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Indogermanistische Etymologie im Projekt Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext

Wenn man in einer allseits bekannten Online-Enzyklopädie1 das Stichwort ›Etymologie‹ nachschlägt, dann erfährt man im Unterabschnitt Etymologie in Wissenschaft und Gesellschaft folgendes:

»Im Rahmen der Sprachwissenschaft ist die Beschäftigung mit Etymologie in erster Linie Selbstzweck, das heißt, es gilt als interessant genug, mehr über die einzelnen Phänomene der geschichtlichen Veränderungen einer Sprache herauszufinden. Aus dem so gewonnenen Wissen erhofft man sich außerdem, ein erweitertes Verständnis über die Entwicklungsgeschichte einer Einzelsprache sowie der Umstände des Sprachwandels im Allgemeinen zu erhalten.«

Um diese Beschreibung ganz zu verstehen, müsste man natürlich erst einmal herausfinden, was denn mit ›Selbstzweck‹ in diesem Zusammenhang streng genommen gemeint ist. Einen Artikel ›Selbstzweck‹ gibt es bei Wikipedia nicht, wohl aber einen über das synonyme ›Autotelie‹, und dort heißt es:

»Die typische Verwendung im Kontext philosophischer Handlungstheorie sagt aus, dass eine Handlung kein anderes Ziel hat als sich selbst, also ursächlich und final intrinsisch motiviert ist.«2

Wir betreiben also, mit anderen Worten, Etymologie, um Etymologie zu betreiben. Das bringt einen Sprachforscher in Zeiten knapper Finanzmittel im öffentlichen Haushalt natürlich in einige Verlegenheit, und man sollte sich der Grundsatzfrage nach Sinn und Zweck etymologischer Forschung auf jeden Fall aufrichtig stellen. Also: Wozu Etymologie, wozu Sprachgeschichte, wozu Sprachwissenschaft überhaupt, insbesondere nicht-normative Sprachwissenschaft, deren Anliegen es ja keineswegs ist, den Sprechern das ›richtige‹ Sprechen beizubringen? Denn das ließe sich ja noch als zweckhaft und nützlich deuten. Aber deskriptive, gar noch historische Sprachwissenschaft?

Der Salzburger Indogermanist Oswald Panagl hat seiner Antrittsvorlesung 1982 den Titel gegeben: »Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft – ein Anachronismus?«3. Er beschreibt darin mit eindrucksvoller Vielseitigkeit die Chancen und Möglichkeiten, die die historische Sprachwissenschaft hatte zu einem Zeitpunkt, als viele Sprachwissenschaftler, auch viele Indogermanisten, unter dem erdrückenden Eindruck der Forschungstitanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts den Eindruck hatten, es sei ja im Grunde alles Relevante schon erforscht. Was bleibe, sei allenfalls noch eine kleine Nachlese oder die ernüchternde Erkenntnis, dass das noch Unerforschte womöglich in der Tat unerforschbar sei. So hat Antoine Meillet, selbst ein Großer des Fachs, in seinem etymologischen Wörterbuch des Lateinischen 1909 geschrieben: »Alle guten Etymologien sind schon gefunden, und die, die noch nicht gefunden sind, sind nicht gut.«4 Nun können wir, hundert Jahre nach Meillet, feststellen, dass das so nicht stimmt. Latein und Griechisch, das muss man zugeben, sind etymologisch überdurchschnittlich gut erforschte Sprachen, aber selbst da haben die Fortschritte in der Erforschung des Oskisch-Umbrischen und die Entzifferung der mykenischen Texte ebenso wie die Forschungsfortschritte in der lautlichen und morphologischen Rekonstruktion so viel Neues ergeben, dass ein Ende der etymologischen Arbeit noch lange nicht abzusehen ist.

Unsere Ausgangsfrage ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Das bloße Ordnungsbedürfnis eines Indogermanisten, der in einem etymologischen Wörterbuch gern korrekte und zeitgemäße Rekonstrukte mit Laryngalen und Bestimmung der Akzenttypen vorfinden würden, reicht als Rechtfertigung etymologischer Forschung natürlich nicht aus. Man kann der Indogermanistik durchaus vorwerfen, dass sie sich zeitweilig vielleicht zu sehr in den Details der lautlichen Rekonstruktion verfangen hat, im Überschwang der Begeisterung über die quasi algebraische Genauigkeit, die durch die paradigmatische Revolution der vor allem von der sogenannten ›Erlanger Schule‹ betriebenen, konsequenten Anwendung ausnahmsloser Lautgesetze plötzlich zu erreichen war. Inzwischen hat sich auch die Morphologieforschung in genau der Weise entwickelt, wie Panagl dies vor 25 Jahren prophezeit hat: Man spricht immer noch, und zu Recht, davon, dass das Indogermanische einen ›freien Akzent‹ hatte, aber dahinter steht nicht mehr die Vorstellung, dass Wörter in einer Sprache deswegen völlig ungeregelt akzentuiert werden könnten. Und konnte man bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch mit der Entdeckung neuer Lautgesetze in die Wissenschaftsgeschichte eingehen, so kann man es nun mit der Entdeckung von Ablaut- und Akzenttypen. Man braucht sich heutzutage nicht mehr zu wundern, warum das Wort für den ›Fuß‹ im Griechischen pous und im Lateinischen pēs lautet, sondern kann die Wörter als einzelsprachliche Fortsetzer eines ursprünglich akrostatischen Wurzelnomens mit einem geregelten Ablautverhältnis von ō im Casus Rectus und ĕ im Casus Obliquus verstehen. Einzelsprachlich ist dieser Ablaut dann vereinfacht worden, und zwar im einen Fall nach dem bezeugungsfrequenteren e-stufigen Obliquus und im anderen nach dem lautlich markierteren Rectus. Das geht über die ›Ablautvarianten‹ der älteren Forschung weit hinaus.

