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Seher und Sensoren

Ursprünge der Orientierungstechniken

Orientierungstechniken sind im technischen Zeitalter z. B. Ortungssysteme per Radar oder Sonar. Beide Techniken haben im Laufe des 20. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung genommen. Schrittmacher für diese Entwicklung waren zwar nicht nur, aber doch deutlich und schubweise militärische Erfordernisse. Unter den radarbasierten Ortungssystemen (Radio Detection and Ranging) finden sich solche für Bodenortungen, mit denen sich z. B. Metalle auffinden lassen. Diese Technik ist für Archäologen wie für Schatzsucher gleichermaßen interessant. Die heutige Generation solcher Ortungstechniken ist zumeist auch mit Zurichtungen für bildgebende Verfahren verbunden (Imaging Radar), die dem Nutzer Informationen über die Gestalt der gesuchten Gegenstände bieten. Radartechniken werden natürlich auch für Wettererkundungen eingesetzt, für die Ortung von Niederschlagsgebieten, von Gewitterfronten und Blitzeinschlägen. Die geläufigste und heute in der Regel satellitengestützte Verwendung des Radars ist aus dem Verkehrsbereich bekannt, aus dem Flug-, Schiffs- und Autoverkehr. Bei letzterem haben wir es zu unserem Leidwesen bisweilen mit Radarkontrollen der Polizei zu tun, zu unserer Orientierungsentlastung und damit zu unserem Freudwesen auch mit dem satellitengestützten Navigationssystem (GPS). Spektakulär ist darüber hinaus der Einsatz des Galileo-Systems in der von der Siemens Tochter Toll Collect verzögert funktionsfähig gestellten Technik zur Erhebung von Maut-Gebühren auf deutschen Autobahnen. Wie wichtig solche Navigationstechniken sind, lässt sich auch daran ermessen, dass die Deutsche Gesellschaft für Ortung und Navigation (DGON) mit Sitz in Bonn vom 19. bis zum 22. Juli 2005 eine European Navigation Conference nach München einberufen hat, die unter Schirmherrschaft des Bayerischen Ministers Dr. Otto Wiesheu stand.

Technisch gesehen, und zwar elementartechnisch, basieren Radarsysteme auf zwei Phänomenen, die uns auch aus dem Alltag geläufig sind: auf dem Echoeffekt und dem sog. Dopplereffekt. Per Echo kann man messen, wie weit eine Instanz entfernt ist, die eine emittierte Welle zurückwirft. Dagegen sorgt der Dopplereffekt, d. h. musikalisch gesprochen, das sonare Crescendo und Decrescendo eines bewegten Körpers bezogen auf eine registrierende Instanz, dafür, dass wir die Geschwindigkeit der Körper messen können. Eines der wichtigsten Publikationsorgane für Ortungstechniken ist die Zeitschrift Journal of Navigation, herausgegeben von dem Royal Institute of Navigation.

Unter Wasser wird auf der Basis derselben Prinzipien sozusagen ein Ton- Radar eingesetzt, der also nicht Gebrauch von Radiowellen oder neuerdings auch Laser, sondern von Tonwellen (sonus) macht. Bei dieser Technik spricht man in Anlehnung an das Wort Radar vom Sonar. Die unter Wasser emittierten Tonimpulse sind bisweilen so stark, dass sie wiederum das biologische Ortungssystem z. B. von Walen stören, ja zerstören können, worauf mit Recht Naturschützer hingewiesen haben. Sonarsysteme sind uns von U-Booten her geläufig, aber auch von Minensuchbooten und von Expeditionen für die Vermessung und Kartierung von Meeresböden. In der Sonartechnik ist Deutschland übrigens weltweit führend, und die am Kap Horn vor Afrika eingesetzten Minensuchboote der Bundesmarine haben auch dann zum Glück noch Minen ausfindig gemacht, als die Amerikaner entsprechende Schiffspassagen schon freigegeben hatten. Ferner werden Sonarsysteme auch eingesetzt für die Erkundung von Sedimenten unter dem Meeres- oder Gewässerboden. In diesem Segment, und das wird Naturschützer wieder freuen, hatte ich in meiner Zeit in Jena Gelegenheit, Dr. Klaus Storch kennenzulernen, dessen Firma SOSO-Sondersonar / Jena avancierte Techniken entwickelt hat, die sich, was ich vermitteln konnte, auch für Abfallbeseitigungsmaßnahmen in Gewässern von Berlin, und zwar im Auftrag des Berliner Senats, eigneten.

