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Über eine Unklarheit, eine unnötige Einschränkung 
und eine Ergänzung bezüglich Gottlob Freges Begriffsschrift der Grundgesetze der Arithmetik (1893)


Meinem Freund und Lehrer Lothar Kreiser 
zum 80. Geburtstag gewidmet


Gottlob Frege gilt zu Recht als Begründer der modernen klassischen Aussagen- und Prädikatenlogik. Eine wesentliche Voraussetzung dieses Begründungswerks war die von Frege vorgenommene Präzisierung und Erweiterung des zeitgenössischen Funktionsbegriffs (1). Für die Entwicklung der modernen Prädikatenlogik unverzichtbar ist die von Frege geleistete Einführung von Quantoren in ihrer modernen Form, mit der die Beschränkung der traditionellen Logik auf die Analyse von kategorischen Aussagen (eine Teilklasse prädikatenlogischer Aussagen) überwunden wurde (2). Und schließlich hat Frege in den Grundgesetzen der Arithmetik mit dem sogenannten ›Waagerechten‹ eine Funktion eingeführt, durch die sich der Anwendungsbereich seines Systems der modernen Logik, der »Begriffsschrift« bedeutend erweiterte (3). 


Während Freges Leistungen (1) und (2) auch in der weiteren Entwicklung der modernen Logik zum festen Bestand der Logik gehören, wurde die mit dem Waagerechten verbundene Wahrheitsfunktion nicht in der fregeschen Form zum Bestand moderner Systeme der Logik, wodurch diese Systeme (mit der fregeschen Begriffsschrift verglichen) aber auch einen geringeren Anwendungsbereich haben.


Die im Titel erwähnte Unklarheit bezieht sich auf das Zusammenspiel der fregeschen Neuerungen (1), (2) und (3), während die angemerkte unnötige Einschränkung und die vorgeschlagene Ergänzung auf Veränderungen der fregeschen Bestimmungen zum Waagerechten hinauslaufen, also Punkt (3) 
betreffen.


1. Die Unklarheit


1.1 Funktionsausdruck, Funktion und Funktionswert


Zur einführenden Erläuterung seiner Funktionsauffassung betrachtet Frege in den Grundgesetzen der Arithmetik den Ausdruck ›(2+2 · x2) · x‹. Werden in diesem Ausdruck anstelle des ›x‹ Zahlzeichen gesetzt, erhält man als zugehörige Bedeutungen des neu entstandenen Ausdrucks Zahlen, die keinen Anspruch darauf erheben können, die durch den Ausdruck ›(2+2 · x2) · x‹ dargestellte Funktion zu sein. »Das Wesen der Function giebt sich vielmehr in der Zusammengehörigkeit kund, die sie zwischen den Zahlen stiftet, deren Zeichen wir für ›x‹ setzen, und den Zahlen, die dann als Bedeutungen unseres Ausdrucks auftreten«.1 Für Frege ist die Funktion also eine Relation bzw. eine Abbildung zwischen Argumenten (das sind die Werte bzw. Bedeutungen der im Funktionsausdruck vorkommenden Argumentbezeichnungen) und dem Wert, den der Funktionsausdruck nach Ergänzung durch Ausdrücke für Argumente annimmt (dem Wert der Funktion für das Argument). Frege spezifiziert übrigens nicht explizit, welcher Art diese Abbildung ist. Aus den von ihm angeführten Beispielen kann man aber darauf schließen, dass er, der modernen Funktionsauffassung entsprechend, mehr-eindeutige Abbildungen im Blick hat und nicht beliebige Ausdrücke, in denen Variable vorkommen, als Funktionen auffasst. Explizit gefordert wird die Mehr-Eindeutigkeit von Funktionen durch Frege für die Begriffe. Deren Identifizierung als spezielle Funktionen, die beliebigen Argumenten stets einen der Wahrheitswerte das Wahre oder das Falsche funktional zuordnen, ist eine Frege zu verdankende wesentliche Erweiterung des aus der Mathematik bekannten Funktionsbegriffs. Hier erkennt Frege etwas nur dann als Begriff an, wenn der Begriff eindeutig bestimmt ist, indem durch ihn jedem möglichen Argument genau ein Wert zugeordnet wird. Funktionen dürfen also weder in dem Sinne unbestimmt sein, dass einem Argument kein Wert zugeordnet wird, noch dass einem Argument mehr als ein Wert zugeordnet wird. Entsprechend kann man Funktionen von einem Argument als Mengen geordneter Paare darstellen: {<v1, w1>, <v2, w2>, …}, wobei gilt, dass alle Elemente des Definitionsbereichs der Funktion genau einmal unter den vi vorkommen. Für n-stellige Funktionen kann dies entsprechend verallgemeinert werden. Charakteristisch für die fregesche Funktionsauffassung ist, dass der Definitionsbereich von Funktionen nicht beschränkt wird, sondern als Argumente Werte beliebiger Art vorkommen 
können. 