Damit aber, und das war ein unbeabsichtigter und zunächst wohl auch unbemerkter Nebeneffekt, hat die etymologische Forschung eine ganz neue Relevanz erhalten. Im Augenblick wird eine intensive Diskussion darüber geführt, ob und wie diese Ablauttypen in einer natürlichen Sprache überhaupt erlernbar wären; ob es eigentlich irgendwo in den Sprachen der Welt Phänomene gibt, die wenigstens im Großen und Ganzen mit dem für das Indogermanische postulierten Typus vergleichbar sind; ob es methodisch vertretbar ist, womöglich doch einmal einen Sprachtyp zu postulieren, der in mancher Hinsicht in der Tat einzigartig und ohne Parallelen ist5. Wir finden uns also in der schwierigen, für den Forscher aber auch sehr spannenden Situation wieder, Befunde, die wir mit den Methoden unseres Faches, more indogermanico, als sicher und unanfechtbar beschreiben können, konfrontieren zu müssen mit Befunden beispielsweise der Spracherwerbsforschung oder der Typologie, die im Rahmen der in diesen Paradigmen verwendeten Methodik ebenso sicher und unanfechtbar sind, sich mit unseren Ergebnissen aber nicht so ohne weiteres vereinigen lassen. Das muss nicht zwangläufig heißen, dass eines der Fächer Unrecht hat. Es kann auch so sein, dass es in der Sprache und beim Sprechen Mechanismen, Wirkungsfaktoren und Strategien gibt, von denen wir alle noch nicht genug verstehen, um sie schon durchschauen und angemessen berücksichtigen zu können. Damit ist man aber weg von einem Forschungsparadigma, das sich ausschließlich mit der Frage befasst, ob denn nun ein palatales im Luwischen tatsächlich zum Sibilanten wird oder ob ein 6 000 Jahre altes Wort der Grundsprache vorn oder hinten betont war. Es geht vielmehr um ein zentrales Humanum, um menschliche Sprache, ihr Funktionieren, ihr Interagieren mit dem menschlichen Geist.

Das führt im Zusammenspiel verschiedener Fachdisziplinen zu völlig neuartigen Fragestellungen. Und das betrifft nicht nur die Morphologieforschung, sondern zunehmend auch die Semantik, die lange Zeit ein Stiefkind der Sprachgeschichte war. Um noch einmal Oswald Panagl zu zitieren: Die Krise der Indogermanistik in den siebziger Jahren sei auch deshalb entstanden, weil man sich »mit den häufigen irrationalen Bocksprüngen des Bedeutungswandels so weit abgefunden, ja geradezu arrangiert [hatte], daß beinahe jede semantische Entwicklung, auch die Abweichung in konträre Bereiche, widerspruchslos akzeptiert wurde, sofern nur der Lautkörper den Normen entsprach.«6 Das ist eine Einsicht, die sich nur langsam durchgesetzt hat, mittlerweile aber im Grundsatz doch allgemein akzeptiert ist. Es ist immer noch so, dass ein Sprachhistoriker, arbeitstechnisch gesehen, stets mit dem Lautlichen beginnt – wenn eine etymologische Verknüpfung lautlich ausgeschlossen ist, braucht man über semantische Zusammenhänge selbstverständlich nicht mehr weiter nachzudenken. Dass aber Bedeutungswandel nicht etwas ist, das man sich quasi im Nachklapp und mit letztlich intuitiven Methoden irgendwie zurechtbiegen kann, das hat die Wissenschaft inzwischen eingesehen.

Wir wissen heute, dass sehr vieles an der menschlichen Sprachfähigkeit angeboren ist, obwohl auch auf diesem Gebiet vieles noch nicht im Einzelnen durchschaubar ist. Die Linguistik spricht in diesem Zusammenhang gern von einem black-box-Phänomen – es gibt im menschlichen Gehirn einen hocheffizienten Sprachverarbeitungsapparat, der Daten aufnimmt, die wir kontrollieren können, und der dann wieder verarbeitete Daten ausgibt, die wir ebenfalls kontrollieren können. Aber wie die black-box im Einzelnen arbeitet, wissen wir vorläufig noch nicht. Dies zu erforschen ist Aufgabe der Psycholinguistik und verwandter Disziplinen, und die Aufgabe der Sprachgeschichte im Rahmen dieser Fragestellung besteht ganz eindeutig darin, das Angeborene vom Erworbenen abgrenzen zu helfen.

