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Versprechen zwischen Politik und Wissenschaft – 
eine Tragikomödie1

Vorbemerkung


Dies ist kein Fachvortrag im strengeren Sinne, wie er sich an diesem Ort der Wissenschaft wohl gehört hätte. Dazu wäre ich, der ich seit 24 Jahren eher in der Politik als in einer konkreten Wissenschaftsdisziplin zu Hause bin, auch gar nicht in der Lage. Ich möchte vielmehr über einige durchaus ernüchternde und alarmierende Erfahrungen mit gegenseitigen Versprechen sowohl der Politik als auch der Wissenschaft berichten, die ich einerseits vor 1989 als Dozent für Theoretische Chemie an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig und andererseits nach der deutschen Wiedervereinigung in der Wissenschaftspolitik und auch als Abgeordneter im Sächsischen Landtag gemacht habe.


1. Das Versprechen als Terminus technicus der Spieltheorie

Zwischen Politik und Wissenschaft besteht seit jeher ein enges Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis, das vor allem durch Verteilungskonflikte geprägt ist. Zwischen allen Beteiligten – den zuständigen Ministerien, den Hochschulen und den außeruniversitären Forschungs- und Bildungseinrichtungen – herrscht permanent Uneinigkeit über die sachgerechte Aufteilung der begrenzten staatlichen Ressourcen. Dabei geht es neben Budgets, Sachmitteln und Mitarbeiterstellen auch um andere, zunächst immaterielle Anreize wie etwa Status- und Prestigesymbole.2 Parallel dazu spielen seit einiger Zeit auch wieder Anerkennungskonflikte3 eine nicht zu unterschätzende Rolle.


Zur Modellierung sozialer Konfliktsituationen und Entscheidungsprozesse, die nicht nur vom Handeln eines Einzelnen sondern von mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Akteuren abhängen, wurde in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der Mathematik die so genannte Spieltheorie4 entwickelt. Dabei handelt es sich nicht um ein geschlossenes Theoriengebäude, sondern um ein Arsenal von Analyseinstrumenten, deren logisch-mathematische Verknüpfung zu Wahrscheinlichkeitsaussagen über den zu erwartenden Ausgang des Konfliktlösungsprozesses führt. Spieltheoretische Ansätze wurden zunächst vor allem in den Wirtschaftswissenschaften erfolgreich angewendet, spielen inzwischen aber auch in der Soziologie, der Politologie und in den Naturwissenschaften, zum Beispiel der Biologie und der Theoretischen Chemie eine Rolle.


In der Spieltheorie zählt das Versprechen neben der Drohung, der Warnung und der Beteuerung zu den sogenannten strategischen Zügen. Unter strategischen Zügen versteht man Handlungen eines Mitspielers, die zum Ziel haben, die Vorstellungen der Gegenspieler über das eigene künftige Agieren zu verändern. Sie sollen also die Gegenspieler so beeinflussen, dass sich deren Aktionen zum eigenen Vorteil entwickeln. Für den Terminus Versprechen findet man in Lexika und im Internet diverse Definitionen, die sich etwa wie folgt zusammenfassen lassen: Ein Versprechen ist eine einseitige (eigentlich verbindliche) Absichtserklärung oder Zusicherung einer Handlungsweise. Es findet zwischen zwei oder mehr handelnden Personen oder Parteien statt, von denen mindestens eine sich darauf festlegt, in Zukunft etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen.5 Die Spieltheorie kennt vor allem zwei Arten von Versprechen: 1. das erzwingende Versprechen, das eine bestimmte Handlung des Gegenspielers an eine Belohnung bindet, und 2. das abschreckende Versprechen, das eine unerwünschte Handlung verhindern soll, zum Beispiel durch eine Straf­androhung. Daneben gibt es noch eine Abart dieser beiden Haupttypen, nämlich 3. das leere Versprechen, das dadurch charakterisiert ist, dass eine oder beide bzw. alle Seiten wissen, dass der Eintritt der zugesicherten Handlungsfolgen sehr unwahrscheinlich ist. 


Bei der spieltheoretischen Analyse von Entscheidungssituationen wird die kooperative von der nicht kooperativen Interaktion unterschieden. Dabei heißt ein Spiel kooperativ, wenn die Beteiligten durch ein abgestimmtes Vorgehen, das heißt durch die gemeinsame Wahl einer Strategie, einen Zusatzgewinn gegenüber der Situation, in der jeder nur für sich spielt, erzielen können. In diesem Fall muss natürlich über die Aufteilung des Zusatzgewinns verhandelt werden, daher spricht man auch von einer Verhandlungslösung. Ergeben sich dagegen alle strategischen Züge lediglich aus dem einseitig egoistischen Verhalten der Spieler, sodass keinerlei bindende Verträge abgeschlossen werden können, spricht man von einem nichtkooperativen Spiel. 