Auch wenn es unserer modernen Redeweise entspricht, kann man Zweifel anmelden, ob die Bezeichnung ›Wert der Funktion‹ (bzw. ›Funktionswert‹) glücklich gewählt ist. Üblicherweise haben bei Frege Zeichen oder bestimmte Zeichenverbindungen Werte. Und die Funktion ist natürlich keine Zeichenverbindung, sondern selbst Wert (bzw. Bedeutung) einer Zeichenverbindung, nämlich eines Funktionsausdrucks. Und dieser Wert ist im Falle von Funk­tionsausdrücken die durch sie ausgedrückte Abbildung zwischen den Elementen der Menge der möglichen Argumente und Elementen der Menge der möglichen Funktionswerte. Das ist der Wert eines Funktionsausdrucks, für den Frege den Namen ›Werthverlauf‹ verwendet. Und dieser Wert von Funk­tionsausdrücken ändert sich natürlich nicht durch die Angabe dessen, welcher Wert durch die Funktion (die Abbildung) einem bestimmten Wert (einem Argument) zugeordnet ist. Präziser, aber möglicherweise zu umständlich, könnte man statt von dem ›Wert der Funktion für ein Argument‹ besser von ›dem durch die Funktion dem Argument zugeordnete Wert‹ sprechen. 


Beim Bestimmen dessen, was eine Funktion sei, hebt Frege, ausgehend vom Funktionsausdruck, als deren wesentliches Merkmal ihre Ungesättigtheit und Ergänzungsbedürftigkeit hervor: 


Der Ausdruck einer Function ist ergänzungsbedürftig, ungesättigt. Der Buchstabe ›x‹ dient nur dazu, Stellen offen zu halten für ein Zahlzeichen, das den Ausdruck ergänzen soll, und macht so die besondere Art der Ergänzungsbedürftigkeit kenntlich, die das eigenthümliche Wesen der grade bezeichneten Function ausmacht.2

Auch wenn Frege Ungesättigtheit und Ergänzungsbedürftigkeit für zentrale Bestimmungen des Funktionsbegriffs hält, muss ihm an dieser Stelle widersprochen werden. Die Funktion, als Bedeutung eines Funktionsausdrucks, ist eine in keiner Weise ungesättigte und ergänzungsbedürftige Abbildung (bzw. ein ungesättigter und ergänzungsbedürftiger Wertverlauf). Abbildungen bzw. Wertverläufe sind ohne jede Ergänzung vollständig bestimmte Bedeutungen von Funktionsausdrücken. Beim Funktionsausdruck (auf den sich Frege im angeführten Zitat anfangs bezieht) kann man auch keine generelle Ungesättigtheit ausmachen, denn auch ohne die Betrachtung konkreter Argumente hat ein solcher Ausdruck bereits eine bestimmte Bedeutung. Ungesättigt ist dieser Funktionsausdruck nur unter dem Aspekt der funktionalen Zuordnung von Werten zu bestimmten Argumenten. In einem generellen Sinn ergänzungs­bedürftig ist (wie die Funktion) auch der Funktionsausdruck nicht: Er ist nur dann ergänzungsbedürftig, wenn er in einen Ausdruck verwandelt werden soll, der als Wert den Wert annehmen soll, den die Funktion einem Argument zuordnet, durch dessen Bezeichnung der Funktionsausdruck ergänzt wird.