Ohne solche Navigations- und Ortungssysteme, ohne solche digitalisierten Orientierungstechniken ist die heutige Welt der bewegten Gesellschaften nicht denkbar. Aber natürlich standen sie nicht immer in dieser hochspezialisierten Technik zur Verfügung. Ältere Navigations- und Orientierungstechniken mussten mit Karte, Kompass, Sextant und Sternen vorlieb nehmen, noch ältere mit Sternen allein.

Und schon befinden wir uns in einer Zeit, in der wir die Flotte des griechischen Heeres an die Küsten Trojas navigieren müssen. Wem sollen wir dieses verantwortungsvolle Geschäft anvertrauen? Die griechische Generalität wusste es: Unser Admiral und Navigator kann nur Kalchas sein, der Seher, von dem es in der Ilias heißt, er sei der weiseste Vogeldeuter, der erkannte, was ist, was sein wird und was zuvor war.1

Machen wir uns nichts vor, diese Auskunft klingt befremdlich. Ausgerechnet einem Seher, einem μαντις, soll die Navigation überlassen werden? Doch Homer duldet in dieser Frage keinen Zweifel. Sicher war Kalchas auch derjenige, der als Seher zu Rate gezogen wurde, als es galt, eine Erklärung für das Wüten der Pest im Heer der Griechen vor Troja zu liefern. Und er konnte es, da er eben als Seher mantischen Einblick in den Götterwillen hatte und den Ausbruch der Pest als Strafaktion von Apoll identifizieren konnte: Agamemnon hatte Apoll beleidigt und erzürnt, weil er die gefangene Tochter eines Priesters des Apoll nicht freigelassen hatte. Zufolge dieser Erklärung des Kalchas musste es Agamemnon wohl oder übel dann doch tun, und das machte ihn wütend, und er hielt sich an einer gefangenen Trojanerin, an der Achill sein Wohlgefallen gefunden hatte, schadlos. Aber genau das machte wiederum Achill wütend, und er verspürte nicht mehr die geringste Lust, am Kampf gegen die Trojaner teilzunehmen. Und eben deshalb kann die Ilias mit ihrem Musenanruf beginnen: »Singe Göttin, den Zorn des Peleiaden Achill […]«.

Der Seher Kalchas ist also in der Lage, solche Erklärungen widriger natürlicher Ereignisse im Rückgang auf den strafenden Götterwillen zu liefern. Aber gleichwohl ist er auch derjenige, der die Flotte der Griechen an die Küste Trojas navigiert hatte (ηγεσατ’). Das sagt Homer ganz unzweideutig. Und er ergänzt noch, und da gibt es keinen Ausweg mehr: Er navigiert oder führt die Flotte der Griechen an die Küste Trojas ›kraft seiner Wahrsagekunst‹ (δια μαντοσυνην). Manche Übersetzungen geben das griechische Verb ηγεισθαι mit ›begleiten‹ wieder, also im Sinne von ›Kalchas begleitete die griechische Flotte‹. Das ist gewiss falsch. Ηγεισθαι heißt nun einmal ›militärisch führen‹. Ein spätes Echo haben wir heute noch in dem Adjektiv ›hegemonial‹. Wenn es also so ist, dass Kalchas als Seher in der Lage ist, eine ganze Flotte zu navigieren, dann kann seine Sehergabe nicht so beschaffen gewesen sein, dass er als Kaffeesatzleser oder Spökenkieker auf der Brücke stand. Als Seher