2. Die Wissenschaftspolitik der DDR


Es ist durchaus erhellend, das Wechselspiel zwischen Politik und Wissenschaft in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland – also in zwei grundsätzlich verschiedenen Gesellschaftssystemen – und dessen Konsequenzen in der Sprache der Spieltheorie zu beschreiben. Ein direkter Vergleich ist allerdings insofern schwierig oder gar unzulässig, als in der DDR die SED bei allen strategischen Entscheidungen in allen Gesellschaftsbereichen und auf allen Ebenen das letzte Wort hatte. Dieses Dogma war, da zur allgemeinen Staatsdoktrin gehörig, unumstößlich. Das heißt, theoretisch durchaus denkbare Anerkennungskonflikte zwischen Politik und Wissenschaft waren durch das Diktat der Staatsmacht von vornherein (und bis 1989 weitgehend unangefochten) zugunsten der Politik entschieden. Das bedeutete auch, dass in der DDR die Regeln für dieses Wechselspiel von den Beteiligten keineswegs gemeinsam und auf freiwilliger Basis aufgestellt wurden. Vielmehr galten insbesondere nach der 
3. Hochschulreform von 1968, mit der die letzten bürgerlichen Wissenschaftler ihres Einflusses beraubt worden waren, zwei zentrale, die Handlungsfreiheit der Wissenschaft ganz erheblich einschränkende Glaubenssätze: 


1. Forschung galt prinzipiell als planbar, sowohl hinsichtlich ihrer Ergebnisse als auch hinsichtlich der benötigten materiellen und geistigen Ressourcen und Zeithorizonte. Zur Durchsetzung und Kontrolle der Forschungsplanung waren alle Wissenschaftseinrichtungen durchweg streng hierarchisch-zentralistisch organisiert, von der Abteilung Wissenschaft im Zentralkomitee der SED über die staatliche Plankommission, den Ministerrat, den Forschungsrat der DDR und die sogenannten Hauptforschungs- und Forschungsrichtungen bis hin zu den eigentlichen Forschungskollektiven und ihren Mitgliedern. Die Mehrheit der DDR-Wissenschaftler fügte sich – ob aus Überzeugung oder aus Opportunismus – 
widerspruchslos dem verordneten Planbarkeitsglauben und den sich daraus zwingend ergebenden bürokratischen Hürden und Restriktionen. 


2. Die Wissenschaft hatte als Produktivkraft im Sinne des Marxismus/Leninismus vor allem den Interessen der Volkswirtschaft zu dienen. Forschung sollte möglichst schnell praktisch verwertbare Ergebnisse erzielen, die dann in der Industrie umgesetzt zu verbesserten oder neuen Produkten führen sollten. Neues Wissen war kein Wert an sich, Grundlagenforschung folglich eher zweitrangig. Die DDR-Wissenschaftspolitik übernahm damit völlig unkritisch und in unzulässig vereinfachter Weise das von Sir Francis Bacon Ende des 16. Jahrhunderts geforderte Nützlichkeitsdenken. Allerdings war es Verhandlungs­sache (und ­damit dem Geschick des einzelnen Forschers überlassen), wie eng oder wie großzügig die Praxisrelevanz eines Forschungsprojektes definiert wurde. 


Um erwünschte, also unmittelbar produktionsrelevante Forschungsvorhaben zu initiieren und zu beschleunigen, gab es von der Seite der Politik, also des Partei- und Staatsapparates, eine Vielzahl von – im Sinne der Spieltheorie – zwingendenVersprechen. So verhieß der Sozialistische Wettbewerb, der sowohl zwischen den diversen Forschungseinrichtungen als auch intern zwischen deren Substrukturen – also den Abteilungen, Arbeitsgruppen usw. – ausgefochten werden musste, den Siegern nicht nur symbolische Anerkennung in Form von Auszeichnungen (etwa mit dem Titel Kollektiv der sozialistischen Arbeit oder durch Urkunden und Wanderfahnen), sondern auch beachtliche Geldprämien. Parallel dazu gab es für die einzelnen Wissenschaftler ein ganzes System von persönlichen Erfolgsprämien und befristeten oder unbefristeten Gehaltszuschlägen,6 die von der jeweils übergeordneten Leitungsebene nach Rücksprache mit der zuständigen Partei- und Gewerkschaftsgruppe vergeben werden konnten.


