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Versprechen in der modernen Wissenschaft1

1. Einleitung


Die interdisziplinäre Kommission »Wissenschaft und Werte« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig befasst sich zurzeit mit dem Thema »Versprechen und Verantwortung in der Wissenschaft«.2 Sie untersucht – systematisch und exemplarisch – die Voraussetzungen, Inhalte, Formen, Funk­tionen und Folgen wissenschaftlicher Versprechen in verschiedenen Disziplinen, Professionen, Organisationstypen, Wissenschaftskulturen und Gesellschaften. Ausgangspunkt dieses Vorhabens ist die Beobachtung, dass die Akteure des wissenschaftlichen Feldes – Wissenschaftler, Wissenschaftsorganisationen, Vertreter der Wissensindustrien, Wissenschaftspolitiker und Nutzer – seit einigen Jahrzehnten angesichts des verschärften und entgrenzten Wettbewerbs um forschungsrelevante Ressourcen, Prestige, Macht und Marktanteile in immer neuen Formen immer mehr versprechen.


Die Versprechen, die von Wissenschaftlern selbst oder von Dritten im Namen der Wissenschaft gegeben werden, werden sich einerseits immer ähnlicher, driften andererseits immer mehr auseinander. Die Entwicklung der Standards und Kontrollen für wissenschaftliche Versprechen hinkt der ausufernden Praxis des Ankündigens, Prognostizierens und Versprechens hinterher. Der durch klare Regeln, Normen und ethische Codes geregelte Wettbewerb in den Wissenschaften gerät so in Spannung zum unkontrollierten und schwer durchschaubaren Wettbewerb der wissenschaftlichen Versprechen.


Verhaltensnormen und Vertrauensbeziehungen, womit überschaubare nationale Wissenschaftseliten und internationale professionelle Communities bisher die Binnen- und Außenbeziehungen der Wissenschaft regeln konnten, verlieren an Verbindlichkeit. Wissenschaftler, Wissenschaftsverbände, Unternehmen, Stiftungen und Staaten bedienen sich immer neuer Mittel und Argumente, um ihre wissenschaftlichen oder wissensbasierten Projekte in der Öffentlichkeit darzustellen. In der Wirtschaft und Politik werden wissenschaftliche Versprechen immer öfter mithilfe aufwändiger und elaborierter Kommunikationsstrategien verbreitet. 


Die kritische Analyse der Genese, Plausibilität, Funktion und Wirkung von Versprechen in der Wissenschaft erfordert nicht nur fachspezifische Kompetenz, sondern auch ein breites Überblicks- und Erfahrungswissen. Die aus Mitgliedern der philologisch-historischen, mathematisch-naturwissenschaft­lichen und technikwissenschaftlichen Klassen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gebildete Kommission »Wissenschaft und Werte« mobilisiert dieses Wissen, um zu klären, wie und unter welchen Gesichtspunkten und Bedingungen Versprechen gegeben, gehalten, revidiert und gebrochen werden; und warum und wozu die moderne Wissenschaft die sozio-kulturelle Institution des Versprechens braucht.3 Beim Thema Versprechen und Verantwortung in der Wissenschaft handelt es sich um eine Querschnittproblematik, die von Geistes-, Sozial-, Wirtschafts-, Medizin-, Natur- und Ingenieurwissenschaften gemeinsam analysiert werden muss. 


Während der Begriff der ›Verantwortung‹ seit einigen Jahrzehnten im Kontext der Diskussionen über die technologische Zivilisation und Technikfolgen viel Aufmerksamkeit genießt,4 führt die Kategorie des Versprechens ein Schattendasein. Ich konzentriere mich im Folgenden deshalb stärker auf die Problematik des Versprechens. Nach einer exemplarischen und ansatzweise systematisierenden Einführung über standardmäßige, situative und spekulative Versprechen in der Wissenschaft (Abschnitt 2) werde ich im 3. Abschnitt die geschichts-, kultur-, sozial- und rechtswissenschaftliche Forschung über das Versprechen in der modernen Gesellschaft umreißen und so konzeptuelle Grundlagen für eine interdisziplinäre, multiperspektivische und vergleichende Forschung über das Versprechen in der Wissenschaft und in den sozialen Beziehungen der Wissenschaftler legen. In den folgenden Abschnitten 4 und 5 werde ich ausgewählte Aspekte und Probleme der historischen Entwicklung und der Funktion des Versprechens in der modernen Wissenschaft und Wissensgesellschaft beleuchten.


2. Standardmäßige, situative und spekulative Versprechen in der Wissenschaft


Versprechen gehören zu den Institutionen (d. h. Regeln oder Spielregeln), die soziales und kulturelles Handeln berechenbar machen und Beziehungen auf Dauer stellen. Wissenschaft ist ein hochgradig reguliertes und zweckrational organisiertes Feld, zugleich ein wettbewerbsförmiger und ergebnisoffener Prozess. Die Institution des Versprechens erfüllt hier besondere Funktionen: Sie stellt, erstens, die Kooperation und Anerkennung von Wissenschaftlern und Wissensorganisationen auf Dauer, ermöglicht, zweitens, eine gewisse Flexibilisierung und Dynamisierung des Handelns in wissenschaftlichen Grenzbereichen und regelt, drittens, die Zusammenarbeit in den Überschneidungsfeldern zwischen der Wissenschaft und anderen Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Recht.


In hoch entwickelten Wissensgesellschaften ist die Fähigkeit und Bereitschaft, solide und glaubwürdige wissenschaftliche Standardversprechen zu geben, relativ weit verbreitet. Grundlage dafür ist, bei allen Unterschieden im einzelnen zwischen den Geistes-, Sozial-, Natur- und Ingenieurswissenschaften, die für Fachleute nachvollziehbare Darstellung von Zielen, Theorien, Methoden, Untersuchungsgegenständen, Arbeitsplänen, naheliegenden Umsetzungs- oder Anwendungsmöglichkeiten und Synergien. Wenn es um die Durchsetzung eines wissenschaftlichen Vorhabens geht, reicht es indessen oft nicht aus, die innovative Bearbeitung oder originelle Lösung eines speziellen Fach- oder Sachproblems nach den ›Regeln der Kunst‹ oder nach ›bestem Wissen und Gewissen‹ zu versprechen. Schon die Bearbeitung von Detailproblemen im Rahmen konventioneller wissenschaftlicher Ansätze wird deshalb öfter mit dem Versprechen eines – wissenschaftlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, technischen oder politischen – Zusatznutzens mittlerer oder größerer Reichweite verbunden. Bestimmte Fördersysteme, wie das in Deutschland sich immer weiter verbreitende System der Drittmittelforschung, begünstigen das Geben von Zusatzversprechen, da primär der Projektantrag evaluiert und die Leistungsfähigkeit des Wissenschaftlers anhand der eingeworbenen Drittmittel gemessen wird.5

Im Wettbewerb um staatliche Fördermittel und private Forschungsinvestitionen, aber auch im organisationsinternen Wettbewerb zwischen den Betrieben und Divisionen von Wirtschaftskonzernen und zwischen den Abteilungen großer staatlicher Forschungseinrichtungen, werden öfter Zusatzversprechen gegeben, die das wissenschaftliche Kernanliegen in weitere Sinnhorizonte, Funktionszusammenhänge und Zukunftsszenarien stellen. Situative und opportunistische Zusatzversprechen betonen den Nutzen eines wissenschaftlichen Vorhabens für die eigene Forschungsrichtung, Schule, Organisation oder Nation und verweisen auf die Synergie des eigenen Vorhabens mit bestehenden Forschungsschwerpunkten und auf die Passfähigkeit mit bestehenden Programmlinien der Wirtschafts- und Kulturförderung. Noch weiter gehen spekulative Zusatzversprechen, die unter Verweis auf Trendprognosen, Wahrscheinlichkeitskalküle und Gewinnerwartungen gegeben werden und weitverbreiteten Werten bzw. Wunschvorstellungen wie Fortschritt, Wohlstand, Gesundheit, soziale Anerkennung und Glück entgegenkommen.


