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Landeskunde als interdisziplinäre Regionalforschung

In einer Zeit, in der vielfach auf das Phänomen »Globalisierung« mit seinen Einflüssen auf eine veränderte Lebenswirklichkeit verwiesen wird, benötigen wir neben der Betrachtung dieser globalen Einfluss-Sphären und den damit verbundenen Veränderungen für unseren Alltag zugleich auch eine verstärkte Rückbesinnung auf jene Rahmenbedingungen, die den engeren Lebensraum prägen und mindestens gleichrangig auf uns einwirken. Daher erlangt die Beschäftigung mit Aspekten der regionalen Identität, regionaler Entwicklungspotentiale u. ä. wieder zunehmende Bedeutung – verbunden mit einer gezielten Förderung von Landeskenntnis und kultureller Wertorientierung.

Eine historische Rückblende auf die Behandlung derartiger Themen unter dem Oberbegriff Landeskunde zeigt, dass wissenschaftliche Untersuchungen zur regionalen Analyse und Bewertung raum-zeitlicher Phänomene in unserer Kulturlandschaft im deutschen Sprachraum auf eine über 125-jährige Tradition zurückblicken können. Bereits 1882 wurde eine »Centralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland« (übrigens in Halle/Saale im Rahmen des Zweiten Deutschen Geographentages) gegründet, welcher zugleich die Aufgabe übertragen wurde, Ergebnisse über das Werden, den aktuellen Zustand oder die zukünftige Entwicklung von territorial oder thematisch abgegrenzten Räumen zu veröffentlichen (seit 1885 in den Forschungen zur deutschen Landeskunde). Über einen 1948 gebildeten »Zentralausschuß für deutsche Landeskunde« führte die organisatorische Anbindung des Themas seit 1995 zur »Deutschen Akademie für Landeskunde«, die gegenwärtig ihren Sitz in Leipzig hat.

So überrascht es nicht, dass auch die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig auf eine bewährte Tradition im Umgang mit den Themen Landeskunde und Heimatforschung verweisen kann, erinnert sei nur an die dialektgeographischen Arbeiten im Rahmen sprachwissenschaftlicher Forschungen von Altpräsident Theodor Frings und von Rudolf Große oder an wichtige Beiträge von Akademiemitgliedern wie Rudolf Kötzschke (Landesgeschichte) oder Adolf Spamer (Volkskunde). Ebenso muss die Mitwirkung der Geographen Ernst Neef und Edgar Lehmann (ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre) genannt werden, welche die Akademie in einer Kommission für Heimatforschung bei der damals noch »Deutsche Akademie der Wissenschaften in Berlin« genannten Institution vertraten. Dort wirkten sie an der 1957 begonnenen Herausgabe der Buchreihe »Werte der Deutschen Heimat« verantwortlich mit, einer Buchreihe, die sich der heimatkundlichen Landesaufnahme und Inventarisation landeskundlicher Phänomene widmet.

Um die bewährten Formen der Bestandsaufnahme für eine landeskundliche und heimatkundliche Inventarisation in den mitteldeutschen Ländern (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) zu unterstützen, wurde nach der Wiedervereinigung 1992 an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eine Kommission für Landeskunde gegründet, die sich neben einer fachlichen Begleitung der seit dem Jahre 2000 »Landschaften in Deutschland – Werte der deutschen Heimat« genannten Buchreihe u. a. mit der Entwicklung einer Methodologie für die landeskundliche Regionalanalyse sowie der laufenden Beobachtung und Auswertung des landeskundlichen Forschungs- und Datenbestandes beschäftigt.

Aber auch die Landeskunde selbst, mit ihrer Zielstellung, »Land und Leute« in einem bestimmten Raum (Land, Landkreis, Natur-, Wirtschafts- oder Kulturraum) zu beschreiben, hat in den vergangenen Jahrzehnten eine präzisierte inhaltliche Standortbestimmung erfahren. War anfänglich (Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts) noch zwischen »amtlicher« Landeskunde als Aufgabe des Staates mit statistisch-inhaltlichen Übersichten (Topographie, administrative Strukturen und Verwaltung, Natur- und Wirtschaftsdaten u. ä.) und einer »freien« Landeskunde, die sich einer Inventur der uns umgebenden Kulturlandschaft widmen wollte, unterschieden worden, so tendierte diese Zweiteilung vielfach nur zu einem rein enzyklopädischen Typ von Landeskunde mit betonter Zielsetzung für Fremdenverkehr und Tourismus. Das führte zu einer Vorstellung, speziell in der Geographie, dass Landeskunde im Sinne von Länderkunde (Regionale Geographie) zu gelten habe, worunter die analytische und synthetische Behandlung abgrenzbarer Räume (Landschaften oder Länder) zu verstehen war; aber auch zu einer Vorstellung der Geschichtswissenschaft, dass man zur Aufhellung und Erklärung der Landesgeschichte zwingend auf landeskundliche Tatbestände angewiesen sei, weil diese vielfach die geschichtliche Entwicklung erst verständlich machten. Beide Ansätze können in heutiger Zeit den komplexen Gegenstand nicht mehr ausreichend erfassen.

