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Religionsfixierte Moderne? 


Der lange Weg vom säkularen Zeitalter zur post-säkularen Welt

Wir leben, so meint Charles Taylor, in einem säkularen Zeitalter, in dem der Glaube an (einen) Gott nicht mehr die »default option« darstellt, sondern zu ­einer Option unter anderen geworden ist. 1 Das trifft einen zentralen Zug ­unserer Zeit. Doch solange wir uns als säkular bezeichnen, sind wir noch nicht wirklich säkular. Im Begriff des Säku­laren liegt ein Bezug auf das Religiöse, der sich nicht ausblenden lässt, ohne den Begriff zu entleeren. Für das Religiöse gilt das nicht. Man kann religiös leben, ohne auf Säkula­res bezogen zu sein: Der Sinn des Ausdrucks ›religiös‹ ist nicht stets durch den Kon­trast zu ›säku­lar‹ bestimmt. 2 Man kann aber nicht säkular leben, ohne sich vom Religiösen ab­zugrenzen: Der Sinn des Ausdrucks ›säkular‹ schließt immer einen Ne­ga­tionsbe­zug zu ›religiös‹ ein.

Das hat nicht immer beachtete Folgen. Wird das mit ›säkular‹ Gemeinte seinerseits ne­giert, ergeben sich zwei Optionen und nicht nur eine, wie häufig gedacht wird: Man kann Post-Säkularität als Wiedergewinnen des Religi­ösen verstehen (schwache Post-Säku­larität) oder als Überwindung der Differenz zwi­schen Religiösem und Säkularem (star­ke Post-Säkularität). So ist post-­säkular nicht allein oder vor allem der, der an­ge­sichts der sä­ku­laren Moderne wieder die Möglichkeit sieht und den Mut fasst, reli­giös zu le­ben oder Reli­giöses für sich oder für andere gelten zu lassen. 3 Streng genom­men ist das erst der, der lebt, wie er lebt, ohne den Gegensatz zwischen ›religiös‹ und ›säku­lar‹ über­haupt noch zu bemühen, um sein Leben zu charakterisieren. Nur wer nicht entweder religiös oder säkular lebt, sondern weder das eine noch das an­dere be­tonen muss, um sein Le­ben zu beschreiben, hat die Moderne wirklich hinter sich ge­lassen. Wirklich sä­kular leben wir erst, wenn wir keinen Anlass mehr haben, uns so zu cha­rakterisieren.

1. Zerfall der Säkularisierungstheorie 


Die Komplexität und Vieldeutigkeit des Ausdrucks ›säkular‹ wurde in den ver­gan­genen Jahren in einer Vielzahl soziologischer, politischer, philosophischer und theologischer Pub­likationen herausgestellt. 4 Zusammengenommen markieren sie eine bedeutsame Ver­änderung der seit Anfang des 20. Jahrhunderts üb­lichen Sicht der Entwicklung der Neu­zeit oder Moder­ne. Gängiger soziologischer Auf­fassung zufolge belegten die Verän­de­rungsprozesse der Religion »under conditi­ons of modernity and accelerating change« in exemplarischer Weise, dass der Weg in die Moderne als ein Szenario be­schrieben werden kann, »in which mankind shifted from the religious mode to the secular«. 5 Die­ser Prozess wird ›Säkulari­sie­rung‹ genannt und die soziologische Erklärung die­ses Prozesses ›Säkularisie­rungs­theorie‹. 6

Die darin zum Ausdruck gebrachte Sicht der Moderne verdankte sich der europäischen Erfah­rung der Gründerväter der Soziologie Max Weber und Émile Durkheim. 7 Aber sie war viel zu grobschlächtig, um an den empirischen Daten verschie­dener Länder und Kulturen konkret überprüft werden zu ­können. Die große sogenannte ›Säku­larisie­rungs­theorie‹ wurde deshalb in eine Reihe von Subtheorien wie Privatisierung (Religion ist Privat­sache, keine ­öffentliche Angelegenheit), Rationalisierung (Religion muss sich vor dem Forum der Vernunft rechtfertigen, um legitim zu sein) und gesellschaftlicher Aus­diffe­renzierung (Religion ist ein gesellschaftliches Teilsystem unter anderen) herunter­ge­bro­chen, die jeweils für sich genom­men an verschiedenen histori­schen Situationen in unterschiedlichen Kulturen über­prüft werden konnten. Heute sind viele Soziologen der Ansicht, dass Privatisierung und Rationalisierung keine notwendigen Züge einer säku­laren Gesellschaft unter Bedingun­gen der Moderne sind. Andere halten daran fest, dass die Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der nach wie vor gültige Kern der Säkularisierungstheorie ist. 8

