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Versprechen und Verheißung als Konstruktion von 
Geschichte


Überlegungen zur Gegenwartsbedeutung der biblischen Geschichts­hermeneutik1

1. Einleitung


Als Menschen, die um ihr Gestern wissen, werden wir Menschen des Heute sein, die für das Morgen arbeiten. Da wir begreifen, was unsere Vergangenheit uns ist, werden wir verstehen, was wir der Zukunft zu geben haben. Das ist im großen wie im kleinen Leben die bleibende Jugend, oder wenn es einem besser klingen sollte, Modernität.2

Mit diesen Worten hatte sich der Rabbiner Leo Baeck, zum jüdischen Neujahrsfest 1912 an seine Gemeinde in Oppeln gewandt. Die Art und Weise, in der er Vergangenheit und Zukunft als Dimensionen des Lebens auf das Heute fokussiert, sagt viel über das biblische und jüdische Verständnis von Geschichte aus. Dabei wächst dem jüdischen Menschen aus der Vergangenheit eine sittliche Verpflichtung zu. Ja, Baeck kann kurz und pointiert sagen: »Vergangenheit bedeutet Verpflichtung.«3 Der jüdische Mensch kann sich von seiner Vergangenheit nicht lossagen, er bleibt ihr verpflichtet, weil diese nach dem biblischen und jüdischen Selbstverständnis in einem Versprechen gründet, in biblischen Vorstellungskategorien ausgedrückt, im Sinai-Bund zwischen dem Gott Israels und seinem Volk (Ex 24). In der sogenannten Bundesformel »JHWH, der Gott Israels, − Israel, das Volk JHWH4 haben Theologen der deuteronomistischen »Schule« in der Zeit des Exils (6. Jahrhundert v. Chr.) die freie Selbstverpflichtung des Gottes Israels seinem Volk gegenüber auf den Punkt gebracht, mit der er sich Israel als seinen Bundespartner erwählte.5 Dieses Bundesverhältnis ist ein Wechsel auf die Zukunft. Denn das − dem literarischen Konzept der biblischen Tradition entsprechende − in der Mosezeit ergangene Versprechen der dauerhaften Verbundenheit JHWHs mit seinem Volk enthielt in sich eine Verheißung für die Zukunft, die von den Propheten immer wieder aufgenommen wurde, weil sie dem Leben eine Richtung gab. Die Verheißung ist demnach ein die Gottesbeziehung des Menschen betreffendes Versprechen auf Zukunft hin, das im Unterschied zu den prophetischen Einzelweissagungen und zeitgebundenen Ankündigungen geschichtlicher Ereignisse und Zustände einen den jeweiligen Gegenwartshorizont übergreifenden Charakter hat.6 Das Besondere der biblischen Verheißungen besteht darin, dass sie einen Überschusscharakter haben. Sie gehen nicht − 
wie man an der Geschichte des Messianismus studieren kann7 − in innergeschichtlichen Erfüllungen auf, sondern setzen immer wieder neue Erwartungs- und Zukunftshorizonte frei. In der Verheißung wird das aufbewahrt, was vom Versprechen noch offen und uneingelöst blieb. Man kann daher auch die Verheißung als eine Form der Perpetuierung von Versprechen bezeichnen. Beides aber, Versprechen und Verheißung, Vergangenheit und die in ihr angelegte, aber noch uneingelöste Zukunft, bilden die Herausforderungen für das Heute. Sie dienen immer der Gegenwartsdeutung, der eigenen Verortung des Menschen in Raum und Zeit. Es gibt − jedenfalls nach dem biblischen und jüdisch-christlichen Selbstverständnis − kein Fragen nach der Vergangenheit und der Zukunft um ihrer selbst willen.8 Damit sich der Mensch in je seiner Zeit und seinem Raum verstehen und orientieren kann, ist er genötigt, über sich selbst, seine kleine, endliche Lebensgeschichte hinaus nach dem Woher und dem Wohin zu fragen. Auf diese Weise versammelt und verdichtet sich in der jeweiligen Gegenwart das gesamte Drama der menschlichen Geschichte, seine Vergangenheit und seine Zukunft. Die Bibel Israels hat dieses, das jeweilige Heute aufschließende Drama der Geschichte als Geschichte von Versprechen und Verheißungen gedeutet. Damit wurden Versprechen und Verheißung zu einer heuristischen Kategorie der Geschichts- und letztlich der Selbstdeutung des Menschen im Jetzt.


2. Erfahrungswissen und Offenbarungswissen in der 
Bibel Israels


Die Hebräische Bibel ist eine Sammlung ganz unterschiedlicher Schriften, in deren Zentrum die Geschichte des biblischen Volkes Israel vom 13. bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. steht, also von der Spätbronzezeit bis in die hellenistische Epoche des Vorderen Orients. Sie enthält mehrere Geschichtswerke mit unterschiedlichen Geschichtskonzepten wie etwa das Deuteronomistische Geschichtswerk, das die Bücher Josua, Richter, 1./2. Samuel und 1./2. Könige umfasst und − abgesehen von späteren Glossen und Erweiterungen − im Wesentlichen im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein dürfte, oder das Chronistische Geschichtswerk, dem traditionell die Bücher 1./2. Chronik sowie Esra und Nehemia zugewiesen werden, die in ihrer vorliegenden Gestalt aus dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. stammen.9

Diese ganz unterschiedlichen Schriften mit ihren je eigenen Deutungen und Lesarten der Geschichte wurden in einem sich über Jahrhunderte erstreckenden Kanonisierungsprozess zu dem verbindlichen Kanon der Heiligen Schriften Israels zusammengestellt, der wohl erst im 2. Jahrhundert n. Chr. nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von der aus dem frühen Judentum hervorgegangenen Tochterreligion des Christentums zum Abschluss kam.10 In diesem Kanon der Hebräischen Bibel speicherte Israel das Erfahrungswissen von mehr als tausend Jahren und modulierte daraus sein für alle Zeiten formatives und normatives Geschichtsbild,11 in dem durchaus unterschiedliche, plurale Konzepte der Geschichtsdeutung ihren Platz fanden.


Der Kanon der Hebräischen Bibel spiegelt dabei nicht ein Bild von der Geschichte, wie sie tatsächlich geschah und von der heutigen historisch-kritischen Bibelwissenschaft und Palästinaarchäologie in permanenten, verifizierbaren und falsifizierbaren Annäherungsentwürfen gezeichnet wird, sondern das bleibende, die Zeiten überdauernde Selbstbild, das sich das biblische Volk Israel von seiner Geschichte gemacht hat, und an dem die jeweilige Gegenwart Maß zu nehmen hatte und hat.