Geistes- und Sozialwissenschaftler versprechen neue Erkenntnisse über den Sinn und die gesellschaftliche Funktion – vergangener, gegenwärtiger und künftiger – kultureller und gesellschaftlicher Phänomene, Praktiken und Prozesse. Rechtswissenschaftler versprechen, bessere Normen, Verfahren und Theo­rien für die rechtsförmige Bearbeitung abweichenden Verhaltens und sozialer Konflikte bereitzustellen. Vertreter der Medizin- und Lebenswissenschaften sowie der wissensbasierten Pharmaindustrie versprechen weniger Leiden und zusätzliche Lebensmonate wenn nicht Lebensjahre im Falle schwerer oder unheilbarer Krankheiten. Das Spektrum der das wissenschaftliche Kernversprechen ergänzenden und aufwertenden Anwendungsbezüge, Sinnhorizonte und Zukunftserwartungen ist schier unendlich: Es reicht von der Ankündigung möglicher Anwendungen eines Verfahrens oder Stoffs über Topoi wie die Verlängerung der Lebenszeit, die Steigerung von Wohlstand und mehr Gerechtigkeit bis zur Beseitigung des Welthungers, Vermeidung von Gewalt und Krieg und Verantwortung gegenüber künftigen Generationen durch nachhaltiges Handeln. Die Praxis des Versprechens geht dabei mitunter fließend in die Rhetorik der Verheißung im Sinne von zeitlich und sachlich nicht genau festgelegter Prophezeiung oder Heilsankündigung über.6

Während auf der einen Seite Politiker, Unternehmer, Interessenverbände und Bürgerbewegungen unter Verweis auf wissenschaftlich begründete Erkenntnisse, Ziele und Entwicklungspläne weitreichende – zum Beispiel wirtschafts-, energie-, gesundheits- und bildungspolitische – Versprechen geben und die Wissenschaft auffordern, diese zu konkretisieren und umzusetzen, bemühen sich auf der anderen Seite Wissenschaftler und Wissenschaftsmanager mithilfe von Versprechungen, staatliche und private Investoren sowie zivilgesellschaftliche Gruppen für ihre Anliegen zu gewinnen. Versprechen werden so zu Elementen der alltäglichen und strategischen Kommunikation in der Wissenschaft und Gesellschaft.


Die Vervielfachung und Differenzierung der Versprechen lässt sich nicht allein damit erklären, dass die moderne Wissenschaft ein besonderes kompetitives und leistungsorientiertes Funktionssystem und ein besonders ergebnisoffener Prozess ist. Manche Versprechen, die von Akteuren des wissenschaftlichen Feldes oder im Namen der Wissenschaft gegeben werden, werden mit Blick auf allgemeine gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Einstellungen und Erwartungen gegeben. Das hängt damit zusammen, dass die Verwissenschaftlichung des Sozialen und die Vergesellschaftung der Wissenschaften sich wechselseitig beeinflussen: Wissenschaftliche Standards prägen die gesellschaftliche Praxis und gesellschaftliche Gewohnheiten und Regeln diffundieren in die wissenschaftliche Praxis.


Zusatzversprechen sind in den sozialen Aushandlungsprozessen über Werte, Ziele, Pläne und Wege unerlässlich. Sie helfen Individuen, Gruppen und Organisationen, ihre Sonderansprüche auf politische Macht, fachliche und professionelle Autorität, soziale Geltung, wirtschaftliche Erträge und kulturellen Einfluss zu begründen und darzustellen. Indem die Akteure des wissenschaftlichen Feldes spezielle Sach- und Fachprobleme in größere gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge stellen, bekunden sie – grundsätzlich – die Bereitschaft, ihre Leistungen nicht nur nach internen, sondern auch nach externen Kriterien beurteilen zu lassen. Im Hinblick darauf müssen sie ihr voraussetzungsvolles exklusives Spezialwissen in einer Weise darstellen und kommunizieren, dass wissenschaftliche Laien – Bürger, Politiker, Nutzer, Konsumenten und Investoren – in Entscheidungen über wissenschaftliche Grundsatzfragen und Weichenstellungen einbezogen werden können.


Bei bestimmten Anlässen – wie Jubiläen, Rückblicken auf Jahrzente und Jahrhunderte, Neujahrsbotschaften, Preisverleihungen, Staatsakten, Wahlen und Volksentscheiden – sowie ab einer gewissen Qualität und Reichweite der Ankündigung werden wissenschaftliche Versprechen zu Medienereignissen. So berichtet Spiegel online am 3. Januar 2011 über den von der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet zum Jahresanfang veröffentlichten Artikel mit dem Titel 100-Jahres-Vergleich. Die unerfüllten Versprechen der Medizin. Lancet ­erinnerte darin an einen hundert Jahre zuvor publizierten Artikel, in dem ­versprochen worden war, dass ein besseres Verständnis des Dämons ­Tuberkulose eines Tages dazu führen werde, diese zu besiegen. Tatsächlich sei erst Jahrzehnte später mit der Entdeckung der Antibiotika die Möglichkeit gestiegen, die Krankheit zu behandeln. Im Weltmaßstab jedoch sei die Krankheit bis heute nicht besiegt, laut Angaben der World Health Organization (WHO) seien 2009 
1,7 Millionen Menschen daran gestorben, vor allem in Entwicklungsländern. Das Lancet-Editorial von 2011 schloss mit den Worten: »Zwischen 1911 und 2011 ist einiges geschehen, auf das die Medizin stolz sein kann, das aber auch zu Bescheidenheit mahnt. Neue Jahre bringen neue Versprechen und Chancen mit sich, aber einige alte Dämonen bleiben.«7The Lancet verwendet hier einen diffusen Begriff von Versprechen, der sich mit dem Begriff der Prophezeiung oder (im Englischen unüblichen) Verheißung überschneidet. Versprechen gleichen so magischen Formeln, die im Namen des Guten und des Lebens gegen todbringende böse Geister oder Schicksalsmächte eingesetzt werden. Ferner verknüpfen die Artikel von 1911 und 2011 in typischer Weise den Begriff der Wissenschaft mit dem Begriff des Fortschritts: Der aufgeklärte Rationalist hält an seiner Überzeugung fest, dass der wissenschaftliche Fortschritt langfristig nicht aufzuhalten ist, weiß jedoch, dass dieser nicht linear verläuft.


Besondere Medienpräsenz oder öffentliche Aufmerksamkeit erntet, wer, wie der amerikanische Erfinder, Futurologe und bekennende Transhumanist Ray Kurzweil, eine massive Verlängerung der Lebenszeit verspricht. Von dessen Ankündigungen berichtet Spiegel Online Wissenschaft am 24. August 2010 unter dem Titel Mensch und Technologie. Das Versprechen ewigen Lebens. Kurzweil behauptet, dass dank der Fortschritte der Bio-, Nano-, Info- und Neurowissenschaften kontrollierte Eingriffe in die natürlichen Abläufe des menschlichen Körpers und Geistes in greifbare Nähe gerückt sind oder bereits durchgeführt werden, sodass die Lebenszeit immer weiter ausgedehnt werden kann. Ewiges Leben dank »Nanotechnologie und Nanoroboter in unserem Körper« könne dann nur noch durch einen bewussten Akt beendet werden.8

Ganz offensichtlich haben solche Pauschalversprechen nicht zuletzt den Zweck, die Hierarchie unter den wissenschaftlichen Disziplinen und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren des wissenschaftlichen Feldes zu verändern. Das neue Großversprechen übt einen Zugzwang aus und wertet manche der bisherigen Versprechen ab, lässt diese sinn- und nutzlos erscheinen. Indem etwa in der Gehirnforschung, der Neurologie und den Kognitionswissenschaften geistige Prozesse zu natürlichen Vorgängen umdefiniert bzw. als stoffliche Prozesse untersucht werden, wird den Geistes- und Sozialwissenschaften ihre bisherige Führungsrolle für Fragen des Geistes aberkannt. In dem von den genannten Lebenswissenschaften dominierten Wissens-Regime riskieren sie, marginalisiert oder in einen dienende Rolle abgeschoben zu werden.9 Auch das Versprechen der historischen Wissenschaften,10 Vergangenes mithilfe systematischer Verfahren und unter bestimmten aktuell interessierenden Gesichtspunkten zu rekonstruieren, um Sinn und Orientierung stiftendes Wissen für die Gegenwart und Zukunft bereitzustellen, wird so relativiert, wenn nicht abgewertet. Bräuchte es die Geschichtswissenschaft, die verspricht, die angesichts der Endlichkeit des menschlichen Lebens notwendigen Funktionen der Sicherung und Weitergabe von Wissen im Wechsel der Generationen methodisch kontrolliert auszuüben, überhaupt noch, wenn das diesseitige Leben ins Unendliche verlängert werden könnte?