Ein ›sprachliches Universale‹, also ein Phänomen, das in allen Sprachen der Welt vorkommt, ist nämlich ein relativer Begriff. Um Universalien festzustellen ist eine Untersuchung quasi in konzentrischen Kreisen nötig, von der Einzelsprache über die größeren Sprachareale, in unserem Fall also Europa, bis hin zu den Sprachen der Welt. Keine sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin kann das allein leisten, aber alle können dazu etwas beitragen. Seltsamerweise hat sich ja die Sprachgeschichte an der sonst allseits expandierenden Europaforschung bis jetzt noch verhältnismäßig wenig beteiligt. Es gibt zwar eine Forschungsdisziplin ›Eurolinguistik‹, aber dort arbeitet man doch überwiegend synchron. Und Europa ist natürlich etwas historisch Gewachsenes, sollte also auch in seiner chronologischen Tiefendimension erforscht werden. Außerdem tendiert die Eurolinguistik manchmal in einer etwas beunruhigenden Weise dazu, die eigene Arbeitshypothese als schon bewiesene Prämisse zu betrachten, nämlich die Annahme, dass wir es bei den europäischen Sprachen, areallinguistisch betrachtet, mit einem ›Sprachbund‹ zu tun hätten, also einem losen Konglomerat von Sprachen, die nicht zwangsläufig genetisch verwandt sein müssen, die aber über längere Zeit in einem so engen Kontakt gestanden haben, dass sie sprachliche Gemeinsamkeiten ausgebildet haben. Das ist ein sehr schwieriges Forschungsgebiet, weil bei sprachlichen Gemeinsamkeiten natürlich immer erst im Einzelnen geklärt werden muss, ob sie tatsächlich auf Sprachkontakt und nicht vielleicht doch auf allgemein menschlichen Universalien beruhen – oder auch auf Zufall, denn auch das gibt es. Außerdem vermisst man ein wenig den ›Sitz im Leben‹, also ein Konzept, das einen tatsächlich über die konkreten Träger- und Vermittlerschichten des Sprachkontakts informieren würde. Sprachbünde kennt man nämlich sonst vor allem bei afrikanischen und indianischen Sprachen, und da sind die entscheidenden Faktoren stets erstens eine verhältnismäßig hohe Mobilität, also eine mindestens halbnomadische Lebensweise, die zu häufigen Kontakten mit Sprechern anderer Sprachen führt, und zweitens eine relativ hohe Zahl von mehrsprachigen oder partiell mehrsprachigen Sprechern. Europäer sind für die Ausbildung eines Sprachbunds dagegen weniger geeignet, weil die Mobilität niedrig und die Mehrsprachigkeit im statistischen Vergleich bescheiden ausgeprägt ist, und die Kommunikationsmedien gleichen das nur begrenzt aus. Jedenfalls könnte da die Sprachgeschichte und ebenso die Typologie wohl mitunter in die Diskussion eingreifen, durchaus nicht im Sinne einer Konfrontation, wohl aber im Sinne eines Korrektivs, insbesondere was die Universalienforschung und die Abgrenzung zu einzelsprachlich motivierten Entwicklungen angeht.

Man kann das an Beispielen aus unserem Projekt Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext exemplifizieren. Denn dieses Projekt bezieht im Forschungsansatz die etymologische Arbeit zwar selbstverständlich ein, geht darüber aber dann doch auch ganz wesentlich hinaus, weil es nicht einfach nur Wörter, sondern Wortfelder analysiert und die dort jeweils festgestellten Befunde in aller Ausführlichkeit auch semasiologisch und anwendungsbezogen untersucht werden, zum Beispiel durch die Feststellung von Phraseologismen, Metaphorik oder Lehnwortbeziehungen. Das Ganze wird dann in einen europäischen Kontext gestellt. Das macht es möglich, zunächst einmal Europäismen festzustellen, die tatsächlich im Detail und in ihrer historischen Tiefe nachvollziehbar werden. Es wird dann Aufgabe der Typologie und der außereuropäischen Philologien sein, diese Befunde mit universalem Material zu vergleichen.

Metaphorik ist ein Gebiet, auf dem sich der Grenzbereich von ererbtem und erworbenem, universalem und kulturgebundenem Sprachmaterial besonderseine für kulinlässt. Nach der klassischen Metapherntheorie von Lakoff und Johnson7 sind Metaphern keineswegs eine Angelegenheit der poetischen Sprache, sondern etwas, das in allen Sprachen der Welt zum inneren Kern des Sprachmaterials gehört. Sie sind auch keineswegs nur schmückendes Beiwerk, sondern Strategien und Konzeptionierungen, durch die sich der Sprecher buchstäblich das Universum erschließt – nämlich durch eine sprachliche Technik, die die Aneignung des Unbekannten durch den Vergleich mit Bekanntem ermöglicht. Eine Metapher ist, nach einem schönen Diktum von Lakoff, die Kunst, einem alten Wort neue Tricks beizubringen. Dabei gehen Universales und Kulturspezifisches immer Hand in Hand.

Ein gutes Beispiel dafür sind etwa die Metaphernkonzepte, durch die Gefühlsregungen mit Körperorganen verknüpft werden. Man sagt im Deutschen

  • jemand hat sich ein Herz gefasst,
  • etwas geht jemandem an die Nieren,
  • etwas liegt jemandem schwer im Magen,
  • einem ist eine Laus über die Leber gelaufen,
  • jemand anderer spuckt Galle.

Für die meisten dieser Ausdrücke gibt es Vergleichbares in den europäischen Sprachen, aber man tut gut daran, über den Gemeinsamkeiten die Unterschiede nicht zu vernachlässigen. So hat zwar ›sich ein Herz fassen‹ eine ziemlich genaue Entsprechung in der englischen Redeweise take heart, aber im Italienischen sagt man über jemanden, der Mut hat, er habe Leber: ha fegato. Ganz ähnlich ist der italienische Ausdruck ›jemand hat Magen‹, a stomacho, der dann eine exakte Gleichung mit französisch avoir de l’éstomac darstellt; aber um im Italienischen oder Französischen ›Magen‹ zu haben, muss jemand nicht nur Mut haben, sondern auch vieles einstecken können. Die Konnotation ›Mumm zusammen mit Ausdauer‹ ist also etwas anders und kann im Deutschen nicht mit einer Körperorganmetapher ausgedrückt werden, wohl aber im Englischen, das hierfür guts, also ›Eingeweide‹ bietet. Umgekehrt ist die Wendung, dass jemandem die Galle überläuft, im Italienischen so nicht ausdrückbar, sondern man kann hier nur auf das Adjektiv bilioso – ›gallig, verärgert, griesgrämig, übellaunig‹ – ausweichen.