Nachdem diese »Ergänzungsbedürftigkeit« (adäquater sollte man von ›Ergänzungsfähigkeit‹ sprechen) befriedigt (bzw. beseitigt) ist, ist der entsprechende Ausdruck aber nicht mehr Ausdruck der ursprünglichen Funktion.


Auch ein Begriff (also eine Funktion, die Argumenten Wahrheitswerte zuordnet) hat keinen Funktionswert, sondern stellt eine Abbildung spezifischer Art zwischen Argumenten und Wahrheitswerten dar. Ein Begriff ist weder wahr noch falsch. Er ordnet lediglich möglichen Argumenten in Abhängigkeit davon, ob diese Argumente unter den Begriff fallen, Wahrheitswerte zu: den Wert des Wahren, wenn das Argument unter den Begriff fällt und andernfalls den Wert des Falschen.


Für die Darstellung der in der Vorbemerkung angesprochenen Unklarheit wollen wir Folgendes aus den fregeschen Auffassungen zur Funktion fest­halten: Wenn auch Funktionen (z. B. die Addition oder der Begriff, älter als 80 Jahre zu sein) keinen Funktionswert haben, so haben Funktionsausdrücke doch eine Bedeutung, so wie Eigennamen oder Aussagen eine Bedeutung haben. Als diese Bedeutung von Funktionsausdrücken legt Frege den Wertverlauf der ausgedrückten Funktionen fest. Im Spezialfall der Begriffe sind diese Bedeutungen die Begriffsumfänge. Wertverläufe und Begriffsumfänge sind nach Frege Gegenstände,3 sie sind aber keine Wahrheitswerte (die nach Frege ebenfalls Gegenstände sind), denn Wertverläufe und Begriffsumfänge sind nicht die Bedeutungen zutreffender oder nicht zutreffender Aussagesätze.


1.2 Der Waagerechte


Frege unterscheidet zwischen sprachlichen Ausdrücken, der Bedeutung solcher Ausdrücke (das, was diese Ausdrücke bezeichnen, oder den Wert dieser Ausdrücke) und dem Sinn sprachlicher Ausdrücke (die Art in der durch diese Ausdrücke ihre Bedeutung bestimmt wird). Im Falle von Aussagesätzen wird als deren Bedeutung ihr Wahrheitswert und als ihr Sinn der durch sie aus­gedrückte Gedanke bestimmt.


Neben dem objektiv bestimmten Zukommen von Wahrheitswerten zu Aussagesätzen, durch das nicht die subjektive Haltung zu den entsprechenden Sätzen determiniert ist, macht Frege auf die Notwendigkeit aufmerksam, Ausdrucksmittel für die subjektive Einstellung zu Aussagesätzen einzuführen. Mit der Formulierung eines Aussagesatzes ist noch nichts über die subjektive Stellung zu Wahrheit oder Falschheit dieses Satzes ausgedrückt, es wird insbesondere nicht behauptet, dieser Satz sei wahr. Um eine solche Behauptung schriftlich darstellen zu können und sie vom behaupteten Satz (dem Namen ­eines Wahrheitswertes) selbst unterscheiden zu können, führt Frege ein Behauptungszeichen ein, das in der modernen Logik als Beweisbarkeitszeichen seinen Platz behalten hat: 


Wir bedürfen also noch eines besonderen Zeichens, um etwas als wahr behaupten zu können. Zu diesem Zwecke lasse ich dem Namen des Wahrheitswerthes das Zeichen ›⊢‹ vorhergehen, so dass z. B. in ›⊢22=4‹ behauptet wird, dass das Quadrat von 2 4 sei. Ich unterscheide das Urtheil vom Gedanken in der Weise, dass ich unter Urtheil die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens verstehe.4

