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›Herz‹ im Etymologischen Wörterbuch des Althochdeutschen

Eine Zeile aus einem Epigramm Herders erregte seinerzeit erheblichen Unmut bei Goethe

»Der von Göttern du stammst, von Gothen oder vom Kothe.«1

Mithilfe eines etymologischen Wörterbuchs wäre es Goethe möglich gewesen, Herder zu korrigieren und die beiden letztgenannten Varianten auszuschließen. Für die Erklärung seines Namens kommen nun zwei Möglichkeiten in Betracht. Zum einen kann es sich um die Kurzform eines ursprünglich zweigliedrigen Namens mit dem Vorderglied althochdeutsch got ›Gott‹ handeln, einem bereits seit dem 8. Jahrhundert belegten Maskulinum, das in allen germanischen Sprachen Entsprechungen hat. Vergleichen lässt sich dann der Familienname Kunz, der auf ein zweigliedriges Kon-rad zurückgeht. So ist der Name Gödeke eine Variante des Namens Goethe, da er ebenfalls von einem zweigliedrigen Gott-fried oder Gott-hold, Gott-hard gebildet wurde.2 Zum anderen ist der Name Goethe mit dem maskulinen n-Stamm mittelniederdeutsch gode, mittelhochdeutsch göte ›Pate, Taufpate‹ in Verbindung zu bringen. Etwas älter als das Maskulinum ist das seit dem 12. Jahrhundert in Glossen belegte schwache Femininum althochdeutsch gota ›Taufpatin‹, das lateinisch admater, conmater glossiert. Dem althochdeutschen femininen Substantiv entsprechen mittelniederdeutsch gode, gade und mittelniederländisch gode, goede. Diese westgermanischen Wörter setzen urgermanisch *ǥuđōn- voraus, einen von dem schon genannten Substantiv *ǥuđa- ›Gott‹ abgeleiteten n-Stamm. Das Suffix urgermanisch *‑ōn‑ bringt hier eine Zugehörigkeit zum Ausdruck und hat eine movierende Funktion. Das heißt, dass mit Hilfe eines Suffixes eine feminine Personenbezeichnung von einer maskulinen abgeleitet wird, z. B. bildet man von neuhochdeutsch Arzt mit dem Suffix ‑in Ärztin. Wie gota ist auch althochdeutsch hîwa ›Gattin‹ mit dem Fortsetzer des Suffixes urgermanisch *‑ōn‑ von althochdeutsch hîwo ›Gatte‹ abgeleitet, genau genommen ist es ›die zum Gatten Gehörige‹, untergegangene Wörter, die in dem deutschen Lexem Heirat fortleben. Ähnlich ist althochdeutsch bera ›Bärin‹ eigentlich ›die zum bero (Bären) Gehörige‹. Althochdeutsch gota ist also wörtlich ›die zu Gott Gehörige‹.

Doch kehren wir zu Goethe zurück: ganz gleich, welche der beiden Ableitungsmöglichkeiten in Betracht kommt – mit ›Gott‹ haben sie beide zu tun, und Herder hat mit seiner ersten Etymologie richtig gelegen.

Schon dieses kleine Beispiel zeigt den Nutzen etymologischer Forschung. Etymologische Wörterbücher sind, ganz allgemein gesagt, Hilfsmittel, die die Herkunft und Geschichte von Wörtern erklären.

Kommen wir nun zum Etymologischen Wörterbuch des Althochdeutschen

Das Althochdeutsche gehört zur germanischen Sprachgruppe, die wiederum Teil der indogermanischen Sprachfamilie ist. Sprachen einer Sprachfamilie weisen lautliche, morphologische und lexikalische Übereinstimmungen auf. Sie sind miteinander genetisch verwandt, d. h. sie gehen auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. Diese gemeinsame Grundsprache lässt sich mit den Methoden der Indogermanistik rekonstruieren.