Man kann durch die Detailuntersuchung solcher Wendungen auch partielle Gemeinsamkeiten, also so etwas wie innereuropäische Regionalismen aufzeigen, zum Beispiel die Tendenz südeuropäischer Sprachen, eine besondere Art von Mannesmut in Wendungen mit Vulgärwörtern für die Hoden oder den Penis auszudrücken, aber man muss sich hier auch vor voreiligen Klischeevorstellungen hüten. Denn tatsächlich ist es so, dass es solche Ausdrücke in anderen Kulturen durchaus auch gibt. Es kann nur passieren, dass sie wegen der anderen gesellschaftlichen Spielregeln von der Sprechergemeinschaft als derartig sub standard empfunden werden, dass sie extrem selten fixiert werden und dadurch auch schwer fassbar sind, es sozusagen nicht ganz bis zu einer festen Redewendung schaffen. Den Ausdruck Eier haben oder, häufiger, keine Eier haben gibt es nämlich zum Beispiel im Deutschen durchaus auch, man findet ihn aber eher durch eine Internetrecherche als in Phraseologismensammlungen, und auch im Netz dann eher in formlosen Textgattungen wie Blogs oder Chatrooms. Man hat es hier also mit sprachsoziologischen Faktoren zu tun, die den Sprachforscher unverzüglich wieder zur Etymologie rückverweisen. Denn, das muss man immer wieder einmal klarstellen, Etiketten wie ›vulgär‹ oder ›sub standard‹ beziehen sich auf außersprachliche Parameter, mit anderen Worten: Es gibt gar keine ›vulgären‹ Wörter, sondern nur solche, die als vulgär empfunden werden. Italienisch palle für die ›Hoden‹ ist zum Beispiel nichts anderes als die etymologische Entsprechung zu deutsch Ball – das Benennungsmotiv besteht also in dem völlig unschuldigen Vergleich der runden Form bestimmter Objekte. Ganz ähnlich bedeutet das im Deutschen eher unfeine Wort Arsch, griechisch órros, armenisch , hethitisch arras-, etymologisch betrachtet nichts anderes als ›der Aufragende‹ (idg. *h3órs-o-s mit Assimilation im Griechischen und Anaptyxe und geneuerter Stammbildung im Hethitischen und letztlich zur Verbalwurzel *h3er- ›sich in Bewegung setzen, aufsteigen‹ in lateinisch orior ›erhebe mich‹8), was ja als Bezeichnung für die einzige rückwärtige Ausbuchtung am menschlichen Körper nicht weiter anstößig sein sollte. Anstößig wird es erst durch eine gesellschaftliche Regel, die das Sprechen über bestimmte Körperteile mit einem Tabu belegt. Das führt dann häufig zu Lexemersatz, der indessen das Problem auch immer nur kurzfristig behebt – denn auch wenn man statt Arsch das etwas feinere Wort Hintern benutzt, ist nach kurzer Zeit doch wieder klar, wovon man da redet, der Tabucharakter des Wortes wird also abgenutzt. Und so kann man vom Gesäß bis zum Allerwertesten immer wieder neue Wörter bilden. Sprachsoziologische und pragmatische Kriterien müssen also bei der etymologischen Arbeit immer auch mitberücksichtigt werden, weil sich einem die Wortgeschichte sonst nicht erschließt.

Betrachten wir noch einmal die Leber: Für das germanische Wort, deutsch Leber, englisch liver, schwedisch lever sind schon mehrere etymologische Deutungen vorgeschlagen worden9. Zum Beispiel gab es den Versuch, das Wort irgendwie direkt an uridg. *i̯ éku̯ r˳ (t), altindisch yákr˳ t, lat. iecur, griech. hepar usw. anzuschließen10. Nachdem das offensichtlich weder im Anlaut noch bei der Fortsetzung des grundsprachlichen Labiovelars sauber aufgeht, hat man versucht, mit ›tabuistischer Entstellung‹ zu argumentieren und dabei auf das altarmenische Wort für die Leber, leard, verwiesen, das ebenfalls einen l-Anlaut aufweist. Aber so darf man heutzutage einfach nicht mehr argumentieren. Denn das armenische Wort ist seinerseits etymologisch unklar und muss keineswegs zur postulierten idg. Vorform gehören, und tabuistische lautliche Umgestaltung ist ein Phänomen, das es zwar durchaus gibt, das man aber mit äußerster Vorsicht behandeln sollte, weil man sonst allzu leicht der rekonstruktorischen Willkür verfällt. Diese Deutung muss also aus lautlichen Gründen ausscheiden. Es gibt aber noch zwei weitere Interpretationsvorschläge.

Nach dem einen ist die Leber ursprünglich ›die fette‹, womit aber nicht etwa die krankhafte Fettleber, sondern eine für kulinarische Zwecke hergestellte Mastleber gemeint ist. Das hätte dann eine schöne Parallele im romanischen Wort frz. foie, ital. fegato usw., das auf ein vulgärlateinisches iecur ficatum ›mit Feigen versehene Leber‹ zurückgeführt werden kann. Dazu ist uns glücklicherweise beim älteren Plinius eine Küchenanekdote überliefert: Es soll nämlich der berühmt-berüchtigte Prasser und Gourmet aus neronischer Zeit, Marcus Gavius Apicius, bekannt auch als Initiator eines Kochbuchs, gewesen sein, der erstmals auf die Idee gekommen ist, Schweine mit getrockneten Feigen zu mästen, um eine besonders wohlschmeckende Schweinsleber zu bekommen. Und für den semantischen Wandel vom Küchenwort zur neutralen Körperteilbezeichnung und wieder zurück könnte man reichlich Parallelbeispiele beibringen. Ich verweise nur exemplarisch auf das süddeutsche Kutteln, das etymologisch zunächst nur die ›Eingeweide‹ bezeichnet und in neuerer Zeit ausschließlich für den zubereiteten Tiermagen verwendet wurde. Es ist aber neuerdings schon wieder möglich, bei unspezifischen Bauchschmerzen zu sagen, es täten einem die Kutteln weh. Ob die alte Bedeutung hier unterschwellig im Dialekt weiterexistiert hat oder durch eine scherzhafte Bedeutungsübertragung reaktiviert wurde, ist dabei schlechterdings nicht zu entscheiden.

Die Leber als ›die fette‹ ist also durchaus denkbar; man könnte als weitere Parallele auf die Etymologie der Lunge verweisen, denn das ist ursprünglich ›die leichte‹, also ebenfalls ein Küchenwort, das ursprünglich nur ein Attribut zum eigentlichen Wort war und sich dann verselbständigt hat.

