des Grundgesetzes hat also den Sinn, die »Grenzen des Staates«13 als eines vorläufigen, weltlichen, beschränkten Phänomens in Erinnerung zu rufen; die im Staat Handelnden indessen an ihre Verantwortung vor diesem »Anderen« und zugleich an ihre Verantwortung vor den Menschen, die sich zu diesem Staat verbinden, in Erinnerung zu rufen.

Genau diese Absicht des Gottesbezugs unterscheidet das hier zum Ausdruck kommende Gottesverständnis von einem solchen, das den religiösen Gehorsam mithilfe staatlicher Macht durchsetzen will oder auch eine Staatskirche befürwortet. Insofern gehören der Gottesbezug der Präambel und der Artikel 4 wechselseitig zusammen und bedingen einander. Der Gottesbezug entmachtet bzw. »entabsolutiert« den Staat.

(b) Auf das Gleiche laufen zwei weitere »Leistungen« des Gottesbezuges hinaus. Wenn es im ersten materialen Satz der deutschen Verfassung (in Art. 1,1) heißt »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, so zeichnet sich diese Unverfügbarkeit dadurch aus, dass sie selbst nicht von Menschen verliehen ist. An dieser Unantastbarkeit des Menschen und seiner Würde hat der Staat seine eigentliche Grenze. Vielmehr ist es seine Aufgabe und Verpflichtung, diese Würde »zu achten und zu beschützen« (Art. 1,1). Darin ist die »Verantwortung vor den Menschen« begründet, die zusammen mit der Verantwortung vor Gott zu Beginn der Präambel genannt wird. Der Verfassung liegt ein Menschenbild zugrunde, das den Menschen nicht lediglich als Produkt innerweltlicher Evolution und Funktion betrachtet, sondern seine Würde in so etwas wie einer Transzendenzbeziehung sieht, weshalb er niemals zum bloßen Mittel eines »höheren Zweckes« degradiert werden darf. Dieser Grundsatz ist wiederum angesichts der Inhumanität des vorangegangenen NS-Regimes formuliert worden. Aber er dürfte in zunehmendem Maße auch in einer Welt gelten, die den Menschen ökonomisch und technisch zu verrechnen droht.

(c) Die »Leistung« des Gottesbezuges in der Präambel der Verfassung besteht schließlich auch in der Begründung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Art. 3) und der Toleranz, die zu den Grundprinzipien der Verfassung gehört (z. B. Art. 5). Dies hängt nicht zuletzt mit der Geschichte des christlichen Gottesgedankens zusammen. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass im Gefolge der Reformation (und der um sie geführten gewaltsamen Auseinandersetzungen) die Bindung und Freiheit der Gewissensentscheidung Eingang in das europäische Staatsrecht gefunden hat.14 Man hat auch auf das II. Vaticanum verwiesen, dessen Plädoyer für die Religionsfreiheit in der tiefen Achtung vor der Heiligkeit des Gewissens begründet ist (eine alte katholische Lehre). Diese Freiheit des – allein in Gott gebundenen – Gewissens hat nicht nur eine individual-persönliche Seite, sondern ist auch ein politischgesellschaftliches Prinzip, das wiederum alle staatliche Gewalt an ihre Grenzen erinnert. Verbunden mit der Gleichheit aller vor dem Gesetz haben wir hier auch die Grundlage aller Demokratie vor uns, in der – wenigstens dem Prinzip nach – bei allen politischen Maßnahmen und Entscheidungen dem Gewissen der Bürger gefolgt werden muss und im Parlament dem Gewissen der Abgeordneten.

Diese »Leistungen« einer Orientierung an den religiösen Voraussetzungen des Christentums gehören aber nun auch zu den tragenden Elementen der Identität Europas. Denn Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft oder eine politische Gesamtheit. Europa hat seine Identität nicht zuletzt durch seine im Christentum wurzelnde Kultur. Das kann und darf nicht gegen andere Kulturen ausgespielt werden, schon gar nicht politisch. Aber es darf als eine gute Gabe und Tradition erinnert und in Anspruch genommen werden.