Wichtig ist dabei die Feststellung, dass es sich sowohl bei dem in sich pluralen Selbstbild Israels von seiner Geschichte als auch bei den durchaus nicht einheitlichen Fremdbildern der historisch-kritischen Bibelwissenschaft jeweils immer nur um Entwürfe und Konstrukte handelt, denen unterschiedliche Annahmen und Prämissen zugrunde liegen.12

Die historisch-kritische Bibelwissenschaft beschränkt sich in ihrer Deutung der Geschichte weitestgehend auf immanente, rein innergeschichtliche, empirisch nachweisbare Sachverhalte der Volksgeschichte Israels in einem fest umrissenen Zeitraum und fragt danach, ob und wie sich die in ihm erkenn­baren Konstellationen von Sachverhalten, Kräften und Ereignissen kausal zu­einander verhalten. Diese Selbstbeschränkung auf einen geografischen und zeitlichen Ausschnitt aus der Geschichte und die Suche nach einem Kausal­nexus in der Abfolge von Ereignissen gehört zu ihren wichtigsten Prämissen. Ihre Methode ist die Empirie, die die gesammelten Daten mit dem überlieferten Erfahrungswissen verbindet, um daraus ein Schattenbild von der geschehenen Geschichte zu entwerfen.13

Das biblische Selbstbild, das sich Israel hingegen von seiner Geschichte gemacht hat, beschränkt sich nicht auf einen Ausschnitt aus der Weltgeschichte. Es entwirft vielmehr ein Panorama vom Ganzen der Geschichte und bezieht sich dabei nicht nur auf immanente, innergeschichtliche Vorgänge, sondern auf eine Dimension des Daseins, die die jeweiligen Immanenzen der Geschichte aufbricht, indem sie die eigene Volksgeschichte im theatrum mundi transzendiert und in das große Panorama zwischen der Urzeit der Schöpfung und der Endzeit der Erlösung einzeichnet. Das biblische Geschichtsbild verankert damit die Geschichte im Mythos, der davon ausgeht, dass es einen Gesamtzusammenhang der menschlichen Geschichte gibt, der diese von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende begleitet.


Der Mythos wird aber als ein Ursprungs- und Endgeschehen verstanden, das aller Geschichte voraus und zugrunde liegt. Die mythische Urzeit wird daher nicht ein für alle Mal von der Geschichtszeit abgelöst. Kein Mensch lässt sie jemals wirklich hinter sich, sondern sie fundiert und begleitet die Geschichtszeit bis zu deren Einmündung in eine nur in mythischen Kategorien zu beschreibende Endzeit.14 Auch der Mythos hat menschliches Erfahrungswissen eingesammelt und verdichtet. Aber er beschränkt sich dabei nicht auf die Sammlung und Ordnung empirisch erhobener Daten, sondern verbindet diese Daten mit Postulaten, die die mehr oder weniger zufällige Abfolge von Ereignissen zu einer Sinngeschichte formen.15

Das bedeutet, dass das immanente Erfahrungswissen auf ein transzendentes Offenbarungswissen16 bezogen wird, durch das die Geschichte überhaupt erst als eine Sinn und Orientierung gebende Veranstaltung wahrnehmbar wird. Mit dem Stichwort ›Offenbarungswissen‹ kommt aber ein prophetisches Geschichtskonzept ins Spiel. Denn es waren die Propheten Israels, die ihrem Volk die Geschichte zwischen Urzeit und Endzeit als eine Geschichte von Versprechen und Verheißungen erschlossen haben, und ihr damit einen Sinn einhauchten, der weit über die rein immanent und empirisch beschreibbare Geschichte hinausreicht.


Der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig schrieb im März 1918 an seinen Vetter Hans Ehrenberg: »Die Geschichte ist […] nicht zu kalkulieren, sondern nur zu profezeien. Wie unterscheiden sich Calcul und Profezeiung? Der Calcul legt die Daten der Gegenwart zugrunde, der Profet die Postulate.«17

Der Prophet beschränkt sich nicht nur darauf zu sagen, wie die Geschichte wurde, was sie ist, sondern postuliert, warum sie nicht wurde, was sie ursprünglich einmal sein sollte, und wie sie künftig werden könnte, was sie eigentlich, nämlich nach Gottes Willen, sein soll.


Diese Grenzüberschreitung vom Sein zum Sollen, vom Erfahrungswissen zum Offenbarungswissen in der prophetischen Geschichtsdeutung Israels hatte ihre Prämisse in der tiefen Überzeugung, dass allein durch kalkulatorisches Wissen der Geschichte noch kein Sinn abgerungen werden kann. Erst wenn sich im Wissen um Geschichte und durch dieses Wissen ein Gewissen herausbildet, fängt die Geschichte an zu sprechen, oder − in biblischen Vorstellungskategorien ausgedrückt − sich zu offenbaren.18 Die Ansammlung von Kalkulationen, Daten und Wissen über die Geschichte allein macht also noch keinen Sinn, keinen Propheten und auch kein Gewissen. Sie stellen uns lediglich einen Trümmerberg vergangener Jahrtausende nach dem anderen vor Augen und konfrontieren uns mit der scheinbaren Sinnlosigkeit menschlicher Existenz im Vergehen der Zeit. Erst wenn dem Wissen um die Geschichte ein Gewissen an die Seite tritt, beginnt die Geschichte den Ruch der Sinnlosigkeit zu verlieren. 


Wie aber kommt es zur Ausbildung des Gewissens? Worin liegen das Recht und der Sinn der prophetischen Postulate in der Geschichtsdeutung? Ein Gewissen wächst immer dann, wenn wir erkennen, dass wir nicht nur uns selbst und unseren Zeitgenossen verpflichtet sind. Es kann in der Betrachtung der Geschichte nicht nur um die eigene Existenz und die Gegenwart gehen. Vielmehr wächst uns aus der Geschichte eine Verantwortung für das zu, was vergangene Generationen, unsere Großeltern und Eltern getan und gelassen haben, wie auch für jenes, was künftigen Generationen, unseren Kindern und Enkeln weiter zu tun aufgegeben bleibt. Nur wenn das erkannt wird, nehmen wir den roten Faden der Geschichte auf, der die Generationen aneinander bindet und sinnstiftend wirkt. Leo Baeck hat dieses Postulat in einer Miszelle über das Gewissen festgehalten, nachdem er im Schicksalsjahr 1945 Theresienstadt überlebt hatte. Er schreibt: »Gewissen ist derjenige Teil im Menschen, der nicht das Selbst zum Mittelpunkt hat, und an dem darum alle teilhaben können.«19

Eine Gesellschaft, die nicht mehr dazu in der Lage ist, aus dem Wissen über Welt und Geschichte heraus ein Gewissen für die Welt und Geschichte zu entwickeln, verliert nach Leo Baeck den roten Faden. Ihr zerfällt der Sinn der Geschichte in eine Aneinanderreihung von Zufälligkeiten und Sinnlosig
keiten. 