Zur indogermanischen Sprachfamilie gehören außer dem Germanischen das Indo-Iranische mit seinen ältesten Vertretern Vedisch und Avestisch, das Griechische mit dem Mykenischen, das ausgestorbene Anatolische mit dem Hethitischen als Hauptvertreter, das gleichfalls ausgestorbene Tocharische, dann das Keltische mit dem Irischen, Kymrischen usw., das Italische mit Latein und Oskisch-Umbrisch sowie den modernen romanischen Sprachen, das Balto-Slawische und schließlich das Armenische und Albanische.

Das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen untersucht die Herkunft und die Entwicklung des althochdeutschen Wortschatzes sowie die verwandtschaftlichen Beziehungen althochdeutscher Wörter zu Wörtern gleichen Ursprungs in den anderen indogermanischen Sprachen.

Die Arbeitsweise am Wörterbuch wird im Folgenden an einem Beispiel demonstriert, und zwar an einem Erbwort, das bis in die Neuzeit fortgesetzt ist und zum Grundwortschatz unserer Muttersprache gehört: Althochdeutsch herza ›Herz‹.

Für die Beschreibung der Beleglage und der Semantik greift das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen u. a. auf das synchron angelegte Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch zurück.

Althochdeutsch herza, ein neutraler n-Stamm, ist schon seit dem 8. Jahrhundert in Glossen und literarischen Denkmälern überliefert. Es bedeutet »Herz als inneres Organ des Menschen, als lebensbestimmender Teil des menschlichen Körpers, als Inbegriff des Inneren mit seinem Fühlen, Wollen und Denken, als Ort der Seele und des Geistes, als Sitz der Tugenden und Untugenden, des Guten und Bösen, als Träger sittlich-religiöser Vorstellungen, Werte und Handlungen, als Sitz des Mutes, der Tatkraft, Stärke, als geistiges Zentrum, als Ort des Glaubens, Vertrauens, Hoffens, als Innerstes in allegorischer Auslegung«.3 Lateinische Entsprechungen sind: animus, cor, conscientia, mens, pectus. Schon im Althochdeutschen kommt das Wort in zahlreichen Wendungen vor wie z. B. mit firhartemo herzen ›verstockt‹, eigtl. ›mit verhärtetem Herzen‹, zi herzen kleban ›jemandem am Herzen liegen‹.

Im Mittelhochdeutschen lautet die Form mit Abschwächung des Endsilbenvokals herze. In den obliquen Kasus treten neben schwachen auch starke Formen auf wie der Dativ Singular und Nominativ / Akkusativ Plural herze. In Analogie zu diesen starken Formen wurde ein endungsloser Nominativ Singular herz gebildet, der bis heute fortlebt.

Bis ins Neuhochdeutsche reichen die phraseologischen Wendungen mittelhochdeutsch jemandem ze herzen gân ›jemandem zu Herzen gehen‹ oder jemandes herze brechen ›jemanden todunglücklich machen‹. Auch in mittelhochdeutschen Paarformeln kommt herze häufig vor: z. B. komplementäres herze unde lîp ›Herz / Gefühl / Verstand und Körper‹ und synonymes herze unde muot oder herze unde sinne, das je nach Kontext als ›Gesinnung, Empfinden, Verstand, Denken, Geist‹ aufzufassen ist.4

Die Bedeutung von Herz hat sich bis in das Neuhochdeutsche nicht geändert, noch heute bezeichnet es das Körperorgan und übertragen das ›Zentrum der Gefühlsempfindungen‹.