Daneben bediente sich der Staat durchaus auch des abschreckendenVersprechens: Wer sich der anwendungsorientierten Forschung entzog, also seinen Neigungen folgend Grundlagenforschung betrieb, musste damit rechnen, als unwichtig angesehen und bei der Zuteilung von Mitarbeitern und Forschungsmitteln sowie bei der eigenen Karriere benachteiligt zu werden. Andererseits bestand der unschätzbare Vorteil des Verzichts auf eine schnelle Karriere darin, relativ frei forschen und publizieren zu dürfen und damit womöglich Ansehen in der internationalen scientific community erwerben zu können.


Vor allem gegenüber den Geistes- und Sozialwissenschaften nutzte die Politbürokratie noch einen weiteren, besonders wirksamen strategischen Zug: die Drohung mit dem Damoklesschwert der allgegenwärtigen Zensur, mit deren Hilfe jedes unerwünschte Forschungsergebnis brutal unterdrückt wurde. Manche Fachgebiete, wie etwa die Philosophie, die Geschichtswissenschaft und die Soziologie wurden so trotz ihres gelegentlich hartnäckigen Widerstandes zu reinen Legitimationswissenschaften für die herrschende Gesellschaftsordnung degradiert.


Den staatlichen Druck konnten allerdings insbesondere die Natur- und Technikwissenschaftler zum Teil dadurch abfedern, dass sie ihrerseits mit Versprechen sehr großzügig waren. Günstige Gelegenheit dazu bot die jährliche Aufstellung und Verteidigung der Forschungspläne. Der Erfindungsreichtum bei der Abfassung der sogenannten Pflichtenhefte, in denen die verschiedenen Arbeitsstufen und Zwischenergebnisse sowie die Abgabetermine fixiert wurden, kannte keine Grenzen. So war es keineswegs unüblich, unangenehmen Weiterungen wegen etwaiger Nichterfüllung des Planes dadurch zuvorzukommen, dass man für das bevorstehende Jahr Ergebnisse plante, die man schon längst in der Schublade hatte. Die paradoxe Konsequenz war, dass möglicherweise interessante Erkenntnisse oder Daten der Volkswirtschaft erst ein Jahr später zur Verfügung standen. Oder man versprach für seine zukünftigen Forschungsergebnisse Anwendungsmöglichkeiten, die weitgehend ins Reich der Fabel gehörten.7 Mit anderen Worten: Die in der DDR von der Polit- und Wissenschaftsbürokratie geforderte und praktizierte Form der Forschungsorganisation provozierte geradezu die Abgabe leerer Versprechen im Sinne der Spieltheorie. Das Letztere war für den Einzelnen relativ ungefährlich, weil man sich ziemlich sicher sein konnte, dass die Instanz, der man rechenschaftspflichtig war, entweder von der Sache nicht allzu viel verstand, oder aber, wenn sie denn die Hochstapelei durchschaute, diese nicht selten tolerierte oder gar übernahm, um damit bei der nächst höheren Ebene selbst Wettbewerbspunkte zu kassieren.


Das a priori nichtkooperativeSpiel zwischen Staat und Wissenschaft wandelte sich so gelegentlich mit dem stillen Einverständnis aller persönlich Beteiligten zu einem verborgenen kooperativen Spiel zwischen ihnen selbst – zu deren Vorteil, aber zum Nachteil für den offiziellen Auftraggeber, den Staat. Und, natürlich, zum Nachteil auch für die Wissenschaft und deren Glaubwürdigkeit. 