Joseph Weiler, ein amerikanischer Jurist jüdischen Glaubens, hat ein bemerkenswertes Buch über das christliche Europa geschrieben.15 Darin sagt er (im Blick auf die Diskussion über eine europäische Verfassung): In dem Moment, wo Europa seine Identität sucht, gibt es keinen Raum für Gott mehr. »Für manche ist das die richtige Entscheidung. Für andere ist es die klassische Hybris der modernen Aufklärung. Wäre es demgegenüber nicht angemessen, wenn sich in diesem Dokument neben den Menschen als stolzen Herrn der eigenen Bestimmung Raum für jene Demut fände, die beispielsweise das deutsche Volk, durch seine bittere historische Lektion nüchtern geworden, in der Präambel seiner Verfassung auszudrücken wusste?«16 Er wirft den Europäern vor, dass sie ihr Christentum, das doch ihre kulturelle Identität prägt, schamhaft verschweigen.

Dass die Leistungen der christlichen Tradition auch dort anzutreffen sind, wo der Verfassung ein laizistisches Modell zugrunde liegt, ist natürlich richtig. Das gilt auch für die entsprechenden Bestimmungen der europäischen Verfassung. Es kommt aber wohl nicht von ungefähr, dass auch im Frankreich von 1789 (und damit indirekt in dem heutigen laizistischen Frankreich) ein »höchstes Wesen« im Spiel ist.17 Das Prinzip »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« gründet seinerseits in Wurzeln, die ohne einen religiösen Hintergrund nicht zureichend verstanden werden können.

Um einen Absolutheitsanspruch des Staates abzuwehren, muss auf die Grenze eines rein säkularen Staatsverständnisses aufmerksam gemacht werden. Wird das erkannt, begreift man das Problem des Überschritts von einer sachgerechten Säkularisierung zum neuzeitlichen Säkularismus. Es ist angesichts der Diktaturen des 20. Jahrhunderts sichtbar geworden, zu welchen Formen der Menschenverachtung eine Absolutsetzung des Staates führen kann. Dabei ist natürlich nicht zu bestreiten, dass auch im Namen der Religion Formen der Unmenschlichkeit praktiziert worden sind. Hier haben Kirche und Staat gleichermaßen ihre Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten. Die Frage wäre dann nur, ob der Ausweg aus diesen schlimmen Abwegen der absolute Säkularismus sein sollte. Die Gefahren, die für das Menschsein des Menschen von ihm ausgehen, sind unübersehbar. Daher kann es nur darum gehen, zu einer Säkularität zurückzukehren, die sich ein Wissen um eine letzte Bindung und Unterordnung bewahrt hat. Dass der Mensch knien und anbeten und danken kann, gehört zu seiner Würde, ebenso wie ein Staatswesen seine Würde auch dadurch bewahrt, dass ein Präsident oder ein Kanzler sich vor Gott und den Menschen verneigt. Dies ist natürlich keine Garantie für Menschlichkeit, aber doch ein Symbol dafür, dass dem Menschen und der staatlich verfassten Gesellschaft Grenzen gesetzt sind, die nicht zu beachten zerstörerische Konsequenzen hat.

3. Ausblick

Die Frage nach dem Transzendenzbezug von Mensch und Gesellschaft ist keine nebensächliche Frage. Spätestens seit dem ersten (und bislang einzigen) Einsatz von Atomwaffen im August 1945 steht die Frage im Raum: Dürfen wir alles tun, was in unseren menschlichen Möglichkeiten liegt? Auch in anderen Bereichen der Technik und der Ökonomie stehen wir oft vor dieser Frage. Es ist letztlich die Frage, was der Würde des Menschen entspricht – nicht nur im Blick auf sein natürlich-biologisches Dasein, sondern auch im Blick auf seine Würde als Person. Die Umweltbelastung, die Gen-Technik, die Vergnügungsindustrie, die Finanzkrise haben in unübersehbarer Weise auf die Grenzen des Erlaubten hingewiesen. Es ist dies zuvörderst eine ethische Frage, die allerdings durchaus Konsequenzen für Gesetzgebung und Rechtsprechung hat. Der Hinweis darauf, dass zur Abwendung der offensichtlichen Gefahren nicht unbedingt die Annahme einer Transzendenz erforderlich sein muss, hat sein Recht. Die Annahme der Wirklichkeit Gottes macht aber sehr grundsätzlich auf die hier gegebenen Grenzen aufmerksam und leitet darüber hinaus dazu an, des Geheimnisses des Menschen und der Welt innezuwerden und vor diesem Geheimnis stillzustehen. Die Rätsel der Welt und des Menschen soll die Wissenschaft zu lösen versuchen, und die Fortschritte der Technik und der Beherrschung der Welt sind staunenswert und können, richtig verstanden und angewandt, das der Menschenwürde Entsprechende fördern. Wenn sie indessen die Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen und seines »Hauses«18 attackieren, ist freilich die hier bestehende Grenze überschritten.