Dieses Urteilszeichen ›⊢‹ ist nach Frege nicht nur grafisch aus einem senkrechten und einem waagerechten Strich zusammengesetzt, sondern die beiden Striche haben jeweils eine unterschiedliche inhaltliche Bestimmung. Der senkrechte Strich ist der ›Urteilsstrich‹, mit dem ausgedrückt wird, dass dem folgenden Ausdruck zugestimmt wird; der Urteilsstrich hat also eine pragmatische Funktion. Der waagerechte Strich wird von Frege »Wagerechter« genannt und als spezieller Funktionsname bzw. Funktor verstanden, der in der fregeschen Begriffsschrift eine zentrale Rolle spielt: 


Ich fasse ihn als Functionsnamen auf in der Weise, dass —Δ das Wahre ist, wenn Δ das Wahre ist, dass es dagegen das Falsche ist, wenn Δ nicht das Wahre ist. Demnach ist —ξ eine Function, deren Werth immer ein Wahrheitswerth ist, oder nach unserer Festsetzung ein Begriff.5

Demnach bedeutet ›— 2>1‹ das Wahre, während sowohl ›— 1>2‹ als auch ›— 2‹ das Falsche bedeuten, da weder ›2>1‹ noch ›2‹ das Wahre bedeuten, wobei ›2‹ keinen Wahrheitswert bedeutet.


Mit dem Waagerechten kann man ausdrücken, dass ein Ausdruck einen Wahrheitswert bedeutet, also Ausdruck eines Gedankens ist. Für Ausdrücke Δ von Gedanken und keine anderen Ausdrücke gilt nämlich, dass folgender Ausdruck als Bedeutung den Wert das Wahre hat: Δ = —Δ

Dieser Ausdruck drückt also aus, dass ›Δ‹einen Wahrheitswert, das Wahre oder das Falsche, als Bedeutung hat.


Für die in der Vorbemerkung angesprochene Unklarheit ist zu beachten, dass der Ausdruck ›—Δ‹, falls Δ ein Funktionsausdruck ist, als Bedeutung das Falsche hat, denn ein Funktionsausdruck hat als Wert nicht das Wahre, sondern einen Wertverlauf, in Freges Terminologie also einen von dem Wahren verschiedenen Gegenstand.


Der Wert des Funktionsausdrucks, der Wertverlauf, ändert sich nicht in unterschiedlichen Interpretationen der in diesem Ausdruck vorkommenden Variablen: Der Wert eines Additionsausdrucks ändert sich nicht in Abhängigkeit davon, welche Werte ich als Argumente einsetze. Ein Funktionsausdruck hat für beliebige Argumentwerte stets den gleichen Wert, den gleichen Wertverlauf.


1.3 Quantifikationsausdrücke


Als eine prädikatenlogische Grundfunktion seines Systems führt Frege die Allgemeinheitsfunktion ein, deren Wahrheitsbedingungen er folgendermaßen bestimmt:


Es bedeute ›∀(a)‹ das Wahre, wenn der Werth der Function Φ(ξ) für jedes Argument das Wahre ist, und sonst das Falsche.6

Ein Ausdruck der Form ∀(a) hat nach dieser Bestimmung also genau dann den Wert das Wahre, wenn die Funktion Φ(ξ) jedem Argument den Wert das Wahre zuordnet, also im Wertverlauf der Funktion Φ(ξ), der als {<v1, w1>,<v2, w2>, …} dargestellt wird, für sämtliche wi gilt, dass sie das Wahre sind.Eine Allgemeinheitsaussage ist demnach eine Aussage über den Wert eines Funk­tionsausdrucks, also einer Funktion, von der ausgesagt wird, dass sie für jedes ihrer möglichen Argumente das Wahre als Funktionswert zuordnet. Daraus ergibt sich, dass es sich bei Quantifikationsausdrücken um Ausdrücke solcher Funktionen handelt, die als Argumente ebenfalls Funktionen haben, also Funktionen höherer Stufe sind.