Wenden wir uns den Verwandten in den anderen germanischen Sprachen zu:

Dem althochdeutschen Wort entsprechen: Altsächsisch herta (Neutrum)5, mittelniederdeutsch herte und harte6 (bei der a-Form ist Öffnung von e vor r + Dental eingetreten) und wie im Mittelhochdeutschen verkürztes hert (Neutrum), vereinzelt kommen auch feminine Formen vor. Im Altniederfränkischen haben wir neutrales herta, das als mittelniederländisch herte, hart und hert, hart (Neutrum, auch Femininum) und neuniederländisch hart (Neutrum) fortgesetzt ist.7 Das ‑a- in neuniederländisch hart ist wohl eingetreten, um eine Homonymie mit neuniederländisch hert ›Hirsch‹ zu vermeiden. Im Altfriesischen entspricht herte, hirte Femininum ›Herz‹8, neufriesisch hert ist neutral. Im Altenglischen hat heorte ›Herz, Sinn, Geist, Wille, Mut, Verstand‹9 feminines Genus, mittelenglisch entspricht herte, neuenglisch heart. Im Nordgermanischen haben wir altisländisch hjarta (Neutrum) ›Herz, Sinn, Mut‹, neuisländisch, norwegisch hjarta, dänisch hjerte, schwedisch hjärta.10 Altisländisch hjarta ist übrigens ins Orknische als herto entlehnt und wird als Kosename für Kühe gebraucht. Und schließlich entspricht althochdeutsch herza gotisch hairto ›Herz, καρδία‹,11 das häufig in Wulfilas Bibelübersetzung begegnet. Das althochdeutsche z im Unterschied zum stimmlosen Dental der anderen germanischen Sprachen ist das Resultat der 2. oder hochdeutschen Lautverschiebung.

Die Vorform der einzelsprachlichen Vertreter von ›Herz‹ lässt sich auf urgermanisch *χertōn- (Neutrum) zurückführen.

Das Wort flektiert als neutraler n-Stamm wie die Körperteilbezeichnungen Auge und Ohr. Das neutrale Genus bei Körperteilbezeichnungen ist alt; zu vergleichen sind hier die ein n-Suffix enthaltenden Heteroklitika altindisch ásthi ›Knochen‹ mit n-Suffix im Genitiv Singular asthnáḥ , ákṣi ›Auge‹, Genitiv Singular akṣn.áḥ usw. Zur Erklärung: Heteroklitische Nomina sind durch einen alten innerparadigmatischen Stammklassenwechsel charakterisiert. Fortsetzer eines ursprünglichen r/n-Heteroklitikons ist z. B. neuhochdeutsch Wasser, althochdeutsch wazzar, altsächsisch watar, altenglisch wæter < westgermanisch *u̯ atar‑ mit Verallgemeinerung des r-Stamms, dem im Nord- und Ostgermanischen Bildungen mit n-Suffix gegenüberstehen, nämlich altisländisch vatn, gotisch wato. Das n-Suffix sehen wir im Genitiv Singular watins.

Wie eben schon erwähnt, erfolgte im Altfriesischen und Altenglischen und teilweise im Mittelniederdeutschen und Mittelniederländischen ein Übertritt des Wortes ins Femininum. Der Ausgang *‑ōn- von urgermanisch *χertōn- konnte nämlich von den Sprechern auch als femininer n-Stamm interpretiert werden. In germanischen Komposita mit ›Herz‹ findet sich aber schon immer ein a-Stamm: Althochdeutsch armherz, gotisch armahairts ›barmherzig‹ als Lehnbildungen nach gleichbedeutendem lateinisch misericors, altenglisch hēahheort ›stolz‹, gotisch hauhhairts ›stolz‹, gotisch *hrainjahairts ›reinen Herzens‹ als Lehnbildung nach griechisch καθαρὸς τῇ καρδίᾳ. Diese Adjektive sind Possessivkomposita der Bedeutung ›mit etwas versehen sein, etwas haben‹.