Den Propheten und Priestern, Erzählern, Poeten und Weisen Israels kam es daher nicht nur auf eine wache, der jeweiligen Gegenwart verpflichtete Zeitgenossenschaft an, sondern auch darauf, diesen Richtungssinn der Geschichte zu erkennen und mit ihm die Zukunft zu erschließen. Sie taten dies, indem sie die Geschichte als eine Geschichte von Versprechen und Verheißungen lasen und als solche den roten Faden trotz aller Umbrüche und Katastrophen, trotz allen Versagens und Gelingens nicht abreißen ließen, sondern eine Generation an die andere banden. Auf diese Weise erstellten sie das große Menschheitsdrama, das von der Schöpfung der Welt bis zum Ende der Tage reichte. Nur in dieser großen Erzählung fanden sie immer wieder sich selbst, ihren Platz und ihre Aufgabe in der Geschichte.


3. Das implizite Versprechen der Schöpfung


Die Hebräische Bibel setzt mit dem Satz ein: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« (Gen 1,1). Dieser erste Satz wird als eine Überschrift über den folgenden Schöpfungsbericht verstanden.20 Im Folgenden wird ausgeführt, wie Gott in der Abfolge von sieben Tagen, beginnend mit dem Licht und abschließend mit dem Sabbat, Himmel und Erde geschaffen hat. Dabei kennt die Bibel noch keine creatio ex nihilo. Vor der Schöpfung war nicht etwa nichts, sondern da heißt es zunächst: »Die Erde war Tohu wa-Bohu (wüst und leer) und Finsternis war auf dem Antlitz des Urmeeres« (Gen 1,2). 


Das ist in nuce eine Chaosbeschreibung.21 Der Folgetext beschreibt, wie Gott das uranfängliche Chaos, die Vorwelt vor der Lebenswelt für Mensch und Vieh, in einen Kosmos gewandelt hat. Schöpfung wird also als eine Wandlung von Chaos in Kosmos, von Unordnung in eine Weltordnung gedeutet. Mit dieser Verankerung der menschlichen Geschichte in einem mythischen Schöpfungsakt wird der Geschichte ein Richtungssinn eingeschrieben, nämlich der, an der niemals ein für allemal abgeschlossenen, sondern täglich neu zu stabilisierenden Wandlung vom Chaos zum Kosmos teilzuhaben, den geschaffenen Kosmos vor dem stets drohenden Einbruch des Chaos zu schützen. An jedem Morgen muss das Licht wieder aus der Finsternis hervorgerufen werden (Gen 1,3–5), in jeder Woche müssen sich die schöpferischen Kräfte in der Sabbatruhe regenerieren, um erneut wirksam werden zu können (Gen 2,2 f.), in jedem Jahr müssen die von den Gestirnen angezeigten Zeiten in Gestalt der Vegetationsrhythmen verlässlich wechseln, um das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen zu garantieren (Gen 1,14 ff.). Die Schöpfungserzählungen der Hebräischen Bibel beschreiben demnach nicht nur, wie das, was ist, geworden ist. Das war nur eine ihrer Intentionen. Primär lag ihnen daran zu beschreiben, wie das, was ist, eigentlich sein soll, nämlich kein Chaos, sondern ein Lebenskosmos, ein Lebenshaus für Mensch und Vieh.22

Dass das Sein ein Sollen impliziert, wird im Auftrag zum dominium terrae, den der Mensch nach seiner Erschaffung erhält, schließlich explizit gemacht: Da heißt es: »Und Gott segnete sie. Und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und unterwerft sie, und herrscht über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, das auf der Erde kriecht« (Gen 1,28).


Dieser Auftrag zum dominium terrae postuliert nicht nur ganz allgemein im Dasein der Welt, sondern speziell im Sein des Menschen ein Soll. Der Mensch als imago dei bekommt den Auftrag, gleichsam als königlicher Stellvertreter Gottes auf Erden, als sein Abbild, an der Durchsetzung der Schöpfungsordnung durch die Herrschaft über die Erde und die Tiere mitzuwirken.23 Und dieser Auftrag ist verbunden mit einem impliziten Versprechen, dem Segen, der dem Herrschaftsauftrag vorausgeht. Im Segen wird dem Menschen in einer performativen Sprachhandlung nämlich nichts anderes versprochen und zugesprochen als die Fähigkeit, fruchtbar zu sein, sich zu mehren und die Erde zu füllen.24 Nur auf der Grundlage dieses Segenszuspruchs ist der Mensch überhaupt erst in der Lage dazu, das dominium terrae wahrzunehmen.


Auf diese Weise, fundiert im Schöpfungsgeschehen, kann jetzt das Drama der menschlichen Geschichte seinen Lauf nehmen, dem als Richtungssinn die Wandlung vom Chaos zum Kosmos eingeschrieben wurde. Wir wissen, was daraus wurde. Der Mensch wird seinem Auftrag nicht gerecht. Er isst vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, von dem er nicht essen sollte. Damit wird er zur moralischen Person, ein ethosfähiges Wesen, das nun selbst die Last seiner Entscheidungen zwischen Gut und Böse zu treffen und zu tragen hat. In der Folge wird er aus der idealen Welt des Gartens Eden vertrieben. Er ist angekommen in der realen Lebenswelt von Sünde und Tod, in der er sich nur im Schweiße seines Angesichts ernähren kann (Gen 2–3). Schließlich wird er in der Gestalt Kains zum Mörder seines Bruders Abel (Gen 4). Der aufmerksame Leser wittert deutlich das ständig drohende Chaos der Sünde, das in der realen Lebenswirklichkeit des Menschen lauert. JHWH warnt Kain vor der Bluttat: »Wenn du nicht gut handelst, lauert die Sünde vor der Tür und giert nach dir« (Gen 4,7).