Sollen sich die Geschichtswissenschaften im Wettbewerb der Disziplinen und Wissenschaftskartelle unter diesen Umständen auf die Verfeinerung und innovative Einlösung ihrer bewährten Versprechen konzentrieren, das heißt, die Verschiedenheit der Fähigkeiten und Zuständigkeiten der Disziplinen betonen? Oder sollen sie die Vorgaben der Lebenswissenschaften aufgreifen und ihre eigenen Ziele und Versprechen entsprechend ändern, das heißt, die Ähnlichkeiten und Konvergenzen der Kompetenzen und Zuständigkeiten im Sinne einer Anpassung an Dritte verstärken? Die Antwort der im weitesten Sinne historisch Forschenden darauf wird aufgrund der thematischen und methodischen Breite sowie der erheblichen inneren Differenzierung der Geschichtswissenschaften nach Gegenständen, Zeiten und Orten nicht einheitlich ausfallen. Wechselseitige Annäherungen und Synergien sind in manchen Feldern zweifellos möglich, sinnvoll und erwünscht.


Zweifelhaft ist jedoch, dass sich heutige Historiker auf den Wettbewerb um spekulative Zusatzversprechen etwa in Bezug auf die Verlängerung von Lebenszeit, wie das in den Lebenswissenschaften üblich ist, einlassen werden. Aufgrund ihres historisch fundierten breiten Wissens über die Möglichkeitsspielräume und Abgründe menschlichen Verhaltens und über die Unberechenbarkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen im Einzelnen, insbesondere auch nach dem Bankrott der geschichtsphilosophisch motivierten Großversprechen des 19. und 20. Jahrhunderts, sind vermutlich nur noch wenige Historiker bereit, so offen und ungehemmt mehr Lebenszeit zu versprechen, wie es in den Lebenswissenschaften üblich zu sein scheint. Diese Art spekulativer Versprechen ist in den Geschichtswissenschaften wie in großen Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften, deren wissenschaftliche Versprechen sich stärker auf den Sinn und die Formen des Lebens und Zusammenlebens beziehen, unüblich, wenn nicht verpönt.


Selbst wenn sie so dächten, würden Historiker und historisch arbeitende Sozial-, Kultur-, Natur- und Medizinwissenschaftler heute kaum öffentlich versprechen, dass sich mithilfe verbesserten historischen Wissens und besserer historischer Bildung und Aufklärung die Lebenszeit inklusive Lebensqualität der Menschen ganz erheblich verlängern ließe. Sie könnten im Hinblick darauf versprechen, dass die Forschung über die Bedingungen der Möglichkeit gewaltfreien Zusammenlebens in der Demokratie und pluralistischen Gesellschaft, über interkulturelle Kommunikation und Kooperation sowie über Konfliktlösungs- und Deeskalationsstrategien das Risiko lebensverkürzender Gewalttaten und Kriege massiv verringere. Anhand der historischen Ereignisse und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wäre das auf den ersten Blick plausibel.


Wenn wir die Lebenserwartung der männlichen Angehörigen der Generationen der um 1890/1900 und um 1920 Geborenen, die im Alter zwischen etwa ­
18 und 30 Jahren als Soldaten in den ersten bzw. zweiten Weltkrieg ziehen mussten und diesen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebten, mit der Lebenserwartung der seit 1945 geborenen Friedensgenerationen der 18- bis 30-Jährigen vergleichen, wird deutlich, dass im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht und der technischen Zivilisation mit ihren Massenvernichtungswaffen die Vermeidung und Abwesenheit von physischer Gewalt und Krieg zu den Faktoren zählen, die die Lebenszeit, insbesondere von Männern, erheblich verlängern. Statt mit 20 Jahren im Krieg zu sterben, lassen sich in langen Friedenszeiten leicht 70, 80 und mehr Jahre erreichen. Das sind statistische ›Lebenszeitgewinne‹, von denen die Lebenswissenschaften nur träumen können.


Das Problem ist bloß, dass es so schwer fällt, die theoretisch gewonnenen 50 bis 60 Lebensjahre ursächlich mit wissenschaftlichen und erzieherischen Leistungen zu begründen, die von Historikern, die die Schonung von Leben erforschen, erbracht worden sind. Große und langfristige gesellschaftliche, ­kulturelle und politische Entwicklungen lassen sich nicht auf überschaubare Experimente reduzieren, mit deren Hilfe sich eindeutige Aussagen über Ursache-Wirkungszusammenhänge gewinnen lassen. Historiker halten sich deshalb, wie viele andere Geistes- und Sozialwissenschaftler auch, beim Versprechen in der Regel eher an das wissenschaftlich Naheliegende, selbst auf die Gefahr hin, damit im Wettbewerb um Forschungsressourcen, wissenschaft­liche Deutungsmacht und Einfluss den Kürzeren zu ziehen. Bis um 1900 hatten die Geisteswissenschaften noch eine Führungsrolle und Vorbildfunktion in den Wissenschaften gehabt, die sie auch mithilfe des Versprechens, die großen Rätsel des Lebenssinns und des Zusammenlebens in der modernen säkularisierten Gesellschaft, Demokratie, Industriegesellschaft, Kultur und Zivilisation zu begreifen und zu lösen, errungen hatten. Seitdem sind sie bescheiden geworden; realistisch oder zu bescheiden?


3. Konzepte und Forschungsstand. Funktion und Form des Versprechens in der modernen Gesellschaft und Kultur


Das Versprechen ist eine der zentralen sozio-kulturellen und rechtlichen Institutionen der modernen Vertragsgesellschaft. Die interdisziplinäre Analyse des Versprechens in der modernen Gesellschaft und Wissenschaft geht von einem abstrakten Begriff oder Idealtypus des Versprechens aus. Dieser dient als Referenzmodell und heuristisches Raster bei der vergleichenden Analyse der Versprechen. Anhand des Forschungsstandes insbesondere in den Sozial-, Kultur-, Geschichts- und Rechtswissenschaften führe ich im Folgenden zentrale und typische Merkmale des Versprechens ein.


Die Reflexion und Forschung über den Begriff und die Praxis des Versprechens gehört seit dem 17./18. Jahrhundert zu den Kernanliegen der Philosophie, insbesondere der Sozialphilosophie, sowie der Rechtsgeschichte und der Rechtswissenschaft, schließlich auch der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung über die symbolische Inszenierung und soziale Institutionalisierung gesellschaftlicher Beziehungen.11 Die Frage nach den Funktionen, Formen und Bedeutungen des Versprechens in der säkularisierten, individualistischen und liberalen Gesellschaft ist ein klassisches Thema der Sozialphilosophie. Die moderne theoriegeleitete und empirisch fundierte Soziologie überlässt dieser das Thema bis heute; mit dem Effekt, dass die empirische sozialwissenschaftliche Analyse massenhafter konkreter Versprechen vergleichsweise unterentwickelt ist.12 Ganz zentral ist die Versprechensthematik in der Rechtsgeschichte und Rechtswissenschaft. Eid, Schwur und Gelöbnis gehören zu den ältesten rechtlichen Formen von Versprechen.13 Der Vertrag, der ein reziprokes Versprechen darstellt,14 gehört zu den Schlüsselbegriffen des modernen Privatrechts, des Verfassungs- und des Völkerrechts. Verheißung, Versprechen, Wortbruch und Verzeihen sind klassische Grundbegriffe der Theologie.15 Sprachwissenschaftler und Vertreter der philosophischen Sprach- und Begriffskritik untersuchen seit einigen Jahrzehnten Versprechen als Sprechakte (›Sagen heißt, etwas mit Worten tun.‹)16 und begreifen Äußerungen wie ›ich verspreche dir, morgen zu kommen‹ als »performative Aussagen, die im gleichen Atemzug den Sachverhalt schaffen, den sie beschreiben«.17 Neuere literaturwissenschaftliche Studien über Sagen und Mythen zeigen zum Beispiel, wie Versprechen umgangen werden, indem sie nur dem Wort nach eingehalten werden;18 oder wie das ›Versprechen der Moderne‹ mit den Mitteln der Literatur dargestellt 
wird.19

Versprechen manifestieren sich in vielfältigen symbolischen Formen: in sprachlichen Darstellungen wie Formeln, Ausrufen, Verträgen, Erzählungen und Mythen; in Gesten, bildlichen und musikalischen Darstellungen; in sozialen Regeln und Ritualen, inneren Einstellungen, Mentalitäten und Formen des Habitus; sowie in Taten und im gelebten Leben. Die bis hierher resümierte sozial-, kultur- und rechtswissenschaftliche Forschung interessiert sich primär für Formen und Typen sowie soziale und symbolische Funktionen des Versprechens in der modernen Gesellschaft.