Es gibt aber für die Leber noch eine konkurrierende Deutung, nach der sie als Sitz der Lebenskraft auch etymologisch zur Wortsippe von leben gehört. Dieser Vorschlag ist insofern etwas problematischer – wenn auch nicht ausgeschlossen –, als es innerhalb der Indogermania mehrere Lokalisierungsversuche für die Lebenskraft gibt: die Lunge kommt in Frage, das Zwerchfell, aber natürlich auch das Herz. Es ist daher nicht mit letzter Konsequenz nachzuweisen, dass sich im germanischen Bereich nun gerade die Leber als zentrales Lebensorgan durchgesetzt hätte, weil das Aussetzen des Herzschlags, das Aufhören des Atems natürlich die leichter wahrnehmbaren Phänomene beim Tod sind. Man hat argumentiert, dass die Leber beim Tieropfer eine gewisse Rolle spielt, und natürlich gibt es für die Leber als Lebenssitz auch außereuropäische Parallelen – wir alle kennen das aus Indianergeschichten. Aber man muss doch zugeben, dass diese Interpretation ein wenig spekulativ bleibt.

Auf jeden Fall kann man aber an diesen beiden konkurrierenden Deutungen sehen, wie weit die Spannweite der Benennungsmotive in diesem Bereich sein kann: Die kulinarische Marotte eines dekadenten Römers auf der einen Seite, ein Lebenskonzept, womöglich beeinflusst durch die Fachterminologie des rituell-magischen Opferwesens, auf der anderen. Die Entscheidung kann in diesem Fall die Wortbildung bringen, weil die Leber in der Deutung als substantiviertes Adjektiv eine Parallele in griech. liparós ›fett‹ hat, während man bei der Deutung als ›die lebende‹ oder ›die zum Leben gehörige‹ mit einer morphologisch isolierten Bildung zu rechnen hätte. Wir müssen also fürs erste festhalten, dass sich in unserer Sprache leider kein philosophisches Lebenskonzept, sondern die gute Küche durchgesetzt hat.

Wenn man nun, nach all diesen Parallelen mit Varianten im Detail, nach all den Organmetaphern und Phraseologismen einmal die Gegenprobe macht und fragt, welche Organe denn nun nicht metaphorisch verwendet werden, stößt man allerdings ebenfalls auf Übereinstimmungen. Es gibt zum Beispiel keinerlei Phraseologismen oder Ähnliches mit Bezeichnungen für diejenigen Organe, die für den medizinischen Laien subjektiv nicht ohne weiteres wahrnehmbar oder überhaupt wenig im allgemeinen Bewusstsein sind, wie etwa die Bauchspeicheldrüse. Auch für die Milz gibt es außer einem bescheidenen Biertrinkerwitz wenig Material zu untersuchen. Es ist aber ganz gut möglich, dass sich das in der Zukunft durch das ständig steigende Gesundheitsbewusstsein, das wir uns in unserer Hochzivilisation leisten können, irgendwann einmal ändert.

Als weitere, übergreifende Gemeinsamkeit lässt sich feststellen, dass die konzeptuelle Verknüpfung von Gefühlsregungen mit inneren Organen offenbar universal ist; kulturspezifisch ist lediglich die Zuordnung bestimmter Affekte zu bestimmten Organen. Das gilt auch, wenn man den Blick einmal auf außereuropäische Kulturen lenkt: So wird zum Beispiel im Indonesischen fast alles, was wir im Deutschen dem Herzen zuordnen, der Leber zugeschrieben, die außerdem noch die ›Seele‹ repräsentiert.11 Das ist nun nicht so trivial, wie man im ersten Moment denkt, denn die psychosomatischen Interaktionen von Affekt und physiologischer Reaktion beschränken sich ja keineswegs auf die inneren Organe – man kann, nur zum Beispiel, von Stress und Ärger auch nervöse Ekzeme oder schmerzhafte Verspannungen im Schulterbereich bekommen. Es scheint aber ein universales Konzept im Sinne der schon erwähnten Metapherntheorie von Lakoff und Johnson zu sein, dass Gefühle nach einer allgemein menschlichen Vorstellung immer in einer Innen-Außen-Bewegung konzeptioniert werden – entweder das Organ wird von einem von außen kommenden Ärgernis affiziert, das dann beispielsweise jemandem ›an die Nieren geht‹, oder ein Affekt entsteht innen und wird dann nach außen befördert, zum Beispiel wenn einem ›die Galle übergeht‹ oder ein Italiener ›Leber‹ zeigt. Schulter oder Haut werden aber offensichtlich konzeptionell als ausschließlich ›außen‹ empfunden und sind daher für eine solche Metaphorik weniger geeignet.

Die bisherigen Betrachtungen haben schon gezeigt, dass lexikalisierte Metaphern dazu neigen, in semantischen Gruppen aufzutreten und die Realität zu strukturieren. Sie bilden also einen ganzen Vorstellungskomplex. Außerdem haben wir gesehen, dass es bei der Metaphernbildung übereinzelsprachliche Regularitäten und auch Elementarparallelen gibt, die durch die Struktur des menschlichen Wahrnehmungsapparates bedingt sind. Im Zusammenhang mit den Körperteilbezeichnungen kann man nun noch auf einen weiteren Metaphernkomplex verweisen, nämlich auf die Bezeichnungen für die Geländeformationen. Auch das ist ein Bereich, bei dem die Sprache eine realitätsstrukturierende Funktion hat, denn in einem unstrukturierten Wahrnehmungsapparat gäbe es überhaupt kein Kriterium, mit dem man zwischen ›Berg‹ und ›Tal‹ unterscheiden könnte, sondern man hätte ein fließendes Wahrnehmungskontinuum. Interessanterweise konkurrieren bei den Bezeichnungen für Geländeformationen in fast allen Sprachen zwei Metaphernkonzepte: Zum einen die metaphorische Verwendung von Körperteilbezeichnungen, wie sie etwa dt. Landzunge, schw. näs ›Landzunge‹, ursprünglich ›Nase‹ oder engl. foot of a mountain ›Fuß eines Berges‹ bieten. Im Hethitischen ist das etwa im Bergnamen Iskissa ›Rücken‹ bezeugt, und ein Beleg aus einer hethitischen Tierparabel bietet sogar das Wort tuekka- ›Körper‹ in der Bedeutung ›Oberfläche (eines Berges)‹. Das ließe sich unendlich fortsetzen: An Körperteilmetaphern gibt es anord. kinn f. ›Backe‹ für den ›Bergabhang‹, anord. áss ›Schulter‹ für den ›Bergrücken‹, norw. nakk ›Nacken‹ für den ›Berggipfel‹, lat. (alat.), collum n. ›Hals‹ für das ›Bergjoch‹ und vieles mehr12.