Die Auffassung, dass Quantifizierungen Funktionen zumindest zweiter Stufe sind, ist in der Literatur durchgängig anerkannt. Als Beispiel mit einem Bezug auf Freges eigenes Bekenntnis zu dieser Auffassung hier ein Verweis auf Joan Weiner, die am Beispiel der Existenzaussage ›Es gibt mindestens einen Wal.‹ (symbolisch: ∃x(x ist ein Wal)) erläutert: 


We can, as Frege argued in Foundations [Grundlagen der Arithmetik], regard this as expressing something about the concept whale. If we remove the expression ›is a whale‹ and replace it with another concept-expression, we get a sentence that expresses the same thing about a different concept […]. We can express this by replacing ›is a whale‹ with a function variable, e. g. (∃x)(fx).


This expression becomes a sentence (a name of a truth-value) whenever we replace ›f‹ with a function-expression. Thus we can view the existential quantifier a second-level function—a function that takes first-level functions as arguments and has truth-values as its values.7

Allgemein, auf Quantifikationsausdrücke ∀a(Φ(a)) bzw. ∃a(Φ(a)) bezogen, wird also angenommen, dass sie aus dem Funktor ∀a oder ∃a und einem Funktionsausdruck Φ(a) als Argument bestehen. Obwohl es unzweifelhaft scheint, dass Quantifikationsausdrücke Ausdrücke von Funktionen höherer Stufe (als Ausdrücke von Funktionen von Funktionen) sind, kollidiert die Auffassung, dass der in solchen Ausdrücken vorkommende Quantor in diesen Ausdrücken ein Funktor ist, der sich auf eine Funktion bezieht mit dem fregeschen Verständnis von Quantifikationsausdrücken, was aus der im Folgenden zu skizzierenden Unklarheit deutlich wird.


1.4 Eine Unklarheit


Die im Titel dieser Arbeit und in der Vorbemerkung angesprochene Unklarheit ergibt sich, wenn wir (im Zusammenhang mit der Auffassung, Quantifikationsausdrücke seien Funktionsausdrücke mindestens 2. Stufe mit dem Quantor als Funktor und einer Funktion zumindest 1. Stufe als Argument) die Rolle des Vorkommens des Waagerechten in Quantifikationsausdrücken betrachten.


Zum Verhältnis von Quantifizierung Waagerechten stellt Frege fest:8

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Und damit scheint sich ein unannehmbares Resultat zu ergeben.


Wenn Freges Auffassung, der waagerechte Strich rechts von der Höhlung wäre der Waagerechte auf den dann auch die Verschmelzungs- bzw. Trennungsgesetze für den Waagerechten anwendbar sind, richtig wäre, dann müsste mit folgender Begründung jede generalisierte Aussage falsch sein:


Wie oben festgestellt, ist die Bedeutung des mit dem Funktor Φ gebildeten Ausdrucks einer Funktion Φ(ξ), selbst wenn es sich bei dieser Funktion um ­einen universellen Begriff handeln sollte, nicht das Wahre, sondern ein Wertverlauf. Durch die Bedeutung dieses Funktionsausdrucks wird aber die Bedeutung des Funktionsausdrucks —Φ(ξ) bestimmt. Da die Bedeutung (der Wert) eines Funktionsausdrucks Φ(ξ) nicht der Wert das Wahre ist, ist der Funk­tionswert von —Φ(ξ) der Wert das Falsche. Im Kontext der Generalisierung ist der Ausdruck —Φ(ξ) also unabhängig von jeder Interpretation vorkommender freier Variablen stets falsch. Dann müsste nach Freges Festlegungen aber auch die auf —Φ(ξ) bezogene generalisierte Aussage unabhängig von beliebigen ­Interpretationen von freien Individuenvariablen stets falsch sein bzw. ihre Negation müsste universell gültig sein, was sie sinnvollerweise in Freges System nicht ist. 


Wir erhalten folglich: Wenn Quantifikationsausdrücke wie ∀(a) bzw. ∃(a) als Funktionsausdrücke zweiter Stufe mit dem Funktor zweiter Stufe ∀a oder ∃a und einem Funktionsausdruck Φ(a) als Argument aufgefasst werden, dann ist Freges Feststellung, dass der waagerechte Strich rechts hinter der Höhlung der Waagerechte — sei, falsch.