Eine fachübergreifende Synthese über die spezielle Problematik des Versprechens in der Wissenschaft bzw. in den wissenschaftlichen Beziehungen und Prozessen ist mir nicht bekannt. Wissenschaftsgeschichtliche und wissenssoziologische Studien, Wissenschaftlerbiografien und Untersuchungen über die Institutionalisierung und Organisation wissenschaftlicher Forschung und wissensbasierter Arbeit befassen sich mitunter mit konkreten inhaltlichen Versprechen und den jeweiligen Voraussetzungen und Folgen. Die Forschungen zur Geschichte und Soziologie wissenschaftlicher und akademischer Berufe, über professionelle Ethik, wissenschaftlichen Habitus, Wissenskulturen und Wissenschaftsrecht kommen der systematischen Bedeutung und Funktion von Versprechen und versprechensähnlichen Institutionen und Ritualen schon deutlich näher. Sie zeigen, dass Spannungen und Konflikte im arbeitsteiligen, kompetitiven und meritokratischen Wissenschaftssystem dazu führen, dass bestimmte Versprechen gegeben werden; und dass einige dieser Versprechen früher oder später zu allgemeinen sozialen, kulturellen und rechtlichen Normen gemacht werden. 


Obwohl diese Arbeiten das Hauptinteresse in der Regel auf andere Institutionen richten, können sie doch andeutungsweise vermitteln, wie sich die Institution des Versprechens in der wissenschaftlichen Praxis im Laufe der Geschichte verbreitet und ausdifferenziert, wer Versprechen geben kann, wer was verspricht und welche Funktionen das Versprechen in der modernen Wissenschaft und Wissensgesellschaft hat. Dieses schemenhafte Bild soll durch das Vorhaben der Kommission ›Wissenschaft und Werte‹ der Sächsischen Akademien der Wissenschaften schärfer konturiert werden. Im Hinblick darauf skizziere ich im Folgenden einen Begriff oder Idealtypus des Versprechens, der sich als analytisches Raster und Referenzmuster für die interdisziplinäre und vergleichende Erforschung versprechensförmiger und versprechensähnlicher Praktiken in der modernen Wissenschaft und Gesellschaft 
eignet.


Im weitesten Sinne handelt es sich beim Versprechen um ein Interak­tionsschema oder sozio-kulturelles Muster, das soziales Handeln symbolisch vermittelt. Versprechen sind Aussagen, womit der Versprechende sich gegenüber Dritten und sich selbst auf bestimmte Absichten und Ziele festlegt. Das Versprechen bindet den Versprechenden und bestimmt die Erwartungen und Ansprüche derjenigen, denen das Versprechen gegeben wird. Der Versprechende ist moralisch oder rechtlich verpflichtet, sich unter jeweils zu spezifizierenden Bedingungen um die Einlösung des Versprechens zu bemühen und Verantwortung für die Folgen seines Versprechens zu überneh
men.20 Das Versprechen ist ein »Mittel der Handlungskoordinierung«, das soziales Handeln bestimmt, dem ein besonders hoher Wert zugeschrieben wird;21 ein »Mittel zur Schaffung und Stabilisierung gegenseitiger nützlicher Verein­barungen über eine Zusammenarbeit«;22 also eine Institution (das heißt eine ­relativ verfestigte soziale Regel oder Spielregel), die das Handeln von Individuen, Organisation und Kollektivgruppen normiert, für Erwartungssicherheit sorgt und soziale Beziehungen auf Dauer stellt. Von manchen anderen Institutionen unterscheidet sich das Versprechen dadurch, dass es die Tätigkeit, die es reguliert, erst hervorbringen muss.23 Jenseits der konkreten Inhalte einer Vereinbarung ist das Versprechen eine »moralische Institution«, die »mehr enthält, als nur auf Übereinkunft und Eigeninteresse beruhende Handlungs
regeln.«24

Versprechen werden nach besonderen Versprechens-Regeln gegeben. Diese können historisch und kulturell jedoch in einer gewissen Bandbreite variieren. Die Versprechensregel im engeren Sinn lautet, dass derjenige, der etwas verspricht, sich, unter jeweils zu spezifizierenden Bedingungen, um die Einlösung des Versprechens zu bemühen hat.25 Ob und wie weit Einzelversprechen jemanden verpflichten, ergibt sich jedoch nicht allein aus der Versprechensregel. Die Kategorie des Versprechens ist unterbestimmt. Sie erhält ihre volle und reale Bedeutung erst im jeweiligen institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld.26 Entscheidend für die Art und Weise der Realisierung des Versprechens sind allgemeine Leitwerte und verfassungsmäßig anerkannte Prinzipien wie Individualität, Autonomie, Vertragsfreiheit, Gerechtigkeit, Treue und sozialer Ausgleich; sowie soziales Vertrauen,27 das auf Wertähnlichkeit sowie ähnlichen Erfahrungen und Erwartungen der beteiligten Akteure beruht.


Versprechen bedürfen der Sicherung durch individuelle und gesellschaftliche Garantien. Als äußere Garantien für das Einlösen von Versprechen fungieren formalisierte und sakralisierte Sonderversprechen gegenüber einer Dritt­instanz, wie der im Rahmen eines öffentlichen Rituals abgegebene Eid, die Verpflichtung gegenüber der Verfassung und den Normen des Völkerrechts sowie die jeweils herrschenden sozialen Konventionen und Tabus. Zu den individuellen Garantien für das Versprechen zählt u. a. das Selbstbild bzw. die Treue zu sich selbst. Laut herrschender Meinung kann ferner nur der­jenige ein Versprechen geben, der in der Lage und bereit ist, Verantwortung (respon­sibility) für das eigene Verhalten zu übernehmen und Rechenschaft über die Folgen abzulegen (accountability). »Wer glaubt, heute ein Versprechen zu geben, das er morgen bricht, ohne dass damit Konsequenzen verbunden sein werden, der hat die Praxis des Versprechens nicht verstanden«, argumentiert Hartmann.28 Nach Lahno können Versprechen nur mit Personen eingegangen werden, »die nicht in Verdacht stehen, systematisch gegen die Versprechens­regel zu verstoßen.«29 John Locke erklärt, dass nur ein freier Mensch mit einem eigenen Willen ein bindendes Versprechen geben kann und einhalten muss: »Gewaltsam und ohne alles Recht erzwungene Versprechen […] binden überhaupt nicht.«30 Liebsch hält in seiner kritischen Diskussion des Versprechens bei Friedrich Nietzsche fest, dass der Versprechende über sehr viel Souveränität sowie eine gewisse Voraussicht und Macht verfügen müsse, um sein Wort halten zu können. Nietzsche bezweifle angesichts der Ungewissheit der Zukunft, dass heute gegebene Versprechen überhaupt eingehalten werden können; da streng genommen niemand Macht über die Zukunft habe, könne der Einzelne nur beschränkt Garantien für die Einlösung des Versprochenen geben.31 Von da ist der Weg zu dem angesichts der Unrechtsregime, Kriege und Katastrophen des 20. Jahrhunderts von Teilen der Gegenwartsphilosophie diskutierten Zusammenhang von ›Versprechen und Verrat‹ nicht mehr weit.


Während sich die traditionelle Philosophie eher für die Funktion des Versprechens in den interindividuellen Beziehungen interessiert, konzentrieren sich prominente Vertreter der französischen Gegenwartsphilosophie wie Jacques Derrida und Emmanuel Levinas auf die Kritik an geschichtsphilosophischen Großversprechen für viele Menschen und ganze Gesellschaften. Marxisten zum Beispiel würden in »zutiefst prophetischem und messianischem Überschwang, der die irdische Lebenszeit der Menschen überspringt, […] ein transzendentes Heil […] versprechen«, das sie nicht garantieren könnten. Verbrecher verschiedenster Couleur hätten sich in verantwortungsloser Weise zu eigenmächtigen Vollstreckern einer als Heilsgeschichte verstandenen weltlichen Geschichtsentwicklung aufgeworfen, »um maßloseste Versprechen einer Zukunft in Aussicht zu stellen, über die sie doch jenseits ihrer beschränken Lebenszeit nicht verfügen konnten.«32

Wer ist angesichts einer ungewissen Zukunft in der Lage, langfristige, weitreichende und riskante Versprechen zu geben, zu halten und notwendigenfalls früher oder später glaubwürdig zu revidieren?33 Eine eher optimistische Antwort gibt hier Hannah Arendt, die davon ausgeht, dass die gesellschaftliche Ordnung und Zukunft ganz wesentlich dadurch bestimmt ist, dass Menschen von ihrer »Versprechenskapazität« Gebrauch machen, indem sie mit ihren auf die Zukunft zielenden »Versprechen und Vereinbarungen« in den Lauf einer Entwicklung eingreifen, die ansonsten »unabsehbar und unvoraussagbar alles verschlingen würde.«34 Wenn sie von Menschen spricht, denkt sie allerdings nicht zuerst an die Kategorie des Wissenschaftlers, die im folgenden Abschnitt wieder im Zentrum stehen wird. 


Festzuhalten bleibt am Ende dieser kursorischen Ausführungen über Träger, Formen, Funktionen, Folgen und Kontexte des Versprechens in der modernen Gesellschaft, dass es sich beim ›Versprechen‹ um einen spezifischen Modus der Motivierung sozialer Strategien und kultureller Prozesse handelt. Das Versprechen ist eine moralische, soziale, kulturelle und rechtliche Institution, deren Funktion darin besteht, den Versprechenden an einmal eingegangene Verpflichtungen zu erinnern (Selbstbindung), die Kooperation und Kommunikation zwischen dem Versprechenden und dem Adressaten des Versprechens zu regeln und so für Erwartungssicherheit in den sozialen Beziehungen zu sorgen. Versprechen drücken die wechselseitige Anerkennung von Ansprüchen, Rechten, Pflichten aus und orientieren das Handeln individueller und kollektiver Akteure. Versprechen vermitteln in den Spannungen zwischen dem Alten und dem Neuen, dem Eigenen und dem Fremden, können diese Spannungen aber auch verschärfen. Versprechen unterliegen nicht einer zentralen und einheit­lichen Kontrolle und fungieren trotzdem vielfach als Mittel der gesellschaftlichen ­Integration. Wenn sie schlecht begründet sind und nicht eingehalten werden, gefährden sie diese. Darauf verweist die Debatte über Versprechen und Verrat. 


4. Geschichte und Soziologie des Versprechens in der modernen Wissenschaft. Akteure, Formen, Funktionen und Kontexte


Die moderne Geschichte des wissenschaftlichen Versprechens beginnt in der vollen Breite und Tiefe um 1800. Beim historischen Übergang zur modernen Wissenschaft und Gesellschaft wird die politische Macht und kulturelle Deutungshegemonie der traditionellen weltlichen und geistlichen Autoritäten, die bis dahin die wichtigsten Adressaten von Versprechen – auch in der Wissenschaft – waren, radikal infrage gestellt. Im Zuge der Säkularisierung der Kultur, des radikalen Durchbruchs zu einer empirischen und experimentellen, begriffs- und dogmenkritischen Wissenschaft sowie zur Liberalisierung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen wandelt sich das Versprechen zu einem weitverbreiteten Mittel für die dezentrale Steuerung und Koordination sozialen Handelns. Versprechen zwischen Individuen und Organisationen spezifizieren und ergänzen fortan die allgemein verbindlichen sozialen Regeln und rechtlichen Normen.


Indem die Menge der Versprechensfähigen und Vertragsfähigen steigt und immer mehr Gelehrte und Gebildete Wissenschaft als ergebnisoffenen Prozess begreifen und Verantwortung für ihre eigenen wissenschaftlichen Versprechen und Handlungen übernehmen wollen, nimmt die Zahl und Vielfalt der gegebenen und einzulösenden Versprechen zu. In der modernen ergebnisoffenen und kompetitiven Wissenschaft bestätigen wissenschaftliche Versprechen das eine Mal konservative Vorstellungen und die herrschende Ordnung des Wissens und der Gesellschaft, das andere Mal geben sie das Zeichen zum Aufbruch in die Zukunft und fungieren als Motor des wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandels. Versprechen sind vieldeutig und polyfunktional.


Die liberale Gesellschaft erwartet von den Akteuren des wissenschaft­lichen Feldes, dass sie fähig und bereit sind, sich – in begründeten Fällen – von bisherigen wissenschaftlichen Gewissheiten zu distanzieren. Sie sollen im Hinblick darauf nicht nur standardisierte wissenschaftliche Basisversprechen geben, sondern in einem gewissen Maße auch opportunistische und spekulative Versprechen. Die Verantwortung des Wissenschaftlers und Bürgers gilt prinzipiell auch in diesen Fällen, wird aber in der sozialen Praxis abgestuft. Versprechen werden unter situativen und spekulativen Gesichtspunkten vari­iert, um sich im Wettbewerb um Macht, Prestige, Einfluss und Vermögen hervorzuheben und besserzustellen. Ab einem gewissen Punkt werden die Rationalisierungs-, Fortschritts- und Nützlichkeitsversprechen auch wieder zu konventionellen Rechtfertigungs-, Distinktions- und Integrationsritualen in einer ›entzauberten‹ säkularisierten Welt, in der ein überhöhter Begriff von Wissenschaft schließlich an die Stelle früherer religiöser Heilsversprechen und Erlösungsverheißungen tritt.


Ganz zentral ist in der modernen Wissenschaft immer wieder die Frage der symbolischen Darstellung und Kommunikation des Versprechens in der wissenschaftlichen Community und in der allgemeinen Öffentlichkeit. In der vormodernen Welt der Gelehrten war die Fähigkeit, Wissen darzustellen und zu vermitteln, ein zentrales Element der Ausbildung an den Universitäten und höheren Schulen. Die dort gelehrte Rhetorik informierte und reflektierte darüber, wie wissenschaftliche Inhalte durch Belehrung, Überzeugung und Unterhaltung vermittelt werden sollten. Die Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts führten zu einer stärkeren Forschungsorientierung im Studium und sorgten dafür, dass die Rhetorik aus dem universitären Curriculum entfernt und in den Sprach- und Literaturunterricht des Gymnasiums verschoben wurde. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Kommunikation vollzog sich fortan stärker in der Praxis bürokratisch, korporativ oder unternehmensförmig organisierter Wissenschaftsverwaltungen und -betriebe sowie in den sich rasch verbreitenden nationalen Wissenschaftler- und Berufsverbänden und deren Zeitschriften und Tagungen. Die neuen Darstellungen und Kommunikationsformen in der Wissenschaft waren einerseits durch den Anspruch der modernen Wissenschaft, universalistisches bzw. universell gültiges Wissen zu produzieren, geprägt, andererseits durch den Prozess der Nationalisierung von Kultur und Gesellschaft. Beides blieb für die Institutionalisierung und Inszenierung der Wissenschaft und die Rahmung wissenschaftlicher Versprechen nicht ­
folgenlos.


Der Mediziner und Anthropologe Rudolf Virchow (1821–1902) versprach, das Projekt der Verwissenschaftlichung der Nation (das heißt der Bildung und Stärkung des Nationalstaats mit wissenschaftlichen Mitteln) mit dem Projekt der Nationalisierung der Wissenschaft (das heißt der Institutionalisierung und Organisation der Wissenschaft im nationalen Maßstab) zu verbinden, ohne dabei die universellen wissenschaftlichen Standards zu provinzialisieren.35 Der Mediziner und Physiker Hermann von Helmholtz (1821–1894) verband das Versprechen der Naturwissenschaften mit dem Schicksal der Nation und des Menschen, als er 1862 postulierte: 


In der Tat bilden die Männer der Wissenschaft eine Art organisierte Armee. Sie suchen zum Besten der Nation und fast immer in deren Auftrag und auf deren Kosten, die Kenntnisse zu vermehren, welche zur Steigerung der Industrie, des Reichthums, der Schönheit des Lebens, zur Verbesserung der politischen Organisation und der moralischen Entwicklung der Individuen dienen können.36

Und der Biologe und Chemiker Louis Pasteur (1822–1899) verband das Fortschrittsversprechen der Naturwissenschaften und Chemie mit den Versprechen des französischen Patriotismus und Republikanismus sowie industriellen und berufsständischen Interessen, wenn er forderte, dass die französische Wissenschaft in der Konkurrenz mit den deutschen Natur- und Ingenieurswissenschaftlern, im Kampf der Nationen auf dem Gebiet der Chemie, vom eigenen Staat stärker unterstützt werden müsse. Die deutschen Labors und Universitäten seien besser ausgestattet, die Forschung werde dort höher geschätzt.37

Im Zeitalter des modernen nationalen Territorialstaats strukturieren Versprechen der Wissenschaft so den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, recht­lichen und kulturellen Raum. Umgekehrt ist der Inhalt der wissenschaftlichen Versprechen durch die räumliche Struktur der gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Die Geschichte der situativen, opportunistischen und spekulativen Zusatzversprechen geht im 20. Jahrhundert im Kontext der verschiedenen politischen Systeme, der wirtschaftlichen und kulturellen Konkurrenz sowie der Spannungen zwischen partikularen und universellen Werten, Nationalisierung und Globalisierungstendenzen in vielfältigen Formen weiter, kann hier aus Platzgründen aber nicht weiter verfolgt werden. Seit einigen Jahrzehnten erlebt auch die wissenschaftliche Kommunikation aufgrund des medialen Wandels und der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Kommunikationswissenschaften einen neuen Schub bzw. Aufschwung, der für die gegenwärtige ›Kultur des Versprechens‹ nicht folgenlos geblieben ist und bleiben wird.


Festzuhalten bleibt: Wissenschaftliche Versprechen dienen dazu, die Beziehungen innerhalb der sich immer weiter ausdifferenzierenden Wissenschaft zu regeln und auf Dauer zu stellen, Aufgaben, Rechte und Pflichten zuzuweisen und die Beziehungen zwischen dem wissenschaftlichen Feld und anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik und Recht zu koordinieren. Große und kleine Versprechen übernehmen vielfältige Funk­tionen in der Stimulierung und Sanktionierung wissenschaftlicher Prozesse sowie in der Regulierung der Innen- und Außenbeziehungen der Wissenschaft. Versprechen helfen, den Hegemonieanspruch wissenschaftlicher Bewegungen, Schulen und Paradigmata zu begründen. Sie unterstützen die Herausbildung, Emanzipation und Verfestigung wissenschaftlicher Disziplinen, die Macht- und Überlegenheitsansprüche von Berufsgruppen, Wissenschaftskulturen, Weltanschauungs-Milieus, Staaten und Zivilisationen.


Die moderne Wissenschaft braucht die sozio-kulturelle Institution des Versprechens, da die allgemeinen Regeln der Wissenschaft und das auf der Ähnlichkeit der Werte beruhende Vertrauen unter den Akteuren nicht ausreichen, um die Kooperation in einem hochgradig differenzierten und dynamischen Feld auf Dauer zu stellen. Versprechen sind das Schmiermittel, das den modernen – arbeitsteiligen, leistungsorientierten, personal- und kapitalintensiven, teils wettbewerbsförmig, teils bürokratisch und teils berufsständisch korporativ organisierten – Wissenschaftsbetrieb am Laufen hält. Wissenschaftler und Organisationen der Wissenschaft verwenden und variieren das Versprechen, um sich in der modernen Gesellschaft, die Forschung und Entwicklung als ergebnisoffenen – theoriegeleiteten, experimentellen und empirisch fundierten oder theorie-, dogmen- und begriffskritischen – Prozess begreift, darzustellen und zu positionieren.


Versprechen explizieren, variieren und ergänzen die formalisierten Regeln wissenschaftlichen Verhaltens. Bei vielen wissenschaftlichen Versprechen handelt es sich um vergleichsweise informelle freiwillige moralische Vereinbarungen oder Kommunikationsrituale. In der Hierarchie der Muss-, Kann- und Soll-Regeln werden sie öfter den verhandelbaren ›moralischen‹ oder ­›sozialen‹ Kann- und Soll-Normen zugeordnet. Durch vertragliche Fixierung sowie Unterfütterung durch allgemeinverbindliche Konventionen und soziale Zwänge steigt dann allerdings der Grad der Selbstbindung und der sozialen Verbindlichkeit. In der institutionellen und organisatorischen Ordnung der Wissenschaft und Gesellschaft fungieren informelle Versprechen als Medien der Steuerung oder Koordination sozialer, kultureller, wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Prozesse. Sie ergänzen privat- und kollektivvertragliche Abmachungen, das heißt reziproke rechtsverbindliche Versprechen. Sie moralisieren das Verhalten der Akteure, bestimmen es mithilfe von Gesichtspunkten wie wissenschaftlicher und kultureller Fortschritt, unternehmerisches Gewinnstreben, gesellschaftlicher Wohlstand, Allgemeinwohl oder Menschenwürde. Sie regeln so den Sinn und die Richtung sozialen Handelns in der arbeitsteilig, betrieblich und wettbewerbsförmig organisierten Wissenschaft, Wissensindustrie und Wissensgesellschaft. Sie fungieren als Mittel der Feinsteuerung und Grobsteuerung kognitiver und emotionaler Beziehungen.


Besonders wichtig, aber auch besonders anspruchsvoll, störungsanfällig und riskant sind Versprechen zwischen Partnern, die verschiedenen Funktionssystemen mit spezifischen Codes (wie Wirtschaft, Recht, Kultur, Politik) oder unterschiedlichen Kulturen und Zivilisationen angehören. An den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit sowie zwischen der Wissenschaft und der Politik gehört das Versprechen zu den Institutionen, die Brücken schlagen können und neue Koo­perationen und Hierarchien begründen. Für die Bedeutung und Funktion von Versprechen bleibt nicht folgenlos, dass sich im Zuge der Globalisierung der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen seit zwei Jahrhunderten periodisch und zyklisch die Konkurrenz zwischen sogenannten eigenen und fremden sozialen Stilen und kulturellen Mustern verschärft.


Versprechen sollen und müssen unter den Bedingungen permanenten Wandels und der Entgrenzung der Kooperation und Kommunikation für Orien­tierung und relative Erwartungssicherheit in den sozialen und kulturellen Beziehungen sorgen. Der Wettbewerb um Ressourcen, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Macht und Einfluss kann nicht bloß mithilfe allgemeiner Diskurse, Institutionen, moralische Konventionen und alltäglicher Gewohnheiten ausgetragen werden. Er wird vermehrt mithilfe zusätzlicher und weiterreichender Versprechen ausgetragen. Wer die Zukunft besser vorherzusehen vermag oder stärker beeinflussen, planen und gestalten kann, kann nicht nur bessere Versprechen machen, sondern diese auch besser realisieren.


Versprechen sind in der Wissenschaft, wie in anderen Lebensbereichen, ein Instrument der Verzeitlichung. Sie bilden Erfahrungen und Erwartungen ab. Sie entwerfen die Abfolge und Verknüpfung von Handlungen, Ereignissen, Prozessen und Ergebnissen im Zeitverlauf. Wissenschaftliche Versprechen strukturieren die Zeithorizonte der Wissenschaft, der Akteure des wissenschaftlichen Feldes, aber auch der Gesellschaft insgesamt. Umgekehrt ist das wissenschaftliche Versprechen durch dominante gesellschaftliche Erfahrungs- und Erwartungshorizonte bestimmt. Versprechen dienen der Reduktion von Ungewissheit, indem sie die künftige Zeit strukturieren. Versprechen können nur für Dinge und Zeiträume gegeben werden, die vom Versprechenden wie vom Adressaten des Versprechens für möglich bzw. absehbar gehalten 
werden.