Trotz alledem hält Gott zunächst noch an seinem im Segen erteilten Versprechen der Mehrung und Fruchtbarkeit fest. Das wird an der großen Geneaologie in Gen 5 deutlich,25 die expressis verbis diesen Mehrungssegen wieder aufnimmt und in der Abfolge der Geschlechter von Adam bis Noach konkretisiert. Schließlich aber ist das Maß voll. Und auf den Schöpfungsmythos folgt die Fluterzählung. Sie ist nach Hans-Peter Müller ein Antimythos26 zum Schöpfungsmythos, wenn man so will ein Chaosmythos. Er setzt mit der Feststellung ein: 


Und JHWH sah, dass die Bosheit des Menschen auf der Erde groß geworden war, und alles Sinnen und Trachten seines Herzens allezeit nur böse war. Da reute es JHWH, dass er den Menschen gemacht hatte, und er war bekümmert in seinem Herzen. Und JHWH sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, wegwischen von der Erde […]. (Gen 6,5–7)


Die Folge des göttlichen Vernichtungsbeschlusses ist die große Flut, die alles Leben auf der Erde auslöscht. Gott selbst lässt den Kosmos ins Chaos zurückfallen. Die Schöpfung wird vorübergehend aufgehoben. Der Richtungssinn der Geschichte wird umgekehrt. Aus dem Chaos geht kein lebendiger Kosmos mehr hervor, sondern der Kosmos endet im Chaos, das Leben im Tod. Gott hat sein Versprechen aufgekündigt. Nur für Noach und seine Familie, den einzigen Gerechten unter den Menschen, bleibt im Überlebenshaus der Arche ein Hauch von Hoffnung. 


Warum stellt der Erzähler neben den Schöpfungsmythos den Antimythos der Flut? Wollte er damit seinen Zeitgenossen deutlich machen, dass es noch lange nicht entschieden sei, wohin die Reise der menschlichen Geschichte geht, welcher Richtungssinn ihr tatsächlich eingeschrieben ist, der Segen der Mehrung des Lebens oder der Fluch der Vernichtung? Wollte er deutlich machen, dass es neben der Option der Wandlung vom Chaos zum Kosmos auch die umgekehrte Option, nämlich die vom Kosmos in das Chaos gibt? Das Ende der Flutgeschichte lässt erkennen, dass es ihm um eine ganz andere Frage ging. Da stellt der Erzähler fest: 


JHWH sprach in seinem Herzen: Ich will nicht mehr fortfahren, die Erde um des Menschen willen zu verfluchen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an. Und nicht mehr will ich fortfahren, alles Lebendige zu schlagen, wie ich es getan habe. Alle Tage der Erde sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (Gen 8,21 f.)


Das bedeutet zunächst einmal: Der Gott Israels ist lern- und wandlungsfähig! Der Mensch ändert sich nicht, auch nicht durch Katastrophen, die dem Einbruch des Chaos gleichkommen. Er bleibt, was seine Moral angeht, grundsätzlich endlich und fehlbar, biblisch gesprochen ein Sünder. Aber Gott ändert sich um des Menschen willen. Der Mensch mag in seiner Kosmosvergessenheit immer wieder den Einbruch eines Chaos heraufbeschwören. Gott hingegen hält am Richtungssinn der Geschichte fest, die er ihr mit der Wandlung vom Chaos in den Kosmos eingeschrieben hat. Das wird durch das Versprechen unterstrichen, die natürlichen Lebensordnungen von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht zu garantieren.


Der Antimythos der Fluterzählung antwortet damit nicht auf die Frage, ob die Schöpfung eines Tages wieder im Chaos versinkt. Vielmehr bringt er sein Staunen darüber zum Ausdruck, warum der Kosmos trotz der anhaltenden Bosheit und Fehlbarkeit der Menschen, die immer wieder die Welt- und Lebensordnung verletzen, und gegen die dramatischen Interventionen der Unheilspropheten immer noch Bestand hat. Die Antwort, die er auf diese staunende Frage gibt, lautet: Weil Gott zu seinem Versprechen der Wandlung von Chaos in Kosmos steht. Der Bestand des Kosmos hängt nicht nur vom moralischen oder amoralischen Verhalten des Menschen ab, von seinen immanenten, gelungenen oder auch misslungenen Unternehmungen der Welt­gestaltung, sondern auch von einer Instanz jenseits aller menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Die Immanenz der kosmischen Lebensrhythmen bleibt in der Transzendenz verankert und damit letztlich menschlichem Machbarkeits- oder Zerstörungswahn entzogen. Das implizit im Schöpfungsakt gegebene Versprechen der Wandlung von Chaos in Kosmos gilt weiterhin. Die Schöpfung hat Zukunft. Wolfgang Huber hat diese theologische Dialektik von Mythos und Antimythos in Gestalt von Schöpfung und Flut präzise zusammen
gefasst: 


Der Ausgangspunkt einer theologischen Schöpfungslehre, die sich auf die geschichtliche Situation des Menschen in der Natur bezieht und gerade deshalb auch auf die ökologische Krise beziehen kann, ist nicht die Schöpfung am Anfang, die in der geschichtlichen Schöpfung ihre Fortsetzung und in der neuen Schöpfung ihr Ziel findet. Sondern ihr Ausgangspunkt ist die Versöhnung Gottes mit seiner eigenen Schöpfung, die im noachitischen Bund zugesagt und im gekreuzigten und auferstandenen Jesus wahrgemacht ist. Ihre Symbole sind der Regenbogen und das Kreuz.27

Damit ist das Versprechen des Segens, das sich mit der Schöpfung verbindet, stärker als der Fluch, den der Mensch immer wieder über sich herauf beschwört. 


Jüdische Exegeten haben sich das in ihrer unvergleichlichen Art, aus jedem Buchstaben der Schrift eine Erkenntnis zu generieren, bereits am ersten Buchstaben der Bibel deutlich gemacht. Sie brachten ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, warum die Heiligen Schriften Israels nicht mit dem Aleph, dem ersten Buchstaben des hebräischen Aleph-Bets beginnen, sondern mit dem Bet, dem zweiten Buchstaben. Dazu lehren die Rabbinen:


(Es sagte) R. Jona im Namen des R. Levi: Warum ist die Welt erschaffen mit (dem) Bet? So wie das Bet geschlossen ist nach seinen Seiten und offen ist nach vorn, so ist es dir nicht erlaubt zu forschen […] nach dem, was oben und was unten, was vorn und was hinten ist […]. Du darfst forschen […] von dem Tag an, an dem die Tage erschaffen wurden, aber du darfst nicht forschen über das, was davor war.28

Der erste Buchstabe der Hebräischen Bibel, das Beth (←ב), verweist demnach seine Leser bereits durch seine grafische Gestalt in die Zukunft. Während er nach allen drei Seiten, oben, unten und hinten abgeschlossen ist, bleibt er nach vorne, in die Leserichtung hinein offen. Mit der Schöpfung beginnt wie mit der Bibel eine offene Zukunft, das Drama der Geschichte des Schöpfers und seiner Geschöpfe.