Verlassen wir nun den Bereich der Morphologie und Wortbildung und wenden uns der Bedeutungsgeschichte zu: Schon von alters her wurden die inneren Organe des Menschen mit Äußerungen des Willens, des Verstandes und des Gemütes in Verbindung gebracht. So gilt in vielen Kulturen die gesamte Zwerchfellregion als Sitz von Schmerz und Gemütsbewegungen. Im Germanischen war das Innenleben nach einer emotionalen und einer verstandesmäßigen Richtung differenziert; zu vergleichen sind hier Paarformeln wie althochdeutsch hugu ioh muot, altisländisch hugr ok móðr. Mit urgermanisch *mōđa‑ ist dabei die Vorstellung des Aufwallens von Gefühlen verknüpft. Im altenglischen Beowulf werden derartige Emotionen im Herzen lokalisiert. hugr ist in der altnordischen Überlieferung ebenfalls im Herzen angesiedelt: hugr er í hjarta. Der Verzehr des Herzens kam daher dem Versuch gleich, sich die dort lokalisierten seelischen Kräfte anzueignen. So berichtet die Ynglinga saga, dass Ingjaldr das Herz eines Wolfes aß und dadurch zum grimmigsten und übelgesinntesten Menschen wurde. Und im Brot af Sigurðarkviðu bekommt Gothormr von Wolf und Schlange zu essen, um ihn zum Mord an Sigurðr zu bewegen.

Im Gegensatz zu den Vorstellungen der heidnischen Germanen ist das Herz als Sitz des Gefühls und besonders des Mitleids ein Bild, das die Griechen und Römer mit den Juden gemein hatten; vgl. deutsch am Herzen liegen, dänisch ligge en på hjerte mit lateinisch cordi esse alicui. Im Mittelalter knüpfte die wissenschaftliche wie die volkstümliche Begrifflichkeit an diese antiken Traditionen vom Herzen als der organischen und seelisch-geistigen Lebensmitte an. Dem alten Doppelsinn von griechisch καρδία entsprechend wurde dabei Herz auch mit Magen gleichgesetzt. In der biblischen und patristischen Theologie ist das Bild vom Herzen als Sitz des Gefühls und des Mitleids noch weiter entwickelt zu einem fundamentalen Bildwort für die Liebe Gottes. Biblischen Ursprungs sind auch viele Redewendungen wie z. B. deutsch auf Herz und Nieren prüfen, dänisch prøve hjerter og nyrer (Psalm 7, 10: »denn du, gerechter Gott, prüfest Herzen und Nieren«), deutsch ein Herz und eine Seele, dänisch et hjerte og en sjæl (Apostelgeschichte 4, 32: »Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele«).12 Wenn man also heute im Duden unter dem Stichwort Herz die beiden Bedeutungsangaben ›Organ‹ und ›Zentrum der Empfindungen‹ liest,13 so ist klar, wo diese Bedeutungen ihren Ursprung nahmen.