3. Versprechen der derzeitigen deutschen Wissenschaftspolitik


Nach der deutschen Wiedervereinigung hofften wir alle, dass mit derlei Unfug endlich Schluss sein würde, garantiert doch Artikel 5 des Grundgesetzes die Freiheit von Forschung und Lehre. Tatsächlich sind unmittelbare Eingriffe der Politik in die Forschung heute weitgehend ausgeschlossen, ist direkte Zensur undenkbar. Dennoch geben einige Entwicklungen der letzten Jahre Anlass zu Sorge. Angesichts der durch eine unsinnige Steuerpolitik und zum Teil auch durch eine falsche Prioritätensetzung selbstverschuldeten Ebbe in den öffent­lichen Kassen (Stichwort Bankenrettung – die verblichene Sachsenbank hat den Freistaat um die zwei Milliarden Euro gekostet) wird dem Staat Forschung und Bildung immer mehr zur Last. Zwar wird in den Sonntagsreden von Politikern aller couleur und aller Ebenen immer wieder wortreich beteuert, dass gerade im Zeitalter der Globalisierung Wissen zur wichtigsten Ressource der Zukunft geworden sei und dass die Wissenschaft folglich eine entscheidende Rolle für die weitere Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaft spiele und daher eine öffentliche Aufgabe bleiben müsse. Sobald es jedoch konkret um die angemessene und nachhaltige Finanzierung der für Forschung und Lehre zuständigen Institutionen geht, herrschen eher Ausflüchte, Verweise auf vermeintliche ›Sachzwänge‹ oder betretenes Schweigen.


Tatsächlich liegt in Deutschland trotz aller vollmundigen Versprechen der Politik die staatliche Förderung von Forschung und Bildung seit vielen Jahren deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder.8 Bei fast allen maßgeb­lichen Indikatoren – vom prozentualen Anteil der Bildungs- und Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt bis hin zur Zahl der Abiturienten und Hochschulabsolventen – befindet sich unser Land unter den letzten acht bis zehn von 34 OECD-Mitgliedsstaaten. Ein beschämender Befund für ein Land mit einer jahrhundertealten großen Wissenschaftstradition.


Die mit den statistischen Daten der OECD korrespondierende konkrete Misere vor Ort kennen wir alle: regelmäßig einschneidende Stellen- und Finanzkürzungen, seit Jahren überfüllte Hörsäle und Seminare, unzureichend ausgestattete Bibliotheken, neuerdings sogar der Wegfall ganzer Studienrichtungen. An den sächsischen Hochschulen – ausgenommen ist nur die TU Dresden (!) – werden per Regierungsdiktat bis zum Jahr 2020 mehr als 1000 Stellen gestrichen (davon mindestens 172 allein an der Universität Leipzig) und zwei Hochschulstandorte – Rosswein und Reichenbach – komplett geschlossen. Nach neuesten Informationen wird die Universität Leipzig bereits 2015/16 das Pharmazeutische Institut und die Institute für Klassische Archäologie und für Theaterwissenschaften schließen und die entsprechenden Studiengänge einstellen müssen.9 In Sachsen-Anhalt wird die eh schon knappe Finanzausstattung der Hochschulen von 2015 bis 2025 Jahr für Jahr um 5 Millionen Euro reduziert werden, sodass am Ende allein in diesem Bundesland jährlich 50 Millionen Euro weniger für Forschung und Lehre zur Verfügung stehen werden. 


Kurz: Die Wissenschafts- und Bildungspolitiker in Bund und Ländern operieren heute auf geradezu zynische Weise fast ausschließlich mit leeren Versprechen. Natürlich ist es ihnen durchaus peinlich, dass dieser Sachverhalt von der interessierten Öffentlichkeit allmählich durchschaut wird und zunehmend auch deren Wahlverhalten beeinflusst. Sie versuchen daher, sich systematisch aus der Verantwortung zu stehlen und diese anderen zuzuschieben. Das Procedere ist immer das gleiche: Von den (meisten) Landesregierungen werden spezielle Kommissionen aus mehrheitlich externen, überregional tätigen Experten berufen, die den unmissverständlichen Auftrag erhalten, die jeweilige Hochschullandschaft auf verborgene Reserven zu durchforsten, potentielle ­Synergiequellen aufzuspüren, Schwerpunkte zu definieren (die sogenannte Profilschärfung10), und daraus Einsparvorschläge abzuleiten. In Sachsen geschah das trotz des bereits Anfang der 90er Jahre verordneten rigorosen Stellenabbaus bisher sogar schon zweimal: 1999 und 2009. Die auswärtigen Experten verweigern sich nicht etwa dieser Zumutung, sondern fühlen sich in der Regel geadelt, übernehmen den Auftrag gern und überreichen dem zuständigen Minister nach einem Dutzend zeit- und kostenaufwändiger Sitzungen als Ergebnis ihrer segensreichen Arbeit publikumswirksam einen Abschlussbericht mit der euphemistischen Überschrift Hochschulentwicklungsplan (HEP) – 
und reisen wieder ab. Der HEP dient dann der Regierung als Alibi für weitere Kürzungsorgien. Dadurch erreicht die Politik mit einem Schlag zwei Ziele: die Vertuschung der Verantwortlichkeit und die Irreführung der Öffentlichkeit; denn unter Entwicklung versteht der unbefangene Beobachter ja gemeinhin Aus- oder Aufbau, womöglich Wachstum, auf jeden Fall aber eine Verbesserung, und nicht etwa das Antonym Abbau.