Ebenso frequent ist aber auch die Verwendung von Gefäßbezeichnungen für Geländeformationen in mehreren Einzelsprachen, man denke an dt. Kuppe aus einem spätlat. cuppa ›Becher‹ oder an ein griechisches lépas ›Schale‹ in der Bedeutung ›Felskuppe‹. Die berühmteste von allen Gefäßmetaphern ist aber sicherlich das griechische Wort Krater ›Mischkrug‹, zunächst als Bezeichnung für eine Geländevertiefung, später auch als Bezeichnung für den Schlund eines Vulkans. Eine Stelle bei Lucrez kontrastiert sehr schön die Körperteilmetaphern des Lateinischen mit der Gefäßmetapher des Griechischen (Lucr. De rerum natura 6, 701):

in summo sunt vertice enim crateres, ut ipsi nominitant; nos quod fauces perhibemus et ora.

»Denn auf dem Gipfel des Berges öffnen sich ›Krater‹ ─ so heißen sie bei den Griechen, ›Schlünde‹, auch ›Münder‹ aber bei uns Römern.«

Im Altarmenischen konkurrieren synchron die Wörter hrabxa-beran ›Vulkan- Mund‹ (zu hraboux ›Vulkan‹), also als zweiteilige Metapher eine klassische Kenning, und xaȓnaran ›Schmelztiegel‹ zum Verbum xaȓnem ›mischen‹, usw. Auch dies ist, wie die Typologie weiß, ein Universale, ebenso wie die metaphorische Querverbindung von Körperteil- und Gefäßbezeichnung, die wir im Deutschen etwa bei dem Wort Becken und ganz entsprechend im Lateinischen bei dem Wort pelvis haben. Selbstverständlich muss man bei all diesen Wörtern zunächst die diachrone Wortgeschichte betrachten, denn es ist natürlich immer auch möglich, dass so ein Wort mitsamt seiner metaphorischen Nebenbedeutung entlehnt wird oder das Vorbild für eine Lehnprägung bietet. Aber für die Bedeutungsforschung ist das letztlich gar nicht entscheidend, denn eine metaphorische Bedeutung würde aller Erfahrung nach nicht mitentlehnt werden, wenn sie nicht in der Zielsprache auch eine konzeptionelle Verankerungsmöglichkeit hätte. Es gibt also auch artifizielle ›Kulturwandermetaphern‹, und auch dafür in aller Kürze ein Beispiele: Im Kleinen Prinzen des französischen Dichters Antoine de Saint-Exupéry heißt es:

»Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«13

Das ist eine sehr poetische Metapher, die nicht der Umgangssprache entstammt, aber sie hat eine merkwürdige Parallele bei dem Böhmen Bohumil Hrabal:

»Wenn die Nacht kommt und langsam den Docht der Lampe löscht, kann die Zunge nicht sagen, was das Herz gerade sieht.«14

Nun könnte man ja annehmen, dass das ein intertextuelles Zitat sei, aber Hrabals Text stammt von 1939, der französische von 1943, und es ist nun wirklich durch nichts wahrscheinlich zu machen, dass Saint-Exupéry das Buch eines damals völlig unbekannten Tschechen noch während des Krieges in der Originalsprache gelesen hat. Man hat daher zwei Möglichkeiten, diese auffällige Ähnlichkeit zu erklären: Es kann entweder eine Elementarparallele vorliegen, dann müsste man plausibel machen, dass ein Sprecher beim Herzen, in diesem Kontext konzeptioniert als Gefühlssitz, gleichzeitig als Wahrnehmungsorgan metaphorisieren konnte, es also bildhaft mit ›Augen‹ versehen hat. Diese Annahme scheitert aber an der Tatsache, dass sich ein solches Metaphernkonzept ausschließlich in literarischem Kontext, niemals aber in irgendeiner Umgangssprache findet. Man muss also zu anderen Erklärungsmöglichkeit greifen und eine gemeinsame literarische Quelle finden, und da wird man auch alsbald fündig, nämlich in dem Paulusbrief Epheser I, 18:

»Er erleuchte die Augen eures Herzens, dass ihr erkennen möget, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, und welchen Reichtum an Herrlichkeit er den Heiligen beschieden hat.«

Paulus wiederum variiert eine einigermaßen vergleichbare Metapher aus dem Alten Testament:

Jerem. 4,4: »Beschneidet euch für den Herrn und tut weg die Vorhaut eures Herzens, ihr Männer von Juda und ihr Leute von Jerusalem.«

5. Moses 10,16: »So beschneidet nun eure Herzen und seid hinfort nicht halsstarrig. «

Hesek. 44,9: »Es soll kein Fremder mit unbeschnittenem Herzen und unbeschnittenem Fleisch in mein Heiligtum kommen von allen Fremdlingen, die unter den Kindern Israels leben.«