Die Arbeit des Etymologen ist aber mit der Bedeutungsgeschichte eines Wortes noch nicht beendet. Nachdem untersucht wurde, wie sich ein Wort innerhalb seiner Sprache und seiner Sprachgruppe entwickelt hat, fragen wir, ob es einen noch älteren Ursprung hat. In der Tat ist urgermanisch *χertōn- ein Erbwort und weist auf ein ablautendes Wurzelnomen urindogermanisch *kˆ ē΄ rd/kˆ r˚ d-és. Beruht die germanische Vorform auf vorurgermanisch * kˆ ērdōn-, ist urgermanisch *e Ergebnis der Osthoffschen Kürzung (die Osthoffsche Regel besagt, dass in einer Folge Langvokal + Resonant, hier r, + Konsonant der Vokal gekürzt wird; vgl. neuhochdeutsch Ferse, althochdeutsch fersana, altsächsisch fersna < urgermanisch *fersnō-, lateinisch perna Femininum ›Hinterkeule, Schinken‹ < vorurgermanisch, voruritalisch *persnā- < urindogermanisch *pē΄rsnah2‑ mit Langvokal in der Wurzel wie altindisch pā΄ rs. n. i, gleichfalls ›Hin-terkeule, Schinken‹ zeigt). Auf einem Stammvokal basieren auch armenisch sirt, Instrumental sirtiv ›Herz‹ < *kˆ ērd-i- mit Flexion als i-Stamm;14 dann griechisch κῆρ < *kˆ ērd (wobei *d bereits vor der Kürzung des Langvokals schwand);15 altpreußisch (Vokativ) seyr, Genitiv sīras ›Herz‹ < *šēr(d) < *kˆ ēr(d); zum a-Stamm erweitert begegnet altpreußisch sīras (Maskulinum), Akkusativ sīran.16 Als i-Stamm flektiert ostlitauisch šerdìs (Femininum), Akkusativ šérdį ›Mark, Kern im Holz, Inneres, Herz‹, lettisch serˆ de (Femininum) ›Mark, Kern im Holz, Inneres, Mitte‹ (< *šērd‑).17 Urslawisch *serda (Femininum), das in altkirchenslawisch srěda (Femininum), bulgarisch sredá ›Mitte, Mittwoch‹ (mit Liquidenmetathese entsprechend dem Gesetz der offenen Silbe im Slawischen), russisch seredá, Akkusativ séredu ›Mittwoch‹18 weiterlebt, ist jung, da ein urindogermanisches *kˆ erd mit Kurzvokal nicht gesichert ist. Und die Schwundstufe setzen fort: Griechisch attisch καρδία- , ionisch κραδίη, lesbisch κάρζια, kyprisch κορζία- ›Herz, Seele, Geist, Magen, Mark bei Pflanzen‹.19 Hier handelt es sich um Ableitungen mit dem Suffix ‑ία- , das auch bei anderen Körperteilbezeichnungen vorkommt, z. B. κοιλία- ›Bauchhöhle, Unterleib‹. Als schwundstufige Vorform ergibt sich vorurgriechisch *kˆ r˚d-i̯ ā; weiterhin gehören hierher lateinisch cor, Genitiv cordis (< *cord über *cors, *corr; das Wort ist bei Plautus noch zweimorig) ›Herz‹, auch ›Magen‹20; altkirchenslawisch srъdьce (Neutrum) ›Herz‹ (eigtl. Diminutiv mit dem diminuierenden Suffix ‑ьce), serbo-kroatisch srce, polnisch serce, älter sirce, obersorbisch serce, Genitiv serca (Neutrum) ›Herz‹, ohne Suffix ‑ьce sind die Komposita altkirchenslawisch milosrьdъ, altpolnisch miłosirdy ›barmherzig‹ und altkirchenslawisch milosrьdije (Neutrum) ›Barmherzigkeit‹ gebildet; im Baltischen entsprechen litauisch širdìs (Femininum, älter Maskulinum), Genitiv širdiẽs, Akkusativ šìrdį ›Herz, Gesinnung, Gefühl, Mark von Bäumen, Kernholz‹, lettisch sirˆ ds (Femininum, älter Maskulinum) ›Herz, Mut, Zorn‹ und im Keltischen schließlich altirisch cride (Neutrum) ›Herz‹, neuirisch croidhe ›Herz, Mitte‹ und der gallische Personenname Dativ Cridianto21 < vorurkeltisch *kˆ r ˚ di̯ om.

Auch in der am ältesten bezeugten indogermanischen Sprache, dem Hethitischen, ist das Wort fortgesetzt: (Nominativ / Akkusativ Singular Neutrum) ker ›Herz‹, Genitiv kartaš, Dativ-Lokativ kardi. Dabei kommt ker stets mit enklitischem Possessivpronomen vor: z. B. kir-ir-mi-it ›mein Herz‹, ki-ir-ša-me-it ›eure Herzen‹.22

Das Paradigma des Wortes ›Herz‹ wird von uns als urindogermanisch Singular Nominativ / Akkusativ *kˆ ē ΄ r, andere starke Kasus *kˆ érd‑, schwache Kasus *kˆ r ˚ d ʹ- angesetzt. Der Stamm *kˆ érd- mit kurzem *e scheint jedoch eine Neuerung zu sein, wie wir bereits festgestellt hatten. Dabei stellt hethitisch ker, Genitiv kartaš die einzige ungestörte Fortsetzung von *kˆ ē΄ rd/kˆ r ˚ d-és dar, die anderen Sprachen haben jeweils verschieden ausgeglichen und damit vereinfacht: Entweder wurde die Dehnstufe des Nominativ Singular oder die Schwundstufe der schwachen Kasus paradigmatisch verallgemeinert.