Doch mit dem HEP ist das Arsenal der wundervollen regierungsamtlichen Wortneuschöpfungen längst nicht erschöpft: Hochschulpakte, Bildungspakete, Qualitätsoffensiven, Excellenzinitiativen – regelmäßig liest oder hört man von neuen Kampagnen und öffentlichkeitswirksamen Sonderaktionen, die weitsichtiges und kraftvolles Handeln signalisieren sollen, die in Wahrheit aber nur ein Ergebnis haben – die immens kostspielige Umverteilung der nach wie vor völlig unzureichenden Finanzmittel zugunsten der zeitgeist-schlüpfrigsten Projekte (wie dies einmal Hubert Markl, der frühere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, nannte) und zum Nachteil der für die Kultur eines Landes extrem wichtigen sogenannten kleinen Fächer. Unter diesen Umständen regierungsamtlich die Bildungsrepublik Deutschland auszurufen, wie vor sechs Jahren ­geschehen, mutet schon reichlich befremdlich an. 


Ein weiteres Alibi hat sich die Politik inzwischen per Gesetzgebungsverfahren verschafft. In den aktuell geltenden Landeshochschulgesetzen, die übrigens in mehreren Ländern – auch in Sachsen – offiziell den schon nicht mehr nur beschönigenden, sondern regelrecht irreführenden Namen Hochschulfreiheitsgesetz tragen – sind die Hochschulen zwar formal von der direkten Gängelei durch die Ministerialbürokratie halbwegs befreit, dafür jedoch unter die Aufsicht speziell dafür neu geschaffener Gremien – der Hochschulräte – gestellt worden. Die Mitglieder der Hochschulräte werden von den zuständigen Ministern berufen und kommen – so bestimmen es die Gesetze – mehrheitlich aus der Wirtschaft und der Politik. Diese Gremien sind mit allen strategisch entscheidenden Vollmachten ausgestattet – von der mittelfristigen Struktur- und Finanzplanung der Hochschulen über die Einrichtung oder Aufhebung von Studiengängen bis hin zur Wahl oder Abwahl des Rektors. Und ich kann Ihnen sagen (ich war bzw. bin Mitglied in verschiedenen Hochschulräten): Sie nutzen alle Möglichkeiten, um ihren Einfluss auf die Hochschulen zu festigen und zu erweitern.11 Das gelingt ihnen auch deswegen umso besser, als in den gleichen Gesetzen den Hochschulen zwar einerseits nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen streng hierarchische interne Top-down-Strukturen verordnet wurden, aber andererseits die Kernkompetenzen der Hochschulleitungen drastisch beschnitten und weitgehend auf die operative Arbeit beschränkt sind. Gleichzeitig wurden die Konzile, also die Parlamente der Hochschulen und damit die wichtigsten Pfeiler der demokratischen Willensbildung und akademischen Selbstverwaltung, kurzerhand abgeschafft. Demokratie habe, weil ineffizient, an Hochschulen nichts zu suchen, verkündete allen Ernstes ein sächsischer Ministerpräsident vor Chemnitzer Studenten. Neuerdings streben manche Hochschulräte sogar die Kontrolle über die akademische Lehre an. Entsprechende Vorhaben sollen, so wird empfohlen, mit »demütigem Selbstbewusstsein« vorangetrieben werden.12 Unter diesen Umständen verkommt die Freiheit von Forschung und Lehre zur Floskel; von Hochschulen als wichtigen Zentren des Geisteslebens der Gesellschaft und von einem konstruktiven Dia­log zwischen Wissenschaft und Politik auf Augenhöhe kann so keine Rede mehr sein. Dass damit die Ideale und Hoffnungen der Akteure beider Seiten, die sich Anfang der 90er Jahre gemeinsam der demokratischen Erneuerung der ostdeutschen Hochschulen verschrieben hatten, beiläufig vom Tisch gefegt werden, sei nur am Rande erwähnt.