musste er offenbar über das seinerzeit verfügbare nautische und navigationstechnische Wissen verfügen, d. h. in Zeiten ohne Karte, Kompass und Sextant über das nötige Sternstandwissen. Die Seherkunst, die Mantik, wurde also damals ganz unzweideutig als Orientierungstechnik eingesetzt. Allerdings in einem differenzierten Sinne: einmal als avanciertes Wissen, das ein nautisches Können per Navigation in Orientierung am Sternenstand möglich macht und dann, wenn ein Können trotz dieses Wissens scheitert, als ein Wissen um den Bestrafungsscharakter von Widerfahrnissen im Rückgang auf einen wirksamen Götterwillen. Die Flotte der Griechen hätte ja trotz der Navigation des Kalchas in schweres Wetter geraten können. Dann gibt es eben einen zusätzlichen Erklärungsbedarf. Ich möchte es hier als ein Prinzip formulieren: Menschliches Verhalten wird in dem Maße divinatorisch relevant, als es, für uns heute, in die Dimension des Zufälligen hineinragt. Und dies gilt auch für unser wissensbasiertes Können. Denn auch jedes Können mündet exerziert in ein Gelingen oder Misslingen. Jemand kann zwar navigieren und demzufolge wird eine Schifffahrt normalerweise auch gelingen, d. h. ungestört ihr Ziel erreichen; sie kann aber auch misslingen, d. h. in schwere See geraten. Das Gelingen ist nicht ganz auf das Können zurückzuführen, die Umstände, z. B. das Wetter, müssen mitspielen. Wer reiten kann, dem kann es trotzdem widerfahren, dass er vom Pferd fällt. So ragt auch jedes Können in die Dimension des nach unserem Verständnis Zufälligen hinein. Ein solches Verständnis des Zufälligen gibt es aber bis spät ins 19. Jahrhundert, genau genommen bis zu Clausius und Boltzman nicht. Es gibt zwar das Zufällige im Sinne von τυχη und fortuna, aber via Zufall ist immer eine höhere Macht, ein schicksalhaftes oder göttliches Geschehen wirksam. Das besagt: Mündet ein Können im Gelingen, haftet ihm ebenso etwas Belohnendes und damit nur divinatorisch Zugängliches an wie einem Können, das in einem Misslingen endet, dem gewiss ein Bestrafendes und damit ebenso ein nur divinatorisch Zugängliches anhaftet. Insofern kann die im Gelingen endende Navigation der griechischen Flotte durch Kalchas durchaus seinen divinatorischen Fähigkeiten gutgeschrieben werden, obwohl sein Können vielleicht nur fortune hatte. Dass Kompetente auch fortune haben müssen, um Erfolg zu haben, ist dann die neuzeitliche façon de parler eines ehedem von Göttern begünstigten Handelns. Insofern fällt Homers Charakterisierung des Admirals Kalchas keineswegs aus dem Rationalitätsprofil heraus, sondern bestätigt es, weil die Verhältnisse damals anders gar nicht formulierbar waren. Kalchas würde heute Orientierungs- oder Ortungstechniken wie das Radar oder Sonar für seine Navigation ebenso benutzen wie seinerzeit sein alternativloses Sternstandwissen. Auf diesem Fuße ist Mantik als Orientierungstechnik jedenfalls nichts Irrationales.