Die Grundbedeutung von urindogermanisch *kˆ ē΄ rd/kˆ r ˚ d-és ist nun leider unbekannt. Das Wort lässt sich an kein anderes aus der Indogermania anschließen. Es muss demnach uralt sein, also schon im frühen Indogermanischen (vor 6 000) Jahren vorhanden gewesen sein. Das Substantiv ist eine der wenigen Körperteilbezeichnungen, die – wie gezeigt – in den meisten indogermanischen Sprachen bewahrt ist. Das Herz war für die Indogermanen ursprünglich der Körperteil der Mitte; vgl. die Bedeutung ›Mitte‹ im Slawischen und wohl auch im Keltischen. Die Bedeutung ›Mittwoch‹ im Slawischen ist aber eher eine Lehnübersetzung nach althochdeutsch mittawecha als nach vulgärlateinisch media hebdomas.

Wir bereits erwähnt, wird ›Herz‹ im Griechischen und Lateinischen auch metaphorisch verwendet. Zur Übertragung in der Bedeutung ›Gemüt‹ passen altindisch śrad-dhā΄‑(Femininum) ›Vertrauen, Hingabe, Spendefreudigkeit‹, die Wendung śrád asmai dhatta ›glaubet an ihn!‹, pāli saddhā- (Femininum) ›Spendefreudigkeit, Hingabe, Glaube‹, avestisch zrazdā- ›vertrauend, ergeben‹, das aus *sradzā- durch volksetymologische Anlehnung an avestisch zәrәd- ›Herz‹ gebildet ist, altpersisch-aramäisch *drazdā- in ’adradzā’ ›ergeben, fromm‹23 und die Verben lateinisch crēdō ›vertraue‹, altirisch cretim ›glaube‹, kymrisch credaf, kornisch crežy, mittelbretonisch cridiff, neubretonisch credi ›glauben‹. Die angeführten Wörter gehen auf urindogermanisch *kˆ red-dheh1- ›vertrauen, verlangen‹, eigtl. ›sein Herz auf etwas setzen‹, zurück.

Mit einem anderen Anlaut ist ein Reimwort gebildet: Altindisch hr ˚ d (Neutrum) ›Herz, Brust, Inneres‹ (in ältester Sprache nur in obliquen Kasus wie hr ˚ dā΄ , hr ˚ dáh. , hr ˚ dí, später Nominativ / Akkusativ Singular hr ˚ t), hr ˚ daya- (Neutrum) ›Herz‹, Nominativ Singular Neutrum hā΄ rdi ›der im Herz gedachte innere Sinn, Herz, Gemüt‹, altavestisch zәrәd- (Neutrum), mittelpersisch, neupersisch dil, jungavestisch zәrәδaiia- (Neutrum) ›Herz, Innerstes, Höchstes‹24 < *ĝhr ˚ d(-). Indoiranisch *źh r ˚ d- ist sicher nicht unabhängig von urindogermanisch *kˆ ē΄ rd entstanden. Allgemein wird Kreuzung mit einem sinnverwandten Wort angenommen, nämlich griechisch χορδή (Femininum) ›Darm, Darmsaite, Saite, Wurst‹, litauisch žárna (žarnà) ›(Dünn‑)Darm, Schlauch‹, altisländisch go˛ rn (Neutrum) ›Darm‹, Plural garnar ›Eingeweide‹, die auf urindogermanisch *ĝhorneh2‑ zurückgehen.