2. Säkularisierung als Verlustgeschichte

Genau dieser Prozess gesellschaftlicher Ausdifferenzierung wird für die Veränderung der gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung religiösen Glaubens, reli­giöser Praxis und religiöser Institutionen in der Gesellschaft zwischen früheren Zeiten und heute ver­ant­wortlich gemacht. So definierte Bryan Wilson 1966 »secularization« als »the process whereby religious think­ing, practices and ­institutions lose social significance«. 9 Diese Definition nimmt an, dass es Gesellschaften gibt, in denen es religiöses Denken, religi­öse Praktiken und ­religiöse Institutionen gibt oder gab, die einst gesell­schaftlich be­deutsam waren, es aber heute nicht mehr sind, oder nicht mehr so sind, wie sie es einst waren. Doch es bleibt unklar, ob gesagt werden soll, dass religiöse Phä­nomene aus dem gesellschaftlichen Leben verschwinden: Religion hat keine Zukunft in der modernen Gesellschaft. Oder dass sie in religiöse Phänomene transformiert wer­den, die keine besondere gesellschaftliche Relevanz mehr besitzen: Es wird auch wei­ter­hin Religion geben, aber sie wird keine wichtige Rolle mehr in der Gesellschaft spie­len. Oder dass sie sich von religiösen Phänomenen zu nicht-religiösen Phänomenen verändern bzw. durch solche abgelöst werden: Religionen werden durch nicht-religiöse funktionale Äqui­valente in der Gesellschaft ersetzt. Alles oder einiges davon kann mehr oder weni­ger gemeint sein. Deshalb ist diese Definition zu vage und undifferenziert, um wirklich hilfreich zu sein. 10

Trotz dieser Mängel lassen sich Wilsons Definition fünf wichtige Hinweise entneh­men:

1. Gesellschaftliche Relevanz : Religiöse Phänomene werden unter dem Ge­sichts­punkt ihrer gesellschaftlichen Relevanz bzw. sozialen Signifikanz in einer Ge­sell­­schaft in den Blick gefasst. Das ist eine soziologische Sichtweise, nicht der erste oder wichtigste Gesichtspunkt, unter dem die Gläubigen einer Religion das, was sie glauben und tun, beschreiben würden. Die Definition thematisiert das Problem unter soziologischem, nicht unter philosophischem oder theologischem Ge­sichtspunkt.

2. Ausdifferenzierung : Es wird eine soziale Differenz zwischen reli­giö­sen und nicht-religiösen Lebenssphären angenommen, die nicht für alle Gesellschaf­ten gilt, son­dern Resultat der gesellschaftlichen Ausdifferenzie­rung in der westli­chen (euro­päischen) Moderne ist. Das Vorliegen dieser Ausdifferenzierung wird als Kriterium der Mo­dernität einer Gesellschaft verstanden. Dabei wird unter­schätzt, dass dies selbst dann, wenn es für die europäische Kultur- und Gesellschaftsent­wick­lung gelten sollte, nicht ohne weite­res auch für andere Kulturen oder Gesell­schaften zutrifft. »Anstatt auf die Europäische Moderne als das einzig gültige Modell zu schauen«, 11 sollte man besser von einer ›multiplen Moderne‹ bzw. ›ver­schiedenen Wegen in unterschiedliche Modernen‹ sprechen. 12

3. Asymmetrie : Darüber hinaus wird eine Asymmetrie zwischen reli­giö­sen und nicht-religiösen Sphären angenommen, insofern Men­schen in modernen Gesell­schaf­ten religiös leben können, aber nicht müssen, während sie nicht-religiös le­ben müssen und nicht nur können. Niemand kann Mitglied einer Ge­sell­schaft sein, ohne an den Sphä­ren der Politik, Ökonomie, Erziehung, Me­dien usw. zu partizipieren. Bei der Re­ligion scheint das nicht so zu sein.