Das erklärt sich daraus, dass die Mantik, und zwar je älter ihre Zeugnisse sind, desto deutlicher, durchaus eine epistemische Rendite erwirtschaften konnte. Im allgemeinen unterscheidet man eine ›intuitive‹ oder natürliche Mantik, die aus Traum, Rausch und Exstase ihre Botschaften extrahiert, von einer ›interpretativen‹ oder künstlichen Mantik, die ihre Botschaften aus der rechten Deutung natürlicher Zeichen bezieht, aus Zeichen wie Vogelflug, Eingeweide, das Rauschen heiliger Haine und Quellen, aber auch Blitz und Donner, Mond, Sonne und Sterne und auffällige Naturereignisse oder Tierverhalten.2 Beide Formen der Mantik finden sich bei allen alten Völkern der Erde, bei manchen Naturvölkern bis heute. Das Repertoire der mantischen Deutungskunst ist dabei stets auf das Milieu zugeschnitten, in dem es um Leben und Überleben ging. Wenn man annehmen darf, und man darf es, dass in sehr frühen Zeiten tiefergehende Kenntnisse über Kausalverhältnisse, die natürlichen Ereignissen zugrunde liegen, noch nicht zur Verfügung standen, konnte es nicht unnütz sein, sich zunächst um die Kenntnis von Ereigniskorrespondenzen zu bemühen. Wenn man weiß, welche Ereignisse im allgemeinen zusammen auftreten, ist das ein Erkenntnisgewinn. Wie immer die Kausalitäten dieser Ereignisse geknüpft sein mögen, die Korrespondenz ihres Auftretens gibt Anlass, mit dem Auftreten eines Ereignisses schon dann zu rechnen, wenn man nur Kentnis von dem korrespondierenden hat. Der Ruf des Eichelhähers verrät dem kundigen Jäger, dass ein Tier, das er nicht sehen kann, in der Nähe ist. Im Stile einer solchen ›Naturkunde‹ führt auch Cicero die Mantik im ersten Teil von De divinatione durch seinen Bruder Quintus positiv ein, selbst wenn er die Argumente im zweiten Teil wieder destruiert. Auch Ärzte, so Quintus, können ja häufig nicht sagen, warum gewisse Kräuter heilen, aber dass sie es tun, wissen sie. D. h., Nichtwissen um die zugrundeliegenden Kausalverhältnisse hindert nicht die erfolgreiche Prognose oder Therapie. »Non quaero cur, quoniam quid eveniat intelligo.«3 Auf dieser durchaus fragilen induktiven Basis operiert in der Tat die frühe interpretative Mantik. Das bekundet auch Herodot von den Ägyptern: »Wenn nämlich etwas Merkwürdiges geschieht, geben sie acht und schreiben den Ausgang der Sache auf. Bei einem ähnlichen Vorfall in späterer Zeit glauben sie dann, es müssten wieder die gleichen Folgen eintreten.«4 Trotz dieser Mitteilung hat man sich in der Litertaur darüber mokiert, dass aus dem alten Ägypten keine Prodigiensammlungen, wie wir sie von den Babyloniern zuhauf kennen, erhalten sind. Die Gelehrten, die mit dieser Materie befasst waren, haben offenbar eine gesonderte Überlieferung von Prodigien erwartet. Diese stecken aber in den durchaus überlieferten Messungen des Wasserstandes des Nil, deren Ergebnisse für die Ägypter hauptsächlich prognostisch relevant waren. Man muss hier also immer mit den historischen und kulturellen Einbettungen des Existierens rechnen, die den Ausschnitt mantisch relevanter Prognosen definieren, der epistemisch effektiv gebraucht wurde. Nomadenkulturen in der Wüste sind auf andere deutungsrelevante Anzeichen spezialisiert als die Indianer am Amazonas. Besonders deutlich spricht in diese Richtung auch die chinesische Überlieferung der Mantik. Hier war es von alters her geboten, ganz so wie es Herodot von den Ägyptern behauptet hat, alle auffälligen Ereignisse zu registrieren und zu notieren, um warnende Anzeichen dafür zu erhaschen, dass, wie De Groot bemerkt, »… im Tao der Menschheit irgend etwas in Unordnung geraten ist und somit im Tao der Welt etwas aus den Fugen gebracht hat. Dieser Störung wäre dann ohne Verzug durch Beseitigung der Ursache abzuhelfen und so die aus ihr drohende Gefahr abzuwenden.