Fassen wir zusammen:

Althochdeutsch herza hat in allen germanischen Sprachen eine Entsprechung. Es ist einzelsprachlich jeweils bis in die Neuzeit fortgesetzt. Die für die <div id="content-clear" cen zu rekonstruierende Vorform lautet urgermanisch *χertōn-, wobei das kurze urgermanische *e Ergebnis der Osthoffschen Kürzung ist. Das germanische Erbwort weist auf ein ablautendes Wurzelnomen urindogermanisch *kˆ ē ΄ rd/kˆ r ˚ d-és, das einzelsprachlich im Indoiranischen, Griechischen, Lateinischen, Armenischen, Balto-Slawischen, Keltischen und Hethitischen weiterlebt, wobei jeweils unterschiedliche Ablautstufen des Rekonstrukts realisiert sind. Die Grundbedeutung unseres Herzens aber wird uns ein ewiges Geheimnis bleiben.

  1. 1Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 25, Stuttgart, Tübingen 1830, S. 308.
  2. 2Vgl. Adolf Bach, Deutsche Namenkunde. Bd. 1, 1: Die deutschen Personennamen, Heidelberg 1952, S. 248 f.
  3. 3Vgl. Rudolf Große, Hg., Althochdeutsches Wörterbuch, Bd. 4, Berlin 1995, Sp. 1025–1037.
  4. 4Vgl. Jesko Friedrich, Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen, Tübingen 2006, S. 214–216.
  5. 5Vgl. Edward Sehrt, Vollständiges Wörterbuch zum Heliand, 2. Aufl., Göttingen 1966, S. 254.
  6. 6Vgl. Agathe Lasch und Conrad Borchling, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Münster 1960, S. 293 f.
  7. 7Vgl. Marlies Philippa u. a., Etymologisch woordenboek van het Nederlands. F – Ka, Amsterdam 2005, S. 388.
  8. 8Vgl. Ferdinand Holthausen, Altfriesisches Wörterbuch, 2., verb. Aufl. von Dietrich Hofmann, Heidelberg 1985, S. 43.
  9. 9Vgl. Joseph Bosworth und Northcote Toller, An Anglo-Saxon dictionary, Oxford 1898 [1991], S. 530 f.
  10. 10Vgl. Jan de Vries, Altnordisches etymologisches Wörterbuch, 2. verb. Aufl., Leiden 1977, S. 232.
  11. 11Vgl. Winfred P. Lehmann, Gothic etymological dictionary, Leiden 1986, S. 171.
  12. 12Vgl. Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 6. Aufl., Bd. 2, Freiburg 2003, S. 707.
  13. 13Vgl. Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 4., neu bearb. Auflage, Mannheim u. a., S. 760.
  14. 14Vgl. Birgit Anette Olsen, The noun in Biblical Armenian. Origin and word-formation – with special emphasis on the Indo-European heritage, Berlin, New York 1999, S. 86–88.
  15. 15Vgl. Eduard Hermann, Silbenbildung im Griechischen und in den anderen idg. Sprachen, Göttingen 1923, S. 75.
  16. 16Vgl. Reinhold Trautmann, Die altpreußischen Sprachdenkmäler, Göttingen 1910, S. 424.
  17. 17Vgl. Eduard Fraenkel, Litauisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1955–1965, S. 987
  18. 18Vgl. Max Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, Heidelberg 1955, S. 614.
  19. 19Vgl. Hjalmar Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, 2., unveränd. Aufl., Bd. 1, Heidelberg 1973, S. 787 f.
  20. 20Vgl. Alois Walde und Jan B. Hofmann, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 3., neubearb. Aufl., 1. Bd., Heidelberg 1938, S. 271 f.
  21. 21Vgl. Joseph Vendryes, Lexique étymologique de l’irelandais ancien, Paris 1987, C-235 f.
  22. 22Vgl. Johann Tischler, Hethitisches etymologisches Glossar, Teil 1, S. 556–558.
  23. 23Vgl. Manfred Mayrhofer, Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen, Bd. 2, Heidelberg 1996, S. 663.
  24. 24Vgl. ebd., S. 818.
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Heft 2 (2009)
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