Dieses Zukunftsversprechen der Schöpfung verwickelt den Leser aber in eine Fülle von Fragen. Hatte der Mensch mit seiner Vertreibung aus dem Garten Eden seine Zukunft bereits verspielt? Ja, kann der Mensch überhaupt Zukunft haben? Der Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Vilém Flusser hat in seinen philosophischen Miniaturen eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass die Zukunft niemals zum Besitz des Menschen werden kann. Sie ist vielmehr eines derjenigen Güter, die sich unserer Mentalität des Habens beharrlich verweigern. Denn wenn die Zukunft erst einmal zur menschlichen Habe geworden ist, dann ist sie schon keine Zukunft mehr, sondern Gegenwart, und zwar eine Gegenwart, die sich auf dem besten Weg in die Vergangenheit befindet. Starrt der Mensch also mit dem von Walter Benjamin beschworenen Angelus novus über den Trümmerhaufen der Geschichte hinweg auf die Ruinen und Fragmente seines verantwortlichen und unverantwortlichen Handelns29 in ein vergangenes Paradies, und das in der vergeblichen Hoffnung, in ihm seine Zukunft wieder zu finden? Stimmt es, woran Flusser erinnert? »Das Antlitz der Zukunft trägt die Züge unserer vergangenen Untaten. […] Wir fliehen vor unserer eigenen Vergangenheit, die Zukunft verfolgt uns.«30

Der Antimythos der Flut ist die bleibende Erinnerung an die Gefährdung der Zukunft, die vom Menschen ausgeht. Von der Seite Gottes her gibt es eine Bestandsgarantie für die natürlichen Rhythmen des Lebens. Wie aber die Antwort des Menschen auf diese Bestandsgarantie ausfallen wird, seine anhaltenden und leichtfertigen Selbstgefährdungen, das ist eine ganz andere Frage. Denn nach der Austreibung aus Eden muss der Mensch ja unter den Bedingungen von schweißtreibender Arbeit und Sterblichkeit (Gen 3,16–22) weiterleben und selbst entscheiden, was gut und was böse ist. Die Zukunft des Menschen ist eine Zukunft von Sterblichen geworden. Geschichte kann man nur um den Preis des Todes haben.


Eine nicht zu unterschätzende Leistung müssen wir vollbringen, nämlich eine Zukunft zu lieben, die dabei ist, uns aufzufressen. Und zwar nicht, damit wir dieses Auffressen verhüten, sondern im vollen Bewußtsein des Aufgefressenwerdens. Falls wir diese Leistung nicht vollbringen, haben wir keine Zukunft […]. Die Kunst, die wir zu erlernen haben, ist ars moriendi, die höchste der Künste. Im Tod kann man wohnen.31

Kann man das, im Tode wohnen? Damit stellt sich die Frage nach der Erlösung des Menschen in und von einer Welt des Todes.


4. Die Verheißung der Erlösung


Diese Frage, die in den Schriften der Spätzeit der Hebräischen Bibel wie dem Buch Daniel und der apokalyptischen Literatur immer drängender aus dem Dunkel der Geschichte emporsteigt, bildet schließlich eines der Kernthemen der um das Neue Testament erweiterten christlichen Bibel. Ja, die Gesamtkomposition des christlichen Bibelkanons zeichnet ganz bewusst das Drama der menschlichen Geschichte in dieses große Spannungsfeld von Schöpfung und Erlösung ein. So wie die Bibel mit der Schöpfung beginnt, so endet sie mit der Apokalypse des Johannes, die ein grandioses Panorama der Erlösung entwirft.32 Dieses Buch dessen Kanonisierung in den ersten Jahrhunderten der Kirche sehr umstritten war, klingt mit Bildern einer neuen Schöpfung aus:


Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem sah ich aus dem Himmel herabkommen von Gott her, bereitet wie eine Braut, die geschmückt ist für ihren Mann. Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her sprechen: Siehe, die Wohnstätte Gottes bei den Menschen, und er wird bei ihnen wohnen. Und sie werden seine Völker sein. Und er selbst, Gott, wird bei ihnen ihr Gott sein. Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Trauer noch Jammer, noch Mühsal wird mehr sein; das Erste ist vergangen. (Apk 21,1–4)


Das Ende verweist auf den Anfang zurück, das Ziel auf den Ursprung.33 Doch es entsteht damit kein Kreis und schon gar kein ewiger Kreislauf. Vielmehr wird das Versprechen des Anfangs, der Schöpfung, gleichsam durch einen kühnen Perspektivenwechsel in die unmittelbar bevorstehende Zukunft katapultiert. Der Geschichte wird ein Telos eingeschrieben. »Die Zeit ist nahe« (Apk 22,10), sagt der Seher von Patmos. Anfang und Ende stehen sich jetzt spiegelbildlich gegenüber.Aber es scheint so, als hätten sich die Leser der Offenbarung um einhundertachtzig Grad gedreht, um nun die Verheißung einer Zukunft zu empfangen, die den Anfang nicht nur wieder holt, sondern vollendet. Darin ist Johannes, der Seher, Schüler der alttestamentlichen Prophetie und frühjüdischen Apokalyptik geworden.34

Denn sie hatte zuerst von einem neuen Himmel und einer neuen Erde gesprochen (vgl. 2Pet 3,13). Diese apokalyptische Zukunftserwartung stellt also keine Überbietung des Alten durch das Neue Testament dar. Man kann Apk 21,1–4 als eine Art Midrasch oder frühchristlichen Kommentar zu Jes 65,17–25 lesen, ein Text, der seinerseits wieder vielfältige Bezüge zu Gen 1–3, den Schöpfungserzählungen, aufweist.35