Wenn wir Frege nicht die Behauptung von Falschheiten an dieser Stelle unterstellen wollen, dann bleibt nur eine Lösung: Die Quantifikationsausdrücke sind nicht Ausdrücke von Funktionen zweiter Stufe mit dem Quantor als Funktor und einem Funktionsausdruck als Bezeichnung des Arguments. Trotzdem werden mit diesen Quantifikationsausdrücken Eigenschaften von Begriffen ausgedrückt, z. B. universell oder zumindest erfüllbar zu sein. Natürlich kann man diese Quantifikationsaussagen andererseits auch so verstehen, dass sie Eigenschaften von Gegenständen ausdrücken, nämlich Eigenschaften von Wertverläufen, im Falle der Allaussage, dass im Wertverlauf als den Argumenten durch die Funktion zugeordneter Wert lediglich der Wert das Wahre vorkommt. Und sie würden diese Aussage auch ausdrücken, wenn Frege niemals Zeichen für Wertverläufe eingeführt hätte. 


An dieser Stelle wird nochmals die Problembeladenheit der fregeschen Auffassung deutlich, Wertverläufe seien Gegenstände. Wenn nämlich Funktionsausdrücke erster Stufe (wie das bei Frege der Fall ist) als Funktionen von Gegenständen bestimmt werden, dann müssten auch die Quantifikationsausdrücke Funktionsausdrücke erster Stufe sein. Zugleich sind sie aber auch Funktionsausdrücke zweiter Stufe, nämlich Funktionen von Funktionen. Die Unterscheidung zwischen Funktionen erster und Funktionen zweiter Stufe würde also aufgehoben: Jede Funktion höherer Stufe ist, wenn Wertverläufe Gegenstände sind, auch eine Funktion erster Stufe, denn sie ist dann auch eine Funktion von Gegenständen.


2. Die überflüssige Festlegung


Dass —das Falsche ist, ist kein Ausdruck dessen, dass das Falsche ist, sondern lediglich dafür, dass entweder das Falsche ist oder weder das Wahre noch das Falsche als Bedeutung hat. Die Falschheit von — ist also lediglich Ausdruck dafür, dass nicht das Wahre ist. Das folgt unmittelbar aus der oben erwähnten fregeschen negativen Bestimmung der Falschheit von —: — ist das Falsche, wenn nicht das Wahre ist.9 Frege bleibt aber nicht bei dieser rein negativen Bestimmung stehen, sondern vermerkt dazu in einer Fußnote:


Selbstverständlich darf das Zeichen ›∆‹ nicht bedeutungslos sein, sondern muss einen Gegenstand bedeuten. Bedeutungslose Namen dürfen in der Begriffsschrift nicht vorkommen. Die Festsetzung ist so getroffen, dass ›—∆‹ unter allen Umständen etwas bedeutet […]. Sonst würde —ξ kein scharfbegrenzter Begriff, also in unserem Sinne überhaupt kein Begriff sein. Ich gebrauche hier die grossen griechischen Buchstaben als Namen so, als ob sie etwas bedeuten, ohne dass ich die Bedeutung angebe.10

Und diese positive Ergänzung zur Bestimmung des Waagerechten ist die im Titel angesprochene überflüssige Festlegung, die den Anwendungsbereich der Begriffsschrift der Grundgesetze der Arithmetik in unnötiger Weise einschränkt.


Frege begründet seine Festlegung, dass ›∆‹ nicht bedeutungslos sein darf, wenn man es als Argumentausdruck mit dem Waagerechten verbindet, damit, dass ansonsten —ξ kein scharfbegrenzter Begriff wäre, also überhaupt kein Begriff, denn von Begriffen verlangt Frege die scharfe Begrenzung. Die scharfe Begrenzung ist dadurch gegeben, dass der Begriff eine Funktion ist, die den Werten von Argumentausdrücken die Werte das Wahre oder das Falsche funktional zuordnet. Nach dem oben beschriebenen Funktionsbegriff ist die Funktion eine mehr-eindeutige Abbildung von Werten in Werte (im Falle der Begriffe 1. Stufe von Gegenständen in die Werte das Wahre oder das Falsche). Wenn man also bedeutungslose Argumentausdrücke ›∆‹ zulassen würde und ihnen mit dem Waagerechten einen Wert zuordnen würde, dann wäre —ξ keine Funktion im oben beschriebenen Sinne. Aber wäre —ξ dann auch kein scharfbegrenzter Begriff?