«5 Hier erkennt man sehr deutlich, dass die Orientierungsfunktion der Mantik von Anfang an im Dienste des Sicherungsverhaltens der Menschen stand. Sie waren, hineingehalten in eine riskante Umgebung, seit Urzeiten einfach gezwungen, im Horizont ihres kausalen Unwissens auf Zeichen zu reagieren, die als anzeigende Instanzen für eine sinnlich noch nicht zugängliche, aber eventuell bedrohliche Realität standen. Wo der homo sapiens auftrat, registrierte er die Welt als ein anzeigendes Geflecht von Zeichen, weil er aus Sicherheitsgründen ständig gezwungen war, mit mehr zu rechnen, als ihm sinnlich präsent sein konnte. Aus diesem ›Mehr‹ ist im Prinzip der homo sapiens geboren, und um dieses ›Mehr‹ intellektuell zu verwalten, hat er die Metaphysik als Teil seiner Selbsterfindung erfunden. Das haben wohl Platon und Aristoteles, aber schon Denker wie Epikur und erst recht Lukrez nicht mehr verstanden. Damit begann die Periode der Selbstvergessenheit des homo sapiens, die heute, ob wir das wollen oder nicht, in die Phase seiner Selbstauslöschung getreten ist. Man benötigt nicht mit Heidegger Drohausdrücke wie ›Seinsvergessenheit‹, es genügt, und das ist der eigentliche Kern, die ›Selbstvergessenheit‹ des homo sapiens. Er erkennt sich heute als das, was er mehr als Physis ist, nicht mehr an. Das ist »Pisa« von oben. Es ist aber dennoch in geeigneter Umgebung, und das ist der performative Widerspruch zu dieser Nichtanerkennung, zweifellos nicht unnütz, die Bewegung hoher Gräser als Anzeichen für eine sinnlich ansonsten noch nicht registrierbare Bestie zu deuten. Und wir tun das auch, ob wir wollen oder nicht. Die Angst vollzieht gewissermaßen automatisch, was Epikur und Lukrez nicht wahrhaben wollten. Und Lust macht erst auf diesem Hintergrund der Angst ihren vollen Sinn. Das ist auch die Botschaft des Gartens von Bomarzo. Wir dürfen solche Überlegungen in die Feststellung bündeln, dass die Mantik als Orientierungstechnik geboren wurde aus dem, was man bei Tieren die Witterung nennt. Wann immer in der Dämmerung ein Hirschrudel auf die Lichtung tritt, dann tun dies, und das wissen erfahrene Jäger, zuerst die weiblichen Alttiere des Rudels, nicht die Hirsche, um zunächst die Situation auf der Lichtung zu inspizieren, indem sie ›witternd‹ nach allen Seiten ›sichern‹. Aus dieser nützlichen Attitüde eines spezialisierten Sicherungsverhaltens unter Einsatz zugänglicher Orientierungstechniken ist später die sapientia des homo sapiens geboren.

Aus einiger Entfernung betrachtet handelt es sich in solchen Situationen aber auch stets darum, mit einem kontingenzdurchsetzten Milieu zurechtzukommen. Wer noch nicht viel weiß, muss vorsichtig sein. ›Vorsichtigkeit‹ gebiert die ›Vorsehung‹ und unsere semantische Sensibilität. Diese ist uns durchaus auch heute noch angeboren. Bloß regt sich diese Sensibilität erst dann, wenn die sinnliche Kulisse schwierig wird und wir dann das ›mulmig‹ genannte Gefühl haben, uns in einer riskanten Situation zu befinden, also z. B. im Dunkeln in unbekannter Umgebung. Hier gewinnen auch für uns heute noch die kleinsten Geräusche eine ungewöhnliche Valenz, deren Registratur unser Sicherungsverhalten bis zur panischen Stimmung aktiviert. Mantik ist als Deutungskunst ursprünglich auf genau solche Situationen zugeschnitten. Sie war seit Urzeiten stets die Fertigkeit, mit