Der Seher von Patmos entwickelt seine Vision also nicht, indem er lediglich empirische Daten der Geschichte einsammelt, hochrechnet und Prognosen über die Zukunft des Globus erstellt. Er liest in seiner Bibel und entdeckt in ihr die Verheißung einer Zukunft, die mehr verspricht als die Verlängerung unserer selbst und unserer Welt.Er nimmt die Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde aus Jes 65,17; 66,22 auf und legt sie für seine Zeit neu aus. Mit den Propheten Israels hält er Ausschau nach einer neuen Schöpfung. Beiden Texten, dem in Jes 65,17 und Apk 21,1–4 ist dabei die Ansicht gemeinsam, dass diese neue Schöpfung nicht das Werk der Menschen sein kann, so verantwortlich auch immer ihr Handeln sein mag.Während aber in Jes 65,17 eher die Vorstellung einer schöpferischen Erneuerung aller irdischen Verhältnisse durch Gott im Blick ist, eine vollkommene Verwandlung der bisherigen Welt, heißt es in Apk 21,1 ausdrücklich: »Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.« 


Hier geht es um den Abbruch der alten Welt und die Verheißung einer »totalen Neuschöpfung«.36 Der Seher radikalisiert die Zukunftshoffnung der Propheten. Das neue Jerusalem (vgl. Jes 65,18 ff.) wird nicht von Menschen gebaut, sondern aus dem Himmel schweben.Der neue Himmel und die neue Erde sind keine Kinder der Immanenz, sondern stellen einen Einbruch der Transzendenz dar. Klarer kann es wohl kaum zum Ausdruck gebracht werden, dass die neue Welt weder eine Verlängerung der alten Welt sein wird, noch ihre Transformation hin zum Erträglicheren durch das verantwortliche Handeln von Menschen.


Das verlorene Paradies wird daher nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft gesucht. Die Zukunft erschließt sich im Denken von Prophetie und Apokalyptik weniger im Potential des Versprechens eines idealen Urzustandes, den der Mensch schon am Anfang der Schöpfung verloren hat, sondern im Endzustand, der auf ihn zukommt. Sie liegt nicht bereits hinter uns. Wir haben sie noch vor uns. Der »Sturm vom Paradiese her«, auf den der Angelus Novus Walter Benjamins starrt,37 türmt vor dem Visionär Johannes nicht länger die Trümmer der Geschichte auf, er fegt sie schon in Kürze – so seine Hoffnung – mit der alten Welt davon. Der Angelus Novus hat diesen Sturm jetzt gleichsam im Rücken. Und dieser treibt ihn unaufhaltsam und eilends dem neuen Himmel und der neuen Erde entgegen. Er wird »jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein […].« (Apk 21,4 vgl. Jes 65,19 f.).


Wie kam es zu dem beherzten Perspektivenwechsel, der den Seher von Patmos nicht länger an den Anfang der ersten Schöpfung, auf den Garten Eden, sondern nunmehr auf die Vollendung eines neuen Himmels und einer neuen Erde schauen ließ, auf eine zweite Schöpfung? Warum hat er das implizite Versprechen der Vergangenheit, der ›ersten Schöpfung‹, in die Verheißung einer menschlicherseits uneinholbaren Zukunft, eines neuen Himmels und einer neuen Erde transformiert?


Die Offenbarung des Johannes ist wie die Priesterschrift, der wir die Schöpfungsgeschichte von Gen 1 verdanken, und ebenso wie Jes 65,17–25,38 Ausdruck einer ausgeprägten Krisenmentalität gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. Der von Kaiser Domitian zur totalitären Staatsideologie erhobene Kaiserkult musste zur unmittelbaren Gefährdung frühjüdischer und frühchristlicher Gemeinden führen.Es war eine Zeit, die ihre Märtyrer forderte (Apk 13,10).39 Wer sich das klarmacht, wird schnell entdecken, dass die Vision des Sehers von Patmos alles andere darstellt als einen spirituellen Rückzug in die Transzendenz oder eine feige Weltflucht in die Verheißung eines Nirvana. Was uns hier begegnet, ist ein hochpolitisches Zukunftskonzept. Der tota­litären Arroganz der Macht des Imperium Romanum wird jeder Anspruch auf Ewigkeit abgesprochen. Dieses Reich zeigt offensichtlich keinerlei Ansätze für eine Reformfähigkeit: Es lässt keinerlei Zukunftsversprechen mehr erkennen, geschweige denn eine Verheißung, außer der seines Untergangs. Die in ihm herrschende Realität von Macht, Tränen, Blut und Tod ist durch keinen Systemwandel zu retten. Diese Welt, über die sich der erste Himmel wölbt, bleibt unverbesserlich. Die bittere Realität von Gewalt und Lüge verdient nur eines, den Abbruch, durch einen neuen Himmel und eine neue Erde. Was hier geschaut und formuliert wird, ist nicht mehr und nicht weniger als der kontrafaktische Entwurf einer Kontrastgesellschaft – aber einer Kontrastgesellschaft, die nicht erkämpft, sondern nur empfangen werden kann.


Peter Sloterdijk diagnostiziert diese kühne Verheißungsmentalität als ­Gestalt einer hochpolitischen »Weltfremdheit«:


Erst unter dem ›Terror der Geschichte‹ beginnen Vorstellungen von einer Aufhebung des Weltzustandes überhaupt für radikale Gemüter attraktiv zu werden; ein neuer Typus von weltfremden, weltflüchtigen, weltüberfliegenden Menschen tritt auf den Plan […]. Aus der Gesinnung messianischer Umschöpfung alles Geschaffenen entsprangen die Verheißungen eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Noch der moderne marxistische Chiliasmus wollte sich mit weniger nicht zufriedengeben als mit einem großtechnischen Umbau des Sterns Erde zur Heimat einer von Weltangst endgültig befreiten Menschheit […]. Wo der Druck des Unbehagens an der gegebenen Welt am höchsten stieg, bildete sich zuerst das ­geschichtemachende manische Futur.40

Doch diese Flucht nach vorne stellt nur eine Möglichkeit dar, der »Umzingelung durch die Weltverhältnisse«41 zu entgehen. Eine andere Möglichkeit wäre der Weg nach innen, das sich Verschließen vor der Welt, die als ein Außen und damit als Äußerlichkeit negiert wird. So sieht Sloterdijk in dem »futurische[n] Utopismus das manische Gegenstück zu den depressiven Formen des beschädigten Lebens in der Zeit.«42 Denn auch dies gilt, dass 


der Mensch den Menschen unendlich unterbietet […]. Man sollte nicht soweit gehen, den Bedrückten im allgemeinen eine Liebe zu ihrer Misere anzudichten; dennoch ist Miserabilismus eine der anthropologischen Konstanten auf der Schattenseite der Hochkulturen. Wo diese überwiegt, muß davon ausgegangen werden, daß Unzählige jederzeit ein bekanntes Unglück einer unbekannten Glückschance vorziehen.43