  1. 1Vgl. vor allem Richard Dawkins, The God Delusion, Boston 2006 (= dt. Der Gotteswahn, Berlin 2007). – Zur Kritik vgl. u. a. Richard Schröder, Abschaffung der Religion. Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg 2008.
  2. 2Das Buch von Dawkins galt nach seinem Erscheinen als Bestseller.
  3. 3Zu denken ist insbesondere an Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 2. Aufl., Stuttgart 1958, dort vor allem S. 142 ff.
  4. 4In einer Resolution des Senats der Universität Leipzig zur Frage der Nutzung der neuen Universitätskirche/Aula vom Herbst 2008 wird Religion (wie schon vom Marxismus) zur reinen Privatsache erklärt.
  5. 5Es wird vor allem diskutiert in der Kommission »Wissenschaft und Werte«.
  6. 6Weitere ausführlichere Informationen zum biblischen Menschenbild finden sich u. a. bei Hans-Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 7. Aufl., Gütersloh 2002; Claus Westermann, Der Mensch im Alten Testament, hg. von Hans-Peter Müller, Münster/ Hamburg u. a. 2000; Bernd Janowski und Kathrin Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel, Freiburg 2009, hier besonders der einführende Aufsatz; Eckart Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen/Basel 2006 (= UTB 2768).
  7. 7Man denke u. a. an Ernst Haeckel, Die Welträthsel, Bonn 1899.
  8. 8Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt a. M. 1969. Hier wird eindrucksvoll auch auf die negativen Folgen der Aufklärung hingewiesen.
  9. 9In Gen 11 erfolgt nach dem Turmbau die Zerstörung der sprachlichen Kommunikationsmöglichkeit der Menschen (Gen 11, 7.9).
  10. 10Helmut Görlich, »Der Gottesbezug in Verfassungen«, in Helmut Görlich, Wolfgang Huber und Karl Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug?, Leipzig 2004 (= Forum ThLZ 14), S. 43.
  11. 11Es kam in der Debatte noch ein weiteres theologisches Argument hinzu. Es betrifft die Gottesvorstellung, wie sie hinter der Formulierung der Präambel steht. Ist hier wirklich und eindeutig Gott als der Vater Jesu Christi im Blick, oder ist das Wort »Gott« an dieser Stelle offen für die verschiedensten theologischen Deutungen? Hinter ihm könnte sich ein unbestimmter religiöser Pluralismus verbergen, der keine Eindeutigkeit aufweist. Dann wäre dieser Gottesbezug z. B. offen für eine Gottesvorstellung im Sinne eines mit Macht ausgerüsteten Gottesstaates, wie wir ihn aus manchen islamischen Ländern kennen. Auch wegen der mangelnden Eindeutigkeit des Gottesbegriffs hat man also – etwa in der Tradition Karl Barths – den Gottesbezug der deutschen (und einer etwaigen europäischen) Verfassung kritisiert.
  12. 12Vgl. Brun-Otto Bryde, Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl., Bd. 1, München 2000.
  13. 13So der Titel einer berühmten Schrift des früheren evangelischen Bischofs von Berlin, Otto Dibelius, von 1949 (Berlin, Wichern-Verlag).
  14. 14Vgl. Wolfgang Huber, »Der christliche Glaube und die politische Kultur Europas«, in Goerlich u. a., Verfassung ohne Gottesbezug? (Fn. 10), S. 45–60.
  15. 15Joseph H. H. Weiler, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Salzburg/München 2004.
  16. 16Ebd., S. 58.
  17. 17Dieser Bezug findet sich in der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789«, welche die heutige französische Verfassung in ihrer Präambel ausdrücklich erwähnt.
  18. 18Vom griechischen Begriff »oikos« ist das aktuelle Stichwort »Ökologie« abgeleitet.
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Heft 5 (2010)
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