Über die theologischen Literaturen des Mittelalters dringt die Metapher vom Herzen, das seinerseits Körperteile hat, weiter in die Übersetzungsliteratur ein. So ist etwa im althochdeutschen Sangaller Glauben und Beichte davon die Rede, dass man der geistlichen Belehrung mit dem ›Ohr des Herzens‹, cordis aure, ahd. mite anadâhten ôren iures herzen anhören solle, bei Hugo von St. Victor ist dann auch von den ›Augen des Fleisches‹ die Rede, und wenn man die Belege weiterverfolgt, kann man immer wieder neue und spielerische Varianten des Motivs aufzeigen, gleichzeitig zeigt sich eine allmähliche Verweltlichung des Ausdrucks, ohne dass er direkt in die Volkssprachen eingedrungen wäre. Man muss daher keineswegs annehmen, dass es sich bei Saint-Exupéry und Hrabal um bewusste Bibelzitate oder Anspielungen handelt, sie können die Metapher durchaus als Literaturmetapher unklarer Herkunft rezipiert haben. Ein solches metaphorisches Konzept müsste aber demnach bei der Untersuchung als kulturgebunden und keineswegs universal gewertet werden, jedenfalls solange, wie nicht beispielsweise ein Spezialist für Bantusprachen nachweist, dass es den Ausdruck in Afrika vor der Christianisierung auch schon gegeben hat.

Wir wollen nun die eingangs gestellte Frage nach dem Zweck oder eben Selbstzweck der Etymologie noch einmal neu angehen. Wenn der Begriff ›Zweck‹ gleichbedeutend sein sollte mit dem Begriff des ›praktischen Nutzens‹, dann ist etymologische Forschung in der Tat Selbstzweck. Es ist immer eine verzweifelte Ausrede, wenn bedrängte Sprachhistoriker darauf verweisen, dass durch ihre Forschungen die sogenannten ›Ausnahmen‹ einer einzelsprachlichen Grammatik als fossilierte, ursprünglich aber durchaus Regeln gehorchende Reliktbildungen verstanden werden können. In der Zeit, die man braucht, um auf fundierte wissenschaftliche Weise zu lernen, warum der Plural mice zu englisch mouse keineswegs eine befremdliche ›Ausnahme‹, sondern ein Fortsetzer desselben Umlautplurals ist, den wir in deutsch Mäuse auch haben, hätte man die Form bequem auch auswendig lernen können. Nein, diese Art von Zweckangaben ist ungefähr so sinnlos, wie wenn die Vertreter der erstaunlich kostenintensiven Weltraumforschung darauf verweisen, dass sie ja schließlich nebenher die Teflonpfanne erfunden hätten.

Diese Art von Zweckdenken kann und will die Sprachwissenschaft nicht bedienen.

Jedoch, ›Zweck‹ bedeutet ja gar nicht Nutzen. Um noch eine letzte Etymologie zu machen: Im Althochdeutschen bezeichnet der zwec einen ›Nagel‹ oder ›Pflock‹, daher bis heute die Nebenform Zwecke, speziell ist der zwec dann derjenige Pflock, den man beim Wettschießen in die Mitte einer Zielscheibe drückt. Der Zweck ist also das, was man treffen möchte, zunächst das konkrete Ziel, dann in übertragener Bedeutung die Absicht.

Zu fragen ist also, welche Absicht wir mit unserer etymologischen Arbeit verfolgen. Und wir wollen hier nicht simplifizierend mit einer Forderung nach ›Bildung‹ statt ›Ausbildung‹ schließen. Aber ›Bildung‹ als Kompetenz in Bereichen, die nicht unmittelbar der Sicherung des Lebensunterhalts dienen, sollte in seiner gesellschaftlichen Bedeutung auch nicht unterschätzt werden. Und was nun speziell die auf Europa bezogene Sprachforschung angeht, die wir im Projekt Deutsche Wortfeldetymologie betreiben, so will diese Arbeit ganz explizit auch einen Beitrag zu der Frage leisten, inwieweit es denn ein europäisches Bewusstsein überhaupt gibt und vielleicht auch: eines Tages einmal geben kann.

Die europäische Union ist staatsrechtlich betrachtet ein etwas diffuses Gebilde, über dessen Zukunftsperspektive allgemein Unklarheit besteht. Man weiß allerlei über die kurz- und mittelfristigen Erweiterungspläne, aber eigentlich nichts Verbindliches über die langfristigen Entwicklungsziele. Soll die EU eines Tages in die ›Vereinigten Staaten‹ von Europa münden? Oder soll sie wie bisher ein überstaatlicher Verbund von kooperierenden Einzelstaaten bleiben? Wird die EU eines Tages alle europäischen Staaten umfassen?

Im Augenblick spürt man in Deutschland mitunter ein gewisses Unbehagen, weil die Europäische Union subjektiv oft nur als bürokratischer Moloch erfahren wird. Der etwas schöngeistige Wahlspruch ›In Vielfalt geeint‹ macht das nicht besser. Ein europäisches Bewusstsein entwickelt der Einzelne bislang vorzugsweise dann, wenn er sich außerhalb von Europa bewegt. Nie ist man so europäisch wie in dem Augenblick, wo man ratlos an einer Straßenecke in Tokyo steht, weil es in dieser seltsamen Millionenstadt keine Straßennamen gibt. Aber wenn es denn ein europäisches Bewusstsein geben könnte, dann müsste es natürlich auf mehr als auf Abgrenzungen nach außen hin durch ein paar antrainierte, aber letztlich doch äußerliche Verhaltensweisen beruhen.