4. Fazit


Alles in allem muss man also feststellen, dass die Politik seit geraumer Zeit mit der Wissenschaft ein leichtfertiges und unredliches nichtkooperatives Spiel mit unleugbar schmierenkomödiantischen Elementen – ich denke an die Wortneuschöpfungen – treibt, das, gewollt oder nicht, in absehbarer Zukunft dazu führen wird, dass Wissenschaft in Deutschland nicht mehr im gesamtgesellschaftlichen Interesse betrieben wird, sondern vor allem die Partialinteressen der Wirtschaft bedient. Dies jedoch wird, ähnlich wie in der DDR, zum schleichenden Niedergang der Wissenschaft führen. Und das ist die Tragik an diesem Spiel. Es ist daher hohe Zeit, dass sich Politik und Wissenschaft in ihrer gemeinsamen Verantwortung für das Gedeihen der demokratischen Gesellschaft endlich auf ein kooperatives Spiel einigen, einen echten Pakt schließen, um sich gemeinsam entschieden zur Wehr zu setzen – gegen die von privaten Interessen geleiteten Zumutungen und Einmischungen der selbsternannten neoliberalen Hochschulreformer und die drohende Trivialisierung und Barbarisierung des Wissens. Ich bin der Überzeugung, dass es den ostdeutschen Ländern mit ihren noch relativ lebendigen Erinnerungen an die bleierne Zeit der Plan- und Kommandowissenschaft gut zu Gesicht stehen würde, hierbei mutig voranzugehen. 


  1. 1Geringfügig überarbeiteter und um Fußnoten ergänzter Vortrag, gehalten in der Kommission ›Wissenschaft und Werte‹ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften am 8.11.2013.

  2. 2Roman Inderst, Holger M. Müller und Karl Wärneryd, »Distributional conflict in organizations«, inEuropean Economic Review 51 (2007), S. 385–402.

  3. 3Annerkennungskonflikte gehen um das Recht bzw. die Erlaubnis einer Person, einer Gruppe oder einer Institution gegenüber einer anderen Person, Gruppe oder Institution, sich an der Kommunikation, an der Entscheidungsfindung oder an sonstigen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Vgl. hierzu Gabriel Amengual, »Anerkennung«, in Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1: A–N, Hamburg 1999, S. 66–68.

  4. 4Andreas Diekmann, Spieltheorie, Reinbek 2009.

  5. 5Vergl. auch Christian Lotz, »Versprechen – Verzeihen, Erinnern – Vergessen. Zur ethischen Konstitution der Subjektivität«, inStudia Philosophica 60 (2001), S. 77–94.

  6. 6Neben den imRahmenkollektivvertrag Hochschulwesen fixierten, maximal zehn sogenannten Steigerungssätzen, die – politisches Wohlverhalten vorausgesetzt – im Zweijahresturnus unbefristet vergeben wurden, gab es auch befristete aufgabenbezogene Leis­tungszuschläge (ALZ) und leistungsorientierte Zuschläge (LOZ).

  7. 7So war bei Chemikern die Aussage beliebt, dass von neu zu synthetisierenden Verbindungen irgendeine nützliche, z. B. pharmazeutische Wirkung zu erwarten sei.

  8. 8Organisation for Economic Co-operation and Development, Zusammenschluss von wirtschaftlich und technisch entwickelten demokratischen Staaten.

  9. 9Die Institute für Pharmazie und für Klassische Archäologie der Universität Leipzig wurden zu DDR-Zeiten schon einmal geschlossen. Nach der Wende wurde das – auch von der CDU-Landesregierung – als ruchlose Tat banausischer Politfunktionäre gebrandmarkt [sic!]. 

  10. 10In der DDR wurden analoge Fremdeingriffe in die Hochschulstrukturen sar­kastisch als ›Wegrationalisieren‹ bezeichnet.

  11. 11Zur Koordination und taktischen Begleitung entsprechender Pläne wurde 2009 vom Stifterverband, der Heinz-Nixdorf-Stiftung und dem Centrum für Hochschulentwicklung Gütersloh (eine vom Bertelsmannkonzern mit jährlich Millionen Euro alimentierte advokatorische Denkfabrik) dasForum für Hochschulräte, eine bundesweite Tagungsreihe, ins Leben gerufen sowie der spezielle zweimal jährlich erscheinende elektronische Newsletter Update eingerichtet (vgl. http://www.stifterverband.com/forum_hochschulraete (30.1.2014)).

  12. 12Ulrich Müller, »Aufgaben des Hochschulrates im Bereich der Lehre«, in ­
Update 2 (2013), S. 9 f., http://www.stifterverband.com/forum_hochschulraete/update/update_2013-02/update_2013-02.pdf (30.1.2014).
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Heft 12 (2014)
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