Das erklärt die ver­brei­tete Ansicht, dass Reli­gion sich an­ders als andere gesell­schaft­liche Sphären nicht nur ver­ändern, son­dern aus der Gesellschaft ganz ver­schwinden kann, wäh­rend sich die nicht-reli­giösen Sphären der Gesellschaft zwar verändern, aber nicht gänzlich auflösen können. Menschen werden immer politi­sche, ökonomi­sche, soziale Lebewesen sein, aber sie müssen nicht religiös leben. Allerdings wird auch das Gegenteil ver­tre­ten, und zwar mit anthropologischen oder mit soziologischen Argumenten: Menschen seien zwar nicht mehr oder im­mer ­we­niger religiös im überkom­menen kirchlichen Sinn, aber sie lebten den­noch außer­halb der traditionellen kirch­lichen Or­ga­nisa­tionsformen in vielfältigen Weisen reli­giös oder spirituell, ob sie das so bezeichnen würden oder nicht. 13 Außerdem müsse das Problem der Differenz von Unbestimmbarkeit und Be­stimmtheit, das Reli­gio­nen anhand der Leitdif­fe­renz von Imma­nenz und Trans­zendenz bearbei­ten, auch in säkularen Gesell­schaften bearbeitet werden, so dass Religion zwar im Leben der Menschen, aber nicht auf der Ebene der Gesell­schaft ›verschwin­den‹ könne. 14

4. Gesellschaftliche Sphären oder praktizierende Individuen : Der Bezugsbereich der De­finition ist unklar. Sie spricht von gesellschaftlichen Praktiken und Institutio­nen, aber macht implizit Annahmen über die Haltungen, Einstellungen und Aktivitäten der Gläubigen einer Religion. So wird angenommen, dass Men­schen in aus­dif­fe­renzierten Gesellschaften entweder religiös leben oder nicht-reli­giös oder beides in verschiedenen Hinsichten oder zu verschiedenen Gele­genheiten, anstatt davon auszugehen (um nur einige Möglichkeiten zu nennen), dass sie verschiedene religiöse Aktivitä­ten in verschiedenen gesell­schaftlichen Sphären vollziehen, oder ver­schiede­ne gesellschaftliche Rollen in ihrem religiösen Leben ausüben, oder in einem insgesamt religiösen Lebenshori­­zont ihren verschiedenen Funkti­onen und Tä­tig­keiten in der Gesellschaft nach­gehen. Und es wird davon ausgegangen, dass Nichtglaubende nichtreligiöse, aber keine religiösen Aktivitäten aus­üben, wäh­rend Gläubige beides tun und tun müs­sen.

5. Wechsel : Schließlich wird angenommen, dass es einen Transfer (der Bedeutung) von Dingen, Gütern, Praktiken, Institutionen, Regeln oder Ideen aus dem religiösen Be­reich in nicht-religiöse Sphären der Gesellschaft gegeben hat. Dieser Transfer oder Wech­sel hat die ge­sellschaftliche Relevanz dieser religiösen Phänomene, aber nicht not­wendig ihre religiöse Signifikanz verändert. Sie waren religiös und können es in religiösen Zusammenhängen auch immer noch sein, aber in den nicht-religiö­sen Zusammenhängen der Gesellschaft haben sie keine Funktion mehr, sondern sind durch Säkularisate ersetzt und abgelöst.

Aus religiöser Sicht ist der Verlust gesellschaftlicher Relevanz allerdings nur bedeut­sam, wenn gesellschaftliche Relevanz für eine Religion oder religiöse Tradition wichtig ist, was keineswegs immer der Fall ist (Eremiten, Anachoreten). Oder wenn das Religi­öse nicht den gesellschaftlichen Gesamtkontext des Lebens bestimmt, sondern es dane­ben eine signifikante Menge nicht-religiöser Praktiken, Institutionen oder Ideen gibt, so dass der Wechsel nicht nur eine Veränderung von einem Strang oder Modus des reli­giö­sen Lebens zu einem ­anderen darstellt. Oder wenn dieser Wechsel aus religiöser Sicht eher als Verlust denn als Gewinn verstanden wird, d. h. wenn es nicht gerade als ein Ziel ­religiösen Lebens verstanden wird, die Differenz zwischen religiösen und nicht-religiösen Sphären der Gesellschaft zu überwinden, indem die nicht-religiösen Sphären am Leitfaden der moralischen Ideale der entspre­chenden Religion gestaltet werden. Auch aus religiöser Sicht muss der Prozess der Säkularisierung nicht notwendig als Verlustgeschichte oder »Subtraktionserzählung« beschrieben werden, sondern könnte sich auch – oder sollte sich gar, wie Charles Taylor nahelegt – als eine Gewinngeschich­te darstellen lassen.