In der Geschichtswissenschaft interessiert das wissenschaftliche Versprechen zum einen als historisches Phänomen im Hinblick auf seine Bedeutung und Funktion im jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext, zum anderen im Hinblick auf die Frage, wie Akteure und Wissenschaftler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden.38 Wer die Zukunft bloß für eine lineare Verlängerung der Gegenwart und Vergangenheit, das heißt als gedehnte Gegenwart betrachtet, hält die Ungewissheit für geringer und glaubt deshalb mehr und für längere Zeiträume versprechen zu können. Wer dagegen meint, dass sich die Zukunft radikal von der Gegenwart unterscheiden wird, wird sich bei seinen Versprechen entsprechend zurückhalten – oder besonders kräftig spekulieren. Viele Wissenschaften berücksichtigen diese zeitlichen und geschichtlichen Implikationen des Versprechens indessen gar nicht und immunisieren ihre Aussagen mithilfe von ceteris-paribus-Klauseln oder mit dem Verweis auf gleichbleibende menschliche Eigenschaften.


5. Wer verspricht in der Wissenschaft? 


Die Frage, wer in der Wissenschaft Versprechen gibt und prinzipiell fähig ist, diese einzulösen, habe ich ansatzweise bereits beantwortet; sie soll abschließend noch einmal vertieft und konkretisiert werden. Zunächst und an erster Stelle sind es Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, zu deren beruflichen Rolle und Einstellung das Machen von Versprechen ein Stück weit gehört. In der modernen Leistungsgesellschaft ist der systematisch ausgebildete und zertifizierte Wissenschaftler und Professional für die Darstellung seiner Kenntnisse, Tätigkeiten, Ambitionen und Pläne zuständig. Die Fähigkeit, Versprechen geben zu können, ist grundsätzlich durch nachgewiesene wissenschaftliche Kompetenzen, die im fachlichen und beruflichen Milieu vermittelten Einstellungen und sozialen Stile sowie Erfahrungen und Erwartungen bestimmt.


Weiterreichende Versprechen für die Wissenschaft, das wissenschaftliche Feld und angrenzende Bereiche werden eher von Professoren, Leitern von Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen, Unternehmen, Wissenschaftsverbänden und großen Wissenschaftsstiftungen39 und Politikern gegeben.


Wenn Wissenschaftler und andere Akteure des wissenschaftlichen Feldes etwas versprechen, beziehen sie sich dabei entweder auf ihren beruflichen, fachlichen und sozialen Status als Wissenschaftler; oder auf die ›Wissenschaft‹ als besonderes Funktionssystem mit eigenen Regeln und Codes, Zuständigkeitsansprüchen und Abgrenzungsmechanismen; oder auf die Wissenschaft als hybrides soziales Feld, wie im Fall der ›Wissensindustrien‹ oder der ›Wissensgesellschaft‹; oder auf ›Wissenschaftlichkeit‹ im Sinne spezifischer Verfahren für die theoriegeleitete, empirisch fundierte, methodisch qualifizierte oder begriffskritische Analyse und Bewertung materieller und immaterieller Ereignisse, Prozesse und Strukturen.


Die Art und Reichweite des jeweiligen Versprechens sowie die Chance, dieses einlösen und bei Bedarf revidieren zu können, sind in hohem Maße durch die sozio-ökonomische Stellung (als Unternehmer, Angestellter, Beamter), die Funktion (als Spezialist oder als Generalist, als quasi-souveräner Einzelforscher in einer Nische oder als Rädchen in einer Großabteilung), die hierarchische Position und den Grad der Autonomie bestimmt. Autonomie der Wissenschaft meint nicht, dass der einzelne Wissenschaftler autonom Versprechen geben kann. Sie verweist vielmehr auf den Anspruch bestimmter Qualifikations- und Funktionsgruppen sowie Organisationen und Teilsysteme, selbständig zu entscheiden, was, warum wie und wann versprochen wird; oder wenigstens an der Formulierung und Einlösung von Versprechen zu partizipieren.


Die Fähigkeit, Bereitschaft und Zuständigkeit, wissenschaftlich fundierte Versprechen zu geben und einzuhalten, gehört zum Selbstbild und Fremdbild des Wissenschaftlers und der Wissenschaftlerin. Von diesen wird erwartet, dass sie im Sinne von Hannah Arendt mit ihren auf die Zukunft zielenden »Versprechen und Vereinbarungen« in den Lauf einer Entwicklung eingreifen, die ansonsten »unabsehbar und unvoraussagbar alles verschlingen würde.«40 Dazu gehört auch, dass sie neben standardmäßigen und situativen Versprechen in einem gewissen Maße auch spekulative Versprechen machen, die über das engere wissenschaftliche Anliegen hinausgehen, nicht leicht einzuhalten sind oder ständig an neue Entwicklungen angepasst werden müssen. Riskieren sie, wenn sie solche Versprechen nicht einhalten können und daraus unerwartete Schäden entstehen, als Verantwortungslose und Wortbrüchige betrachtet zu werden und ihre Glaubwürdigkeit, Ehre und Existenz zu verlieren? Werden sie mit den oben erwähnten ›Geschichtsphilosophen und deren Jüngern, die in prophetischem und messianischem Überschwang, der die irdische Lebenszeit der Menschen überspringt, ein transzendentes Heil versprechen‹ gleichgesetzt? 


In besonders krassen Fällen vielleicht schon, in der Regel aber nicht. Denn die Akteure des wissenschaftlichen Feldes rechnen gewöhnlich damit, dass sie ihr Versprechen nur partiell einhalten können, es früher oder später revidieren oder gar brechen müssen. Auch die Umwelt rechnet ein Stück weit mit dem Risiko des Scheiterns. Im Falle des durch öffentliche Mittel alimentierten Forschungs- und Wissenschaftsbetriebs wird das investierte Vermögen öfter als Risikokapital angesehen; oder als Instrument der nationalen und regionalen Wirtschafts- und Standortförderung, als Investition in die Ausbildung der Jugend, die Human resources und die ›Zukunft‹ deklariert. Die offensichtliche Nichteinlösung wissenschaftlicher Versprechen wird, wenn sie entdeckt wird, mit Maßnahmen wie Nichtbeförderung, Versetzung, Entlassung oder Nichtwiederwahl sanktioniert.


In den privatwirtschaftlich organisierten Bereichen der Wissenschaft und in den kapitalistischen Wissensindustrien gilt im Allgemeinen die Regel, dass die Nichteinlösung wissenschaftlicher Versprechen ›durch den Markt bestraft wird‹. Das heißt, dass private Investoren ihr Risikokapital abschreiben und die Verantwortlichen den Hut nehmen müssen. Die tatsächlichen Kontrollen und Sanktionen sind vermutlich aber gerade in den dynamischen Wissensindustrien, 
die hohe Gewinne versprechen, weniger klar. Auch in der Wissenschaft kann das einmal gescheiterte ›Versprechen‹ in leicht geänderter Form wiederholt und ein zweites und drittes Mal in der Öffentlichkeit und auf den Kapitalmärkten lanciert werden. Finanziell aufwändige und professionell betriebene Kommunikationsstrategien können dabei helfen, das revidierte oder besser verpackte wissenschaftliche Vorhaben in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen und Anleger zu gewinnen, die das wissenschaftlich und kommerziell spekulative Versprechen annehmen.