Die Sprachwissenschaft kann hier einen wertvollen Beitrag leisten, weil sie dazu anleitet, in einer bewusst reflektierenden Weise über die wahrnehmungsstrukturierende Funktion von Sprache nachzudenken. Es hat ja in der Vergangenheit auch schon Theorien gegeben, die in einer ganz strikten Weise das Prinzip vertreten haben, dass jede Einzelsprache ihr eigenes Weltbild strukturiere. Das ist eine Idee, die letztlich schon bei Humboldt angelegt ist und in Deutschland von Leo Weisgerber, in Amerika von Edward Sapir und Benjamin Whorf weitergeführt worden ist. In der extremen Lesart dieser Theorie würde das bedeuten, dass so etwas wie eine ›Übersetzung‹ gar nicht möglich wäre. Denn in einem jeweils ganz anders strukturierten Weltbild wäre kein sprachlicher Begriff vollkommen deckungsgleich mit dem in einer anderen Sprache. Es hat sich aber bald herausgestellt, dass die These in dieser Absolutheit nicht haltbar ist – eine linguistische Theorie, die von einem Indianersprachenforscher wie Sapir betrieben wird, gleichzeitig aber die schiere Unzugänglichkeit fremder Sprachen behauptet, würde sich ja auch selbst ad absurdum führen. Die Sapir-Whorf-Hypothese hat aber auf jeden Fall unser Gespür für die Risiken und Untiefen einer vorschnellen Annahme von sprachlichen Universalien geschärft und bleibt in der abgemilderten Form eines ›sprachlichen Relativitätsprinzips‹ auch unbestreitbar richtig.15 Es geht nun nicht mehr an, eine Indianersprache auf der Basis der Lateingrammatik zu beschreiben, und auch die Selbstverständlichkeit ist dahin, mit der man früher semantische Entwicklungen als ›normal‹ empfunden hat, nur weil sie einem aus der eigenen Muttersprache und vielleicht noch einer genetisch verwandten Fremdsprache vertraut waren. Wir wissen heute sehr viel genauer, welch großen Aufwand an metasprachlichen Umschreibungen man betreiben muss, um einen sprachlichen Sachverhalt tatsächlich adäquat darzustellen. Wenn also die Sprachforschung auch einen erzieherischen Wert hat, dann besteht er sicherlich darin, dass sie den achtsamen Umgang mit Sprache als dem zwar nicht einzigen, wohl aber wichtigsten Kommunikationsmittel lehrt. Und es lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten, dass speziell die Sprachforschung im europäischen Kontext letztlich doch genau das aufzeigen kann, was das europäische Motto ›In Vielfalt geeint‹ postuliert. Es kommt dabei nämlich gar nicht so sehr darauf an, ob wir im Detail sprachliche ›Europäismen‹, also exakte Übereinstimmungen zwischen bestimmten Wendungen in den europäischen Sprachen auffinden, denn das sind ja letzten Endes Oberflächenphänomene. Viel wichtiger sind die konzeptuellen Übereinstimmungen, die sich im Sprachmaterial niederschlagen und die durch die etymologische Forschung wieder freigelegt werden können. Wenn es überhaupt so etwas wie eine ›europäische Weltsicht‹ gibt, dann wird man sie in sprachlichen Strategien, die die Realitätswahrnehmung strukturieren, am ehesten und am objektivsten aufzeigen können. Und vieles, was man vielleicht vorschnell als ›typisch deutsch‹ oder ›typisch europäisch‹ bewertet, wird sich im Zuge der Universalienforschung als allgemein menschlich erweisen. Das ist ganz bestimmt kein unnützer Erkenntnisgewinn.

Und ein letztes: Auch das Interesse an Sprache ist ein menschliches Universale. Kinder denken sehr viel und manchmal sehr klug über Wörter nach. Es ist eigentlich schade, dass man ihnen das so oft mit einem unwirschen ›das heißt eben so‹ austreibt. Tatsächlich lässt sich nämlich in sehr vielen Fällen durchaus erklären, warum etwas so und nicht anders heißt, und es ist ein langer Forscherweg, bis man an den Punkt kommt, wo es wirklich nicht mehr weitergeht.

  1. 1http://de.wikipedia.org/wiki/Etymologie.
  2. 2http://de.wikipedia.org/wiki/Autotelie.
  3. 3Oswald Panagl, »Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft – ein Anachronismus? «, Salzburger Universitätsreden Heft 73, Salzburg/München 1982.
  4. 4Zitiert nach Panagl (s. Fn. 3), S. 7 f.
  5. 5Vgl. zu all dem z. B. Götz Keydana, »Indogermanische Akzenttypen und die Grenzen der Rekonstruktion«, http://www.keydana.de/deutsch/download.php.
  6. 6Panagl (s. Fn. 3), S. 8.
  7. 7George Lakoff und Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 2002.
  8. 8Vgl. Helmut Rix u. a., Lexikon der indogermanischen Verben, Wiesbaden 1998, S. 266 f.
  9. 9Vgl. Friedrich Kluge und Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl. 1989, S. 432.
  10. 10Vgl. Dagmar Wodtko, Britta Irslinger und Carolin Schneider, Nomina im indogermanischen Lexikon, Heidelberg 2008, S. 392 ff.
  11. 11Vgl. Poppy Siahaan, Metaphorische Konzepte im Deutschen und im Indonesischen: Herz, Leber, Kopf, Auge und Hand, Frankfurt/Bern 2008.
  12. 12Weiteres Material bei Susanne Zeilfelder, »Metaphern in Theorie und Praxis«, in G.-J. Pinault und D. Petit, Hg., La langue poétique indo-européenne. Akten der Arbeitstagung der Indogermanischen Gesellschaft in Paris 2003, Leuven-Paris 2006, S. 537–549.
  13. 13Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, Düsseldorf 1998, S. 52.
  14. 14Zitiert nach Monika Zgustová, Bohumil Hrabal – Leben und Werk, Frankfurt 2001, S. 46.
  15. 15Zum ganzen Problem Ivar Werlen, Sprache, Mensch und Welt: Geschichte und Bedeutung des Prinzips der sprachlichen Relativität, Darmstadt 1989.
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Heft 2 (2009)
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