Damit sind die Gefahrenzonen markiert, zu denen apokalyptische Verheißungen und Zukunftsvisionen verführen können. Immer wieder wurden sie missverstanden als Anleitung zu einem weltverachtenden religiösen Quietismus einerseits oder einem welterlösenden pseudoreligiösen Aktivismus andererseits. Es ist diese manisch-depressive Mischung, der der Mensch in seiner Zukunftsversessenheit zwischen Versprechen und Verheißung erliegen kann. Den ­einen lohnte die mühsame Suche und Aushandlung von Reformen nicht, da in Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde die alte Welt ja doch verloren sei. Wozu also noch retten, was nicht mehr zu retten ist? Die anderen wollten es sich mit der besseren, verbesserlichen Welt nicht genug sein lassen, weil sie sich dem Wahn hingeben, selbst im heißen Atem der Weltrevolution die beste aller Welten aus dem Boden stampfen zu können. Im Glauben, den neuen Himmel auf die Erde zu holen, schufen sie die blutigen Höllen des 20. Jahrhunderts, die längst dabei sind, das 21. Jahrhundert zu kontaminieren. Beide, die Quietisten auf ihrem Rückzug in die Innerlichkeit und die Aktivisten auf ihrem Vormarsch und mit ihrer Vorwegnahme des Endes der Geschichte, bleiben blind für den Grabenbruch, der zwischen dem in der Schöpfung dem Menschen mitgegebenen Versprechen liegt, und der Verheißung der Erlösung in einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Sie ignorieren ihr Leben in der Zwischenzeit zwischen Urzeit und Endzeit, Garten Eden und Reich Gottes, also ihr Leben unter den Bedingungen der Geschichte. Die religiösen Quietisten unterfordern sich durch Selbsterlösungsphantasien. Die pseudoreligiösen Aktivisten überfordern sich durch Welterlösungsphantasien. Beide sind sie dem Irrtum erlegen, der Ausstieg aus der gelebten Geschichte durch Nichtstun oder durch die alles erlösende menschliche Tat käme bereits einem Einstieg in das Reich Gottes gleich. Beide müssen sich den Widerspruch des Sehers von Patmos gefallen lassen, der ihnen unüberhörbar deutlich macht: Die Verheißung der Erlösung wird nicht vom Menschen eingelöst. Er schafft ihn nicht, den neuen Himmel und die neue Erde, weder durch eine neue Innerlichkeit, noch durch ein revolutionäres Welterlösungspathos. Vielmehr gilt es, das Leben in der Zwischenzeit, also unter den Bedingungen der eigenen Endlichkeit zu bestehen.


Das aber kann ihm in aller Nüchternheit nur gelingen, wenn der Mensch mit Leo Baeck die Geschichte als eine Verpflichtung erfährt, die ihn zu einer Antwort auf das Versprechen der Schöpfung und die Verheißung der Erlösung herausfordert; wenn er also über der Erforschung und Darstellung des Seienden hinaus in allem Sein auch ein Sollen zu vernehmen vermag, einen Appell, der nicht im Wissen allein aufgeht, sondern das Gewissen aufruft:


Die Welt von Heute sieht in die Zukunft, und jeder fragt: Haben wir die Zukunft für uns gewonnen, haben wir einen Sieg errungen? Und die Geschichte antwortet: Wo kein Gewissen ist, kann kein Sieg sein. Die Zukunft ruht auf der Kraft des öffentlichen Gewissens, des erwachten Weltgewissens.44

  1. 1Überarbeitete Fassung des Vortrags vom 9. 1. 2014, gehalten in der Kommission »Wissenschaft und Werte« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
  2. 2Leo Baeck, Briefe, Reden Aufsätze, hg. von Albert H. Friedländer, Bertold Klappert und Werner Licharz (Werke, Bd. 6), Gütersloh 2003, S. 106.
  3. 3Ebd., S. 104.

  4. 4Vgl. zu den unterschiedlichen Varianten der Formel Lev 7,23;11,4;26,12; Dtn 29,12; Jer 30,22;31,1.33; Ez 11,20;14,11 u. ö.

  5. 5Zur Sache siehe Rudolf Smend, Die Bundesformel, in ders., Die Mitte des Alten Testaments (Gesammelte Studien, Bd. 1; Beiträge zur evangelischen Theologie, Bd. 99), München 1986, S. 11–39.

  6. 6Vgl. zur Begrifflichkeit Matthias Köckert, Art. »Verheißung«, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 34, Berlin / New York 2002, S. 697–704.

  7. 7Siehe Shemaryahu Talmon, »Typen der Messiaserwartung um die Zeitenwende«, in ders., Gesellschaft und Literatur in der Hebräischen Bibel (Gesammelte Aufsätze, Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 1988, S. 209–224.

  8. 8Vgl. Siegfried Herrmann, Zeit und Geschichte, Stuttgart u. a. 1977, S. 154 ff. und Bernd Janowski, »Das Doppelgesicht der Zeit. Alttestamentliche Variationen zum Thema ›Mythos und Geschichte‹«, in: ders., Die Welt als Schöpfung (Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 4), Neukirchen-Vluyn 2008, S. 79–104.

  9. 9Vgl. die umfassenden Überblicke in Jan Christian Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, 3. Aufl., Göttingen 2009.
  10. 10Zur Entstehung des Kanons der heiligen Schriften Israels siehe die knappe Darstellung von Christoph Levin, Das Alte Testament, München 2001.

  11. 11Zum formativen und normativen Doppelcharakter des biblischen Kanons siehe Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, S. 81–100.

  12. 12Vgl. zur notwendigen Unterscheidung desgeschichtlichen vom biblischen und dieser beiden vom historisch-kritisch rekonstruierten Israel Rüdiger Lux, »Zur ›biblischen Geschichte‹ Israels. Anmerkungen zur Bedeutung der Hebräischen Bibel im Nahostkonflikt«, in Georg Meggle (Hg.), Deutschland, Israel, Palästina. Streitschriften, Hamburg 2007, S. 103–118.
  13. 13Zur Arbeitsweise, den Grenzen und der Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die Bibelwissenschaften vgl. Uwe Becker, »Historisch-kritisch oder kanonisch? Methodische Zugänge in der Prophetenauslegung am Beispiel des Amos-Buches«, in Theologie der Gegenwart 54 (2011), S. 206–220.
  14. 14Zum Verhältnis von Mythos und Geschichte im alten Israel siehe Rüdiger Lux, »›Die Rache des Mythos‹. Überlegungen zur Rezeption des Mythischen im Alten Testament«, in Die Zeichen der Zeit 38 (1984), S. 157–170.