Nach zahlreichen Wendungen in der Definition und Abgrenzung für das, was Landeskunde denn nun sein soll, kristallisiert sich zunehmend als übereinstimmende Sicht heraus, unter Landeskunde die Erfassung und Kennzeichnung eines Ausschnitts der Erdoberfläche zu verstehen, welcher sowohl die naturgegebenen Strukturen als auch die darin lebenden Menschen, ihre Geschichte und ihre raumgestaltenden Aktivitäten (Siedlungen, Verkehr, Kultur usw.) umfasst. Damit rückt aus gegenwärtigem Verständnis auch begrifflich die Kulturlandschaft ins Zentrum aller Beschäftigung mit Landeskunde, so dass sie nur in einem interdisziplinären Ansatz verstanden werden kann, denn weitgehend unstrittig bezeichnet Kulturlandschaft Inhalt und Wesen eines von der Naturausstattung vorgezeichneten und durch die Gesellschaft beeinflussten und gestalteten Raumes bzw. Raumausschnittes der Erdoberfläche. Die Beschreibung eines derartigen Ausschnittes kann, gleich, ob es sich nun um ein Land oder einen Landkreis, einen Kultur- oder Wirtschaftsraum, ein ausgedehntes Siedlungsareal oder eine Gebirgsregion handelt, stets als landeskundliche Darstellung verstanden werden, d. h. es geht um das Anwendungsfeld der in der Regionalforschung verbundenen Disziplinen, die sich mit den natürlichen, wirtschaftlichen, historischen, sozialen oder kulturellen Bedingungen des jeweiligen Beispiel- oder Bezugsraumes beschäftigen. Eine kurze, aber etwas spröde Definition für die Ziele von Landeskunde in dem benannten Sinne hat Wolf (1995)1 gegeben, als er schrieb: »Landeskunde ist das Zusammenspiel ökonomischer Produktion, kultureller Muster, politischer Beziehungen und Machtausübung, vor dem Hintergrund natürlicher Ressourcen.«

Eine besser verständliche und bildhafte Vorstellung von Landeskunde gibt Seedorf (1992)2, wenn er sagt: »Landeskunde ist ein Wissensgebiet, um eines Landes kundig zu sein; Landeskunde ist ein Forschungsgebiet, um ein Land zu erkunden und es ist ein Lehrgebiet, um vom Lande künden zu können«, was in der Tat im Zusammenklang aller drei Aspekte den Einblick in ein Landesbild und damit Landeskenntnis ergibt.

Insofern stellen alle wissenschaftlichen Betätigungsfelder in Raumgebilden und Raumausschnitten auch originäre Gegenstände landeskundlicher Arbeit dar, in der neben der früher dominierenden geographischen Landeskunde oder der Landes-/Regionalgeschichte konsequenterweise auch Archäologie, Sprachwissenschaft, Namenkunde und Dialektologie, Denkmalpflege/ Kunstgeschichte, Volkskunde/Kulturwissenschaft, Raumordnung/Raumplanung u. a. berücksichtigt werden müssen.