einer Zufälligkeit umzugehen, die wir situativ noch gar nicht erkennen können. In solchen Situationen taten unsere Vorfahren besser daran, noch mit einer Gesetzmäßigkeit zu rechnen, die höherer Art ist, aber dafür steht, dass der Ereigniskontext epistemisch geschlossen bleibt. Mantik als Kunst des Fernwissens und Magie als Kunst des Fernwirkens sprengen nicht unsere Ratioanlität, sondern dehnen sie nur, wie wir heute sagen würden, unzulässig aus. Dafür steht aus dem Bereich der Magie auch ein schlagendes Beispiel, das wir Evans-Pritchard verdanken.6 Im Land der Zande in Afrika stürzt bisweilen ein alter Getreidespeicher ein. Die Zande wissen auch, warum: Termiten haben im Laufe der Zeit die Stützbohlen zernagt. Genau das ist die Kausalerklärung für den Einsturz, die den Zande ebenso bekannt ist wie uns. Nun verhält es sich aber so, dass zur Zeit der größten Mittagshitze einige der Dorfbewohner häufig unter einem solchen Getreidespeicher sitzen und plaudern. So kann es passieren, dass beim Einsturz desselben tatsächlich einige von ihnen, die unter ihm vor der Mittagssonne Schutz gesucht hatten, verletzt werden. Nun stellen sich für die Zande weitergehende Fragen: Warum musste der Getreidespeicher gerade dann einstürzen, als Leute unter ihm saßen; und warum musste er einstürzen, als gerade diese Leute und keine anderen dort saßen? Solche Fragen sind für uns heute unzulässig, weil wir hier mit der kontingenten Kreuzung voneinander unabhängiger Kausalketten rechnen. Der Einsturz des Getreidespeichers hatte seine Ursachen, die Termiten. Dass Leute unter ihm sitzen hatte sicher auch Ursachen, z. B. die Mittagshitze. Sogar der Umstand, dass es heute gerade die sind oder morgen jene, hatte seine Ursachen. Aber diese Kausalreihen sind voneinander unabhängig, ihre Kreuzung gerade zu dem Punkt des Einsturzes ist für uns heute eine Sache des Zufalls. Nicht so für die Zande oder unsere Vorfahren. Ihnen steht ein ›inklusives Kausalverständnis‹ zur Verfügung, in das Verursachungen aller Art, also auch mantischer oder magischer Art integriert sind. Das mag für die Erklärung natürlicher Ereignisse im Wortsinne ›bezaubernd‹ sein. Im Falle von Schuldzuweisungen kann das allerdings verheerende Konsequenzen haben, wie es noch die Hexenprozesse eindrücklich belegen. Die Akzeptanz von Zufällen ist den Menschen immer schwergefallen. Bevor man vor zufälligen Ereignissen das Handtuch der Rationalität zu werfen bereit war, bemühte man lieber höherstufige Gesetzmäßigkeiten, die hier ihre Hand im Spiel haben mussten, z. B. mythische Instanzen wie Götter oder sonstige, nur mantisch erreichbare Schicksalsmächte (Themis, Moira etc.). Diese sind also gerade kein Dementi der Rationalität, sondern ihre ultimative, ja überschwängliche Selbstbehauptung. Der Satz Albert Einsteins »Gott würfelt nicht!« ist noch ein spätes Echo dieses Rationalitätsverständnisses. Neuerdings hat sich der Zufall aber nicht nur in der Physik, sondern sogar in der Mathematik festgesetzt. So hat der Freund von Stephen Wolfram Gregory Chaitin unabhängig von Andrej N. Kolmogorov gezeigt, dass es in ihr in Form von kognitiv nicht penetrierbaren Komplexitätsschranken wahre, aber unbeweisbare, d. h. in diesem Sinne zufällig wahre Sätze gibt.7 Eine erkenntnistheoretische Würdigung solcher Ergebnisse der mathematischen Komplexitätsforschung steht noch aus, aber hier verläuft die gegenwärtige Front. Es möchte sein, dass unsere Ausgriffe in solche Zonen vor allem in der gentechnischen und in der Hirn-Forschung auf solche Komplexitätsschranken