Wissenschaftler, Interessenverbände, Staaten, Nichtregierungsorganisa­tionen und internationale Organisationen sind, im nationalen und globalen Maßstab, permanent damit befasst, sich über Regeln und Normen zu verständigen, welche die Berechenbarkeit des Verhaltens und die Erwartungssicherheit in den wissenschaftlichen Beziehungen erhöhen. Nicht nur in besonders dynamischen Zeiten und angesichts einer sich immer weiter entgrenzenden Wissenschaft und Welt hinkt die Entwicklung, Verbreitung und Durchsetzung von Leitbildern, Kontrollverfahren und Haftungsregeln für die Bewertung der Inhalte und Folgen wissenschaftlicher Versprechen der Praxis hinterher. Die Lücke zwischen der Regulierung und Praxis ist eher die Regel. Über die Kriterien für das Geben und Einlösen ›guter‹ wissenschaftlicher Versprechen und die damit verbundenen Fragen der Verantwortung und Haftung mag es in einer gewissen Bandbreite sogar Konsens geben. Eine zu feinmaschige Regulierung wünschen aber gerade die Wissenschaftler nicht, da sie befürchten, dadurch ihre Freiheit des Versprechens, die sie für ein konstitutives Moment wissenschaftlicher Autonomie und Dynamik halten, zu verlieren.


  1. 1Überarbeitete Fassung des Vortrags vom 13. Juni 2013 in der Kommission »Wissenschaft und Werte« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Ich danke den Mitgliedern der Kommission für kritische Kommentare und Anregungen.

  2. 2Das ist das Leitthema der Kommission für die Periode 2012–2016.

  3. 3Siehe dazu die folgenden Publikationen, die aus Vorträgen in der Kommission hervorgegangen sind: Heinz Thoma, »Das Fortschrittsversprechen der Aufklärung und die Kulturkritik von Rousseau«, inDenkströme 10 (2013), S. 26–45; sowie die Beiträge von Peter Kunzmann und Cornelius Weiss im vorliegenden Heft.

  4. 4Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979; Georg Simonis (Hg.), Konzepte und Verfahren der Technikfolgenabschätzung, Wiesbaden 2013.

  5. 5Vgl. aktuell dazu Stefan Kühl, »Abschied von der Belohnung ›guter Pläne‹. Plädoyer für eine grundlegende Umstellung der Forschungsförderung«, inForschung und Lehre, 21/2 (2014), S. 100–102; Jürgen Gerhards, »Deutscher Sonderweg. Drittmittel als ›Ersatzmessung‹ der eigentlichen Leistungen«, in ebd., S. 104 f.

  6. 6Ich verweise hier auf den am 9. Januar 2014 in der Kommission für Wissenschaft und Werte gehaltenen Vortrag von Rüdiger Lux zum Thema »Versprechen und Verheißung als Konstriktion von Geschichte. Überlegungen zur biblischen Geschichtshermeneutik und ihrer Gegenwartsrelevanz«. Als erster Einstieg nützlich: Christoph Rösel, Verheißung/Erfüllung, http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/14477 (3.3.2014).

  7. 7http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/100-jahres-vergleich-die-unerfuellten-versprechen-der-medizin-a-737494.html (3.3.2014).

  8. 8»Mensch und Technologie. Das Versprechen ewigen Lebens«, inSpiegel Online Wissenschaft, 24.8.2010, http://spiegel.de/wissenschaft/mensch/mensch-und-technologie-das-versprechen (04.10.2013) unter Verweis auf den Interviewband von Roman Brinzanik und Thomas Hülswitt, Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie, Berlin 2010.

  9. 9Dagegen argumentiert: Felix Tretter, »Brücke zum Bewusstsein. Warum es sich lohnt, das Gehirn einzuschalten, bevor man selbiges erforschen will«, inDer Spiegel, 9/2014, S. 122 f.

  10. 10Darunter verstehe ich hier nicht nur die Geschichtswissenschaft im engeren Sinn, sondern auch die historischen Forschungsrichtungen in anderen Disziplinen.

  11. 11Dazu und zum Folgenden, wo nicht anders angemerkt, die folgenden neueren Überblickswerke, Monografien, Reader und Aufsätze: Burkhard Liebsch, Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, Freiburg/München 2008; Gerald Hartung, »Zur Genealogie des Versprechens. Ein Versuch über die begriffsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen der modernen Vertragstheorie«, in Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – 
Institution – Sprechakt, München 2005, S. 277–294; Bernd Lahno, »Treue als künstliche ­Tugend. Humes Theorie der Institution des Versprechens«, in ebd, S. 201–218; ders., Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend, München/Wien 1995; Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011.

  12. 12In den meisten neueren soziologischen Handbüchern, Wörterbüchern und Enzyklopädien fehlt der Begriff Versprechen. Liebsch erwähnt in seiner umfassenden und einzelne Autoren kritisch kommentierenden Sozialphilosophie des Versprechens als letzten Soziologen noch Émile Durkheim (1858–1917). Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 113–116.

  13. 13Hermann Baltensberger, Eid, Versprechen und Treueschwur bei den Angelsachsen, Zürich 1920 (klassisch, aber antiquiert).

  14. 14Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 96.

  15. 15Christoph Seibert, »Versprechen und Verzeihen. Zwei Grundbegriffe unseres ethischen Selbstverständnisses«, inZeitschrift für Theologie und Kirche, 109 (2012), S. 70–95.

  16. 16Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 26, im Anschluss an John L. Austin und Ludwig Wittgenstein.

  17. 17Hartmann, Praxis des Vertrauens (Fn. 11), S. 321, im Anschluss an John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1971, S. 84.

  18. 18Manfred Schneider, »Dem Versprechen ent-sprechen. Kontraktuelle Sprachmanöver«, in ders. (Hg.), Die Ordnung des Versprechens. (Fn. 11), S. 395–419.

  19. 19Jürgen Fohrmann und Helmuth J. Schneider (Hg.), 1848 und das Versprechen der Moderne, Würzburg 2003.

  20. 20Hartmann, Praxis des Vertrauens (Fn. 11), S. 320–324; Lahno, Versprechen (Fn. 11), S. 1–6; Robert B. Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt a. M. 2000, S. 248 f., 293; Eckard Rolf, »Das Versprechen in der Sprechakttheorie«, in Schneider, Die Ordnung des Versprechens. (Fn. 11), München 2005, S. 41–56, hier bes. S. 48–52.

  21. 21Hartmann, Praxis des Vertrauens (Fn. 11), S. 320.

  22. 22John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 382.

  23. 23Liebsch,Versprechen (Fn. 11), S. 171.

  24. 24Lahno, Versprechen (Fn. 11), S. 4.

  25. 25Ebd.

  26. 26Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 177 f.; Rawls, Gerechtigkeit (Fn. 22), S. 382.

  27. 27Hartmann, Praxis des Vertrauens (Fn. 11), S. 321; Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 42000; Michael Siegrist und Heinz Gutscher, »Perception of risk. The influence of general trust, and general confidence«, in Journal of Risk Research 8/2 (2005), S. 145–156.

  28. 28Hartmann, Praxis des Vertrauens (Fn. 11), S. 315.

  29. 29Lahno, Versprechen (Fn. 11), S. 2.

  30. 30John Locke, Über die Regierung, Stuttgart 1992, S. 144.

  31. 31Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 110 f.

  32. 32Ich übernehme hier die referierende Darstellung der Positionen von Jacques Derrida und von Emmanuel Levinas von Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 209–222, insbes. S. 217 f.

  33. 33Liebsch, Versprechen (Fn. 11), S. 196. 

  34. 34Hannah Arendt, Über die Revolution, München/Zürich 41994, S. 227.

  35. 35Constantin Goschler, »Deutsche Naturwissenschaft und naturwissenschaftliche Deutsche. Rudolf Virchow und die deutsche Wissenschaft«, in Ralph Jessen und Jakob ­Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a. M. 2002, S. 97–114.

  36. 36Zit. nach Ralph Jessen und Jakob Vogel, »Einleitung. Die Naturwissenschaften und die Nation. Perspektiven einer Wechselbeziehung in der europäischen Geschichte«, in dies., Wissenschaft und Nation (Fn. 35), S. 7–37, hier S. 24.

  37. 37Ulrike Fell, »Die Chemiker im Frankreich der dritten Republik. Die doppelte Konstruktion von nationaler und professioneller Identität«, in Jessen und Vogel, Wissenschaft und Nation (Fn. 35), S. 115–142, hier S. 118–120.

  38. 38Chris Lorenz und Berber Bevernage (Hg.), Breaking up time. Negotiating the borders between present, past and future, Göttingen 2013.

  39. 39John Krige und Helke Rausch (Hg.), American foundations and the coproduction of world order in the twentieth century, Göttingen 2012.

  40. 40Arendt, Über die Revolution (Fn. 34), S. 227.
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