Die regionale Verankerung der Forschungsansätze verschiedener Wissenschaftsdisziplinen im analytischen Verständnis der uns umgebenden Kulturlandschaft erfolgt zugleich unter dem Aspekt, dass die Ergebnisse adressatenorientiert dokumentiert werden müssen – diesem Kriterium haben sich die in der Landeskundekommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zusammengeschlossenen Disziplinen stets verpflichtet gesehen. Moderne Landeskunde behandelt daher naturräumliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen aus Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Bedeutung für eine Abschätzung zukünftiger Entwicklungen. In besonderer Weise geht es dabei auch um Bildungsfunktionen, die Förderung von Landesbewusstsein und kultureller Wertorientierung sowie um die Herausarbeitung von Entwicklungspotentialen für eine noch zielgerichtetere Einflussnahme landeskundlicher Arbeiten auf die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme, die besonders an die Kriterien Raum und Zeit gebunden sind. Aus dem Gesagten geht wohl auch unschwer hervor, dass eine solche Kennzeichnung von Raumausschnitten mit ihrem komplexen Wirkungsgefüge aus natürlichen, ökonomischen, historischen und kulturellen Sachverhalten hohe Ansprüche an die Darstellung dieser Zusammenhänge stellt, weshalb nicht ohne Grund Haase/Scholz (1994)3 davon sprachen, Landeskunde erfordere in hohem Maße die »Kunst der Darstellung«.

Landeskunde besitzt daher einen hohen Stellenwert hinsichtlich der notwendigen Besinnung auf die kulturlandschaftliche Vielfalt und Eigenart. Die eingangs erwähnten Globalisierungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft sind häufig verbunden mit dem Verlust vertrauter Elemente und Strukturen der uns umgebenden Lebenswirklichkeit. Insofern ist die Kulturlandschaft als Erbe und Lebensraum der Gesellschaft zugleich der Hort für die Bewahrung kulturhistorischer Werte, des noch verbliebenen Reichtums von Natur und Landschaft, der Baudenkmale, der Sprache und anderer Elemente der uns umgebenden Realität.

Die rhetorische Frage »Wie viel Landeskunde braucht das Land?« darf ohne Übertreibung so beantwortet werden, dass es auf jeden Fall mehr sein sollte als gegenwärtig zu erleben, denn z. B. die Heranführung der jungen Generation an das Wissen um die Herkunft einerseits und andererseits der davon weitgehend abhängigen Zukunft, ist wohl noch stark unterentwickelt mit der Folge, dass gerade die junge Generation zu großen Teilen sich nur unzureichend mit ihrer Region identifiziert und dort im positiven Sinne heimisch fühlt. Insofern ist Beschäftigung mit landeskundlichen Ergebnissen aus dem Handlungs- und Identifikationsraum unserer Kulturlandschaft ein notwendiger Bildungsbaustein. Eine solche Aufgabe formuliert übrigens ganz nachdrücklich die Landschaftskonvention des Europarates aus dem Jahre 2000, die allerdings Deutschland als eines der wenigen europäischen Länder bis heute nicht ratifiziert hat. Abgesehen von diesem bedauerlichen Umstand, bleibt die Aufforderung zum Handeln unbestritten, das umfangreiche Erbe und die Eigenarten und Schönheiten in unseren Landschaftsräumen zu erhalten und sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. Für diese Zielstellung hat sich die Kommission Landeskunde der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in den vergangenen Jahren eingesetzt, um zu erreichen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Bestandsaufnahme unserer Kulturlandschaft auch Anwendung in der Siedlungs-, Regional- und Landesentwicklung, der Wirtschaft, bei Naturschutz und Landschaftspflege, im Denkmalschutz, im Bildungssektor sowie der Politikberatung finden.

Im vorliegenden Heft 6 der »Denkströme« sind zur Stärkung des Gedankens landeskundlicher Forschung Beiträge zur Landesgeschichte, zur Denkmalpflege, zum Wandel von Siedlungsstrukturen im ländlichen Raum sowie zur Ur- und Frühgeschichte ausgewählt, denen in den kommenden Heften weitere Beiträge aus der Sicht der in der Regionalforschung verbundenen Wissenschaftsdisziplinen folgen sollen.

  1. 1Klaus Wolf, »Ziel und Aufgaben der geographischen Landeskunde«, inHallesches Jahrbuch für Geowissenschaften R.A., Bd. 1, Gotha 1995, S. 18–20.
  2. 2Hans-Heinrich Seedorf,Landeskunde von Niedersachsen, Bd. 1, Historische Grundlagen und naturräumliche Ausstattung, Neumünster 1992.
  3. 3Günter Haase und Dieter Scholz, »Ziele und Aufgaben der Kommission für sächsisch- thüringische Landeskunde der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig «, in Günter Haase und Arnd Bernhardt (Hg.),Sächsisch-thüringische Landeskunde. Zur Gründung und zu den Aufgaben der Kommission für sächsisch-thüringische Landeskunde der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Math.-nat.Klasse, Bd. 124, H. 6), 1994, S. 12–18.
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Heft 6 (2011)
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1867-7061

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