Die scharfe Begrenzung der Begriffe damit gleichzusetzen, dass sie Funk­tionen im beschriebenen Sinne sind, ist m. E. nicht gerechtfertigt. Die scharfe Begrenzung in diesem Sinne sichert nämlich nicht, dass alle Ausdrücke über das Zukommen dieser Begriffe zu Argumenten scharfbegrenzte Ausdrücke sind, sondern führt dazu, dass Begriffsausdrücken bei der Verbindung mit bedeutungslosen Argumentausdrücken keine Bedeutung zukommt, dass ihnen kein Wahrheitswert, also weder das Wahre noch das Falsche zukommt.


Die scharfe Begrenzung der Begriffe verlangt, dass mit ihnen für bedeutungsvolle Argumentausdrücke funktional bestimmt ist, ob man den Wert das Wahre oder das Falsche als diesen Argumenten durch den Begriff zugeordneten Wert erhält. Diese Begriffe bleiben scharf begrenzt, wenn man zusätzlich noch bestimmt, welchen Wert Ausdrücke annehmen, in denen der Funktionsausdruck mit einem bedeutungslosen Argumentausdruck verbunden wird. Dann sind diese Begriffe natürlich keine Funktionen im oben beschriebenen Sinne mehr, aber das ist für ihre scharfe Begrenzung auch nicht nötig: Die Zuordnung von Wahrheitswerten durch diese Begriffe ist weiter eindeutig, und sie ist auch für alle möglichen Bedeutungen von Argumentausdrücken vollständig.


Die von Frege in seiner Fußnote vorgenommene Einschränkung, dass in ›—∆‹ das Zeichen ›∆‹ nicht bedeutungslos sein dürfe, ist also im Sinne der scharfen Begrenzung des Begriffs —ξ überflüssig. Sie ist aber nicht nur überflüssig, sondern beschränkt in unnötiger Weise den Anwendungsbereich der Begriffsschrift, denn bedeutungslose Namen sind dieser Festlegung entsprechend aus der Begriffsschrift ausgeschlossen.


Um das an einem Beispiel zu erläutern: Der Ausdruck ›— das runde Quadrat‹ dürfte nach Freges einschränkender Festlegung nicht gebildet werden, denn in ihm wird der Waagerechte auf einen bedeutungslosen Argumentausdruck bezogen. Im Sinne der scharfen Bestimmung des Wahrheitswertes dieses Ausdrucks gibt es aber auch nach Weglassen von Freges Einschränkung keine Probleme: Wenn wir der uneingeschränkten fregeschen Bestimmung des Waagerechten folgen, dann ist dieser Ausdruck eindeutig falsch: Der Ausdruck ›das runde Quadrat‹ hat als Bedeutung nicht das Wahre, er hat überhaupt keine Bedeutung. Und deshalb hat ›— das runde Quadrat‹ als Bedeutung das 
Falsche.


Freges Forderung, bedeutungslose Namen dürften in der Begriffsschrift nicht vorkommen, ist überflüssig, wenn es darum geht zu sichern, dass jeder vollständige Ausdruck der Begriffsschrift eine Bedeutung hat. Man kann durchaus bedeutungsvoll über das Bedeutungslose reden und Bedeutungsloses in der Begriffsschrift behandeln, ohne dass Begriffsschriftsätze, in denen Bedeutungsloses in Teilausdrücken vorkommt, selbst bedeutungslos würden.


3. Eine Ergänzung der fregeschen Festlegungen


Wenn man sich von der klassischen Annahme löst, dass einem Ausdruck niemals gleichzeitig der Wert das Wahre und der Wert das Falsche zukommen kann, könnte es angezeigt erscheinen, die Bestimmung des Waagerechten so zu ergänzen, dass auch in einem solchen Fall die strenge Begrenzung des mit ihm ausgedrückten Begriffs gesichert ist:


›—Δ‹ hat genau dann das Wahre als Wert, wenn ›Δ‹ den Wert das Wahre hat und nicht zugleich den Wert das Falsche hat. In allen anderen Fällen hat ›—Δ‹ als Wert das Falsche.