  15. 15Zum Begriff der »Sinngeschichte« und ihrer Rekonstruktion im Alten Ägypten siehe Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München/Wien 1996, S. 15–38.
  16. 16Zu Begriff und Sache siehe Rolf Rendtorff, »Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Testament«, in Wolfhart Pannenberg (Hg.), Offenbarung als Geschichte, 3. Aufl., Göttingen 1965, S. 21–41, und Horst Dietrich Preuß, Art. »Offenbarung, II. Altes Testament«, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 25, Berlin / New York 1995, S. 117–128.

  17. 17Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk (Gesammelte Schriften, Bd. 1,1), Den Haag 1979, S. 526.
  18. 18Vgl. Rüdiger Lux, »Der dunkle Vorhang der Geschichte. Vom Sinn und Unsinn prophetischer Geschichtsdeutung in der Bibel und heute«, in Evangelisch-Lutherischer Kirchenbezirk Leipzig (Hg.) unter Mitarbeit von Martin Henker und Frank Schmidt, Erinnern − Danken − Fragen. 20 Jahre Friedliche Revolution und die Kirche in Sachsen, Leipzig 2009, S. 60–75.

  19. 19Leo Baeck, »Vom Gewissen«, in ders., Briefe, Reden, Aufsätze (Fn. 2), S. 408.
  20. 20Zum Überschriftcharakter vgl. Horst Seebass, Genesis, Bd. 1: Urgeschichte (1,1–11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, S. 64 f.

  21. 21Siehe dazu die ausführliche Studie von Michaela Bauks, Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, Bd. 74), Neukirchen-Vluyn 1997, sowie Othmar Keel und Silvia Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen 2002, S. 174 ff.

  22. 22Die biblischen Schöpfungserzählungen hatten daher primär die Funktion, ihre Hörer/Leser an die Gabe und Aufgabe dercreatio continua zu erinnern, in die sie nicht zuletzt durch das kultische Geschehen eingebunden waren, das u. a. auch der Inganghaltung der Schöpfung diente. Vgl. zu diesem Konzept vor allem Erich Zenger, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterlichen Urgeschichte (Stuttgarter Bibelstudien, Bd. 112), Stuttgart 1983.
  23. 23Vgl. Rüdiger Lux, »Das Bild Gottes und die Götterbilder im Alten Testament«, in Zeitschrift für Theologie und Kirche 110/2 (2013), S. 133–157, hier S. 143 ff.

  24. 24Zum Segen als Sprachform und Kategorie eines theologischen Versprechens siehe die wichtige Studie von Martin Leuenberger, Segen und Segenstheologien im alten Israel. Untersuchungen zu ihren religions- und theologiegeschichtlichen Konstellationen und Transformationen (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments, Bd. 90), ­Zürich 2008.

  25. 25Siehe dazu Rüdiger Lux, »Die Genealogie als Strukturprinzip des Pluralismus im Alten Testament«, in Joachim Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität (Veröffent­lichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 8), Gütersloh 1995, S. 242–258.

  26. 26Vgl. Hans-Peter Müller, »Babylonischer und biblischer Mythos von Menschenschöpfung und Sintflut«, in ders., Mythos – Kerygma – Wahrheit. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament und zur Biblischen Theologie (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 200), Berlin / New York 1991, S. 110–135.

  27. 27Wolfgang Huber, »›Nur wer die Schöpfung liebt, kann sie retten‹. Naturzerstörung und Schöpfungsglaube«, in Gerhard Rau, Adolf Martin Ritter und Hermann Timm (Hg.), Frieden in der Schöpfung. Das Naturverständnis protestantischer Theologie, Gütersloh 1987, S. 229–248, hier S. 242.
  28. 28Zitiert nach Jürgen Ebach, »Die Bibel beginnt mit ›b‹. Vielfalt ohne Beliebigkeit«, in ders., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1997, S. 85–114, hier S. 91.
  29. 29Siehe Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in ders., Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920–1940, hg. von Sebastian Kleinschmidt, Leipzig 1984, S. 156–167, hier S. 160 f., sowie die Disputation »Vergangenheit als Zukunft« zwischen dem Philosophen Hans Friedrich Fulda und dem Alttestamentler Rolf Rendtorff, in Heimo Hofmeister (Hg.), Zum Verstehen des Gewesenen. Zweite Heidelberger Religionsphilosophische Disputation, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 72–104.

  30. 30Vilém Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Frankfurt a. M. 1997, S. 57.
  31. 31Ebd., S. 60 f.
  32. 32Siehe dazu August Strobel, Art. »Apokalypse des Johannes«, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 3, Berlin / New York 1993, S. 174–189.

  33. 33Hingewiesen auf diese Zusammenhänge zwischen Urzeit und Endzeit, dem Buch Genesis und der Offenbarung des Johannes hat bereits Hermann Gunkel mit seiner religionsgeschichtlichen StudieSchöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religions­geschichtliche Untersuchung über Gen 1 und Ap Joh 12, Göttingen 1895.

  34. 34Siehe dazu Jürgen Ebach, »Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung«, in Einwürfe 2 (1985), S. 5–61.
  35. 35Eine beeindruckende Interpretation in gesamtbiblischer Perspektive hat dazu Kornelis Heiko Miskotte vorgelegt:Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, München 1966, S. 413–419.
  36. 36So zutreffend Ulrich B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (Ökumenischer ­Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, Bd. 19), Gütersloh/Würzburg 1984, S. 349.

  37. 37Vgl. Benjamin, Begriff der Geschichte (Fn. 29).

  38. 38Beide alttestamentlichen Texte sind in das ausgehende 6. und beginnende 
5. Jh. v. Chr. zu datieren.

  39. 39Vgl. Strobel, Apokalypse (Fn. 32), S. 186 f.

  40. 40Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, Frankfurt a. M. 1993, S. 54 f.
  41. 41Ebd., S. 48 ff.

  42. 42Ebd., S. 55.

  43. 43Ebd., S. 56.

  44. 44Baeck, Briefe (Fn. 2), S. 409.
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