stoßen, die kognitiv impenetrabel sind und die zu ignorieren einer neuen Form von epistemischer Hybris ähnelt, deren alte Varianten im Bestrafungsprofil der griechischen Tragödien zu studieren sind. Aber um hier zur Klarheit zu kommen, müssten wir die genetische und neuronale Komplexität überhaupt erst einmal in ihrer mathematischen Eigenart verstehen, und davon sind wir, worauf der Mathematiker Reinhard Olivier hingewiesen hat, noch weit entfernt.8 Wir können die Natur heute jedenfalls für ihre Unberechenbarkeit nicht einfach mehr züchtigen, wie es in mantischen Zeiten vorgekommen ist. Unvergesslich der Befehl des Xerxes, der um 480 vor Chr. eine Brücke über den Hellespont von Abydos in Kleinasien nach Sestos auf dem griechischen Festland bauen ließ, die aber postwendend durch die aufgewühlte See zerstört wurde. Wie Herodot berichtet, gab der erzürnte Xerxes den Befehl, das Meer auspeitschen zu lassen. Und Herodot fügt noch hinzu: »Ich habe sogar gehört, dass er zugleich Henker mitschickte, um dem Hellespont Brandmale aufzudrücken.«9 Größer ist der nicht beherrschbaren Komplexität der Elemente nie begegnet worden. Xerxes adelt die Elemente als personalen Gegner, den man für seine Launen auch abstrafen kann. Diese Möglichkeit steht einem Naturforscher heute natürlich nicht mehr zur Verfügung. Wir sind heute vielmehr immer zuerst vor die Aufgabe gestellt herauszubekommen, was wir beweisbar nicht wissen können. Xerxes ließ noch ein widerspenstiges Meer auspeitschen. Wir sollten heute umgekehrt nicht das Risiko eingehen, selbstverschuldet von der Natur ausgepeitscht zu werden. Auf eine vis major in den zu verantwortenden Forschungsfolgen kann sich heute keiner mehr berufen. Aber worauf kann man sich heute überhaupt noch berufen, wenn gilt, was die letzte Zeile des letzten Gedichtes von Stéphan Mallarmé behauptet: »Toute Pensée émet un Coup de Dés / Jeder Gedanke emittiert einen Würfelwurf.«10

  1. 1Vgl. Il. I, 70; vgl. auch Hesiod, Theog. 38.
  2. 2Vgl. dazu ausgreifend Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik, Frankfurt/M. 1992.
  3. 3Vgl. Cicero, De div. I, 15.
  4. 4Historien lib. II, 82.
  5. 5Johann Jakob Maria de Groot, Universismus. Die Grundlagen der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaft Chinas, Berlin 1918, S. 331.
  6. 6Vgl. Edward E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M. 1978, S. 65.
  7. 7Vgl. Gregory Chaitin, »On the intelligibilty of the universe and the notion of simplicity, complexity, and irreducibility«, in Wolfram Hogrebe, Hg., Grenzen und Grenzüberschreitungen, Berlin 2004, S. 517–534.
  8. 8Vgl. Reinhard Olivier, »Wonach sollen wir suchen? Hirnforscher tappen im Dunkel «, inFranfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 11. 2003.
  9. 9Hist. VII, 35.
  10. 10Stéphane Mallarmé, Sämtliche Gedichte, hg. und übers. von Carl Fischer, Heidelberg 1957, S. 175/195. Fischer übersetzt mit ›[…] ist ein Würfelwurf‹. Im Original bei Mallarmé steht allerdings ›émet‹ von ›émmettre‹/,ausstrahlen‹, ›von sich geben‹, ›äußern‹, ›emittieren‹; dafür ist ›ist‹ zu schwach. Mallarmé will sagen, dass Gedanken einen ›Würfelwurf‹ gleichsam ›generieren‹, d. h. zu einer wahr/falsch-Entscheidung gleichsam aufrufen, die zu vollziehen nicht in unserer Hand liegt, sondern zufällig ist, aber, wie in seinem Gedicht vom Siebengestirn des Großen Bären, manchmal a parte mundi getroffen wird, d. h. per intervention du surnaturel.
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Heft 2 (2009)
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