Solche Fälle von Ausdrücken, die sowohl wahr als auch falsch sind, können nicht nur in Anwendungssituationen auftreten (vgl. bestimmte Deskriptionen, die die Existenz- oder die Einzigkeitspräsupposition nicht erfüllen, oder Antinomien, wie das Frege überraschende Auftreten der russellschen Antinomie in der Begriffsschrift).


›—ξ‹ ist mit dieser Revision natürlich nicht mehr Ausdruck der Wahrheitsfunktion ›ξ ist wahr‹, sondern der verstärkten Wahrheitsfunktion ›ξ ist genau wahr‹ bzw. ›ξ ist wahr und nicht falsch‹.


Wenn man als Argument dieser Funktion die russellsche Antinomie setzt, also einen widersprüchlichen Ausdruck, folgt kein Widerspruch in Freges System, denn ›—(RR)‹ ist jetzt nur falsch und nicht gleichzeitig wahr. Der Ausdruck ›—(RR)‹ ist im Gegensatz zu ›(RR)‹ also nicht wahr und falsch zugleich. Die Verneinung von ›—(RR)‹ ist wahr, das ergibt sich aus dem Fakt, dass ›(RR)‹ nicht genau wahr ist bzw. nicht eindeutig wahr ist.


Unsere Revision der Bestimmung des Waagerechten macht es durchaus möglich, semantisch unterbestimmte Situationen (Wahrheitswertlücken) als auch semantisch überbestimmte Situationen (Widersprüche) im Rahmen der zu einer nichtklassischer Logik erweiterten Begriffsschrift zu behandeln. 


Der klassische Folgerungsbegriff ist dann in der Weise zu präzisieren, dass ein Ausdruck H genau dann aus den Prämissen H1, …, Hn folgt, wenn bei jeder Interpretation, die für jede der Prämissen den Wert das Wahre und für keine der Prämissen den Wert das Falsche liefert, auch H den Wert das Wahre und nicht den Wert das Falsche annimmt. Anders ausgedrückt, mit Bezug auf den revidierten Waagerechten gilt:


H1, …, Hn |= H gilt genau dann, wenn gilt —H1, …, —Hn |= —H


  1. 1Gottlob Frege, Grundgesetze der Arithmetik. Begriffsschriftlich abgeleitet, Bd. 1, Jena 1893, S. 5.

  2. 2Ebd., S. 5 f.

  3. 3Auch hier können, ausgehend von Freges Festlegungen, Zweifel angemeldet werden. Frege schreibt: »Gegenstände stehen den Functionen gegenüber. Zu den Gegenständen rechne ich demnach Alles, was nicht Function ist, z. B. Zahlen, Wahrheitswerthe und die weiter unten einzuführenden Werthverläufe. Die Namen von Gegenständen, die Eigennamen, führen keine Argumentstellen mit sich, sie sind gesättigt wie die Gegenstände selbst« (ebd., S. 7). Ansetzend am letzten Satz des Zitats, müssten die Wertverläufe Bedeutungen (Werte) von Eigennamen sein, von Ausdrücken, die nicht ergänzungsfähig sind. Tatsächlich sind sie aber die Bedeutungen von Funktionsausdrücken, also ergänzungsfähigen Ausdrücken, und dürften deshalb, Freges Festlegungen folgend, keine Gegenstände sein.

  4. 4Ebd., S. 9.

  5. 5Ebd., S. 9 f.

  6. 6Ebd. S. 12. In der Onlineausgabe und im Folgenden ersetzen wir die fregesche Symbolik (s. Bild) durch eine modernere und schreiben den Ausdruck ›∀(a)‹.

  7. 7Joan Weiner, Frege, Oxford 1999, S. 85.

  8. 8Frege, Grundgesetze 1 (Fn. 1), S. 14.

  9. 9Ebd., S. 9.
  10. 10Ebd., Fn. 3.

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Heft 13 (2014)
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