Die traditionelle Sicht der Säkularisierung operiert so mit drei grund­legenden Annah­men: der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sinn- und Relevanzsphären, der Diffe­renz zwischen religiösen und nicht-religiösen Praktiken, Institutionen und Ideen und dem Wechsel von etwas aus der religiösen in eine nicht-religiöse Sphä­re. Wo die Dif­ferenz zwischen religiösen und nicht-religiösen Sphären einer Gesellschaft be­strit­ten wird, kann es nur Veränderungen in der religiösen bzw. der nicht-religiösen Sphäre ge­ben, aber keine Veränderungen von der einen in die andere. Und wo davon ausge­gan­gen wird, dass es gesellschaftliche Signifikanz nicht in verschiedenen Graden gibt, oder dass wir uns nur auf Ereignisse und nicht auf ›Dinge‹ (im weitesten Sinn) kon­zentrieren soll­ten, da gibt es keinen Wechsel bzw. keine Veränderung in die eine oder andere Rich­­tung, sondern nur eine unterschiedliche Vertei­lung sozialer Signi­fi­kanz in einer Gesell­schaft zu verschiedenen Zeitpunkten.

Offenkundig liegt dieser traditionellen Sichtweise ein komplexes Verständnis von ›Sä­ku­la­risierung‹ und ›säkular‹ zugrunde. Dieses bedarf einer genaueren Analyse, um theo­re­tische Fehlurteile und argumentative Kurzschlüsse zu vermeiden.

3. Deskriptive und normative Gebrauchsweisen des Ausdrucks ›säkular‹

Der Ausdruck ›säkular‹ kann auf deskriptive und normative Weise verwendet werden. 15 Die deskriptiven Gebrauchsweisen orientieren sich an der Leitunterscheidung zwi­schen ›säkular‹ und ›nicht-säkular‹. Wann immer die eine Seite dieses Gegensatzes posi­tiv und die andere negativ gewertet werden, wird der Ausdruck normativ ge­braucht. Dabei kommt es immer wieder zu Unklarheiten und Zweideutigkeiten. So ist oft nicht klar, welcher Gebrauch vorliegt und wo von einem deskriptiven zu einem normativen Gebrauch von ›säkular‹ über­gegangen wird. Das zu beachten ist aber wichtig, um zu verstehen, was gemeint ist, wenn die Geschichte der Moderne als ›Abbau oder Verfall der Religion und Aufstieg oder Zunahme des Säkularen‹ beschrieben wird, oder die Gegenwart als eine Zeit der ›Rückkehr der Religion oder der Götter in eine säkulare Welt‹. 16 Aber auch der normative Gebrauch für sich genommen ist mehr­deutig, weil der Ausdruck ›säkular‹ von verschiedenen Positionen aus positiv oder ne­gativ verwendet werden kann und damit jeweils eine andere Pointe hat. So kann mit ›Säkularismus‹ diejenige Position bezeichnet werden, die das ­Säkulare oder die Säku­larität positiv bewertet und alles, was ihnen entgegensteht, negativ. Man kann damit aber auch das Gegenteil meinen, näm­lich eine a- oder antireligiöse Ideologie, die für verwerflich gehalten wird.

Offenkundig hängt der normative Sinn dieser Ausdrücke davon ab, ob sie von einem säkularen oder nicht-säkularen Standpunkt aus gebraucht werden, ob die­jenigen, die sie verwenden, sich selbst also auf Seiten des positiv verstandenen Säku­laren oder des positiv verstandenen Nicht-Säkularen verorten. Dieselben Phäno­mene, Fakten oder Entwicklungen, die als ›säkular‹, ›Säkularität‹ oder ›Säkularisierung‹ be­schrieben wer­den, werden dann, je nachdem, positiv oder negativ bewertet. Der Über­gang von einem deskriptiven zu einem normativen Gebrauch resultiert so in einer Sicht der Geschichte der Moderne als Fortschritt und Gewinn (Aufbau) oder als Rückschritt und Verlust (Ab­bau) und dementspre­chend in einer optimistischen oder eher pessimistischen Sicht der Gegen­wart, je nachdem, ob man der Religion ge­gen­über positiv 17 oder kritisch einge­stellt ist. 18

4. Grundlegende und abgeleitete Gegensätze

Der Ausdruck ›säkular‹ und seine Derivative stehen in unterschiedlichen ­Kontrast- oder Gegensatzver­hältnissen, je nachdem, wie ›nicht-säkular‹ verstanden wird. Unter syste­matischem Gesichtspunkt haben die folgenden binären ­Gegensätze in der europäischen Geschichte eine besondere Bedeutung ­gehabt:

4.1 Göttlich vs. Weltlich (vertikale Säkularität oder Weltlichkeit)

Der Grundgegensatz besteht hier zwischen Gott und der Welt . Die Welt ist geschaffen, nicht göttlich. Weder sie noch irgendetwas in der Welt ist mit Gott, dem Schöpfer, zu verwechseln. Die ›Entzauberung der Welt‹ (M. Weber) fängt dort an, wo zwei intellek­tuelle Manöver verknüpft werden: der Übergang vom Polytheismus zum Monotheis­mus (Gott/Götter) und das Verständnis der Beziehung Gottes zur Welt als Schöpfung und nicht als Emana­tion oder Partizipation (Schöpfer/Schöpfung). Der Monotheismus für sich genommen ist nicht hinreichend, diese Entwicklung zu erklären, wie die helle­nis­tische Kosmotheologie (Kosmotheo­lo­gik) in ihren ver­schie­­denen Versionen (plato­nisch, aristotelisch, stoisch) zeigt (ein Kos­mos, eine Gott­heit) . Entscheidend ist viel­mehr die Unterscheidung zwischen dem einen Schöpfer und der einen Schöpfung(ein Gott, eine Welt) . Erst dadurch wurde die Welt ›entgöttlicht‹ oder ›entzaubert‹, also konse­quent weltlich verstanden und er- lebt.

Folgen dieser Entwicklung sind eine Reihe weiterer binärer Unterscheidungen in der Beschreibung der Welt. Zum einen die zwischen Gott und Abgott (Götze, Idol) : Gott darf in keiner Weise mit einer geschaffenen Wirklichkeit gleichgesetzt oder verwechselt wer­den. Wo immer das geschieht, also etwas Geschaffenes vergöttlicht wird, liegt Idoli­sie­rung, Götzendienst und Aberglaube vor. Zum anderen die zwischen Glaube und Aber­glaube : Diese Unterscheidung ist nicht deskriptiv, sondern normativ, sie kann nicht be­schreibend (religionswissenschaftlich), sondern nur bewertend (theologisch) verwen­det werden vom Standpunkt derer aus, die glauben, wirklich an Gott und nicht nur an einen Abgott zu glauben.

Im Sinn dieser vertikalen Säkularität haben (manche) Muslime mit Recht beansprucht, dass ein säkulares Leben für die islamische Welt immer eine Selbstverständlichkeit war, weil die entscheidende Differenz bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens die zwischen Gott und Welt war und nicht die zwischen religiösen und nichtreligiösen Sphä­ren der Gesell- schaft. 19 In ähn­licher Weise gibt es auch im Christ­entum wichtige Stränge, die eine positive Haltung der säkularen Welt gegenüber ein­nehmen, zwischen ›Säkularisierung‹ (positiv) und ›Säkularismus‹ (negativ) unterscheiden 20 und für »a legitimate place for autonomy of the secu­lar« 21 plädieren, weil sie die Welt als Schöp­fung verstehen, die in ihrer Weltlichkeit nach autonomen Regeln fungiert, die sie Gott ihrem Schöp­fer verdankt.

4.2 Religiös vs. Säkular (horizontale Säkularität oder säkulare Weltlichkeit)

Doch diese vertikale Weltlichkeit ist nicht die einzige Konzeption von Säkularität in der europäischen Tradition. Da­neben tritt eine horizontale, die mit der ersten verknüpft wer­den kann, indem in­ner­halb der geschaffenen Welt ein binärer Gegensatz zwischen zwei (im vertikalen Sinn) ›säkularen‹ Bereichen des menschlichen Lebens gesetzt wird: denjenigen Vollzügen, die intentional auf Gott und an Gott gerichtet sind, und denjeni­gen, die sich auf die ge­schaf­fe­ne Wirklichkeit richten. Dieser Gegensatz kann auf ver­schiedene Weisen ver­standen und symbolisiert werden.

4.2.1 In lokalem Sinn (und seinen metaphorischen Ausweitungen) ist es der binäre Ge­gen­satz zwischen heilig und profan , d. h. dem, was zum Bereich des Göttlichen gehört (z. B. der Tempel), und dem, was außerhalb dieses Bereiches liegt. Es war eben dieser in polytheistischen Religionen gängige Gegensatz, den die vertikale Säkularität am Leitfa­den der – kosmotheologisch oder schöpfungstheologisch konzipierten – Grund­differenz zwischen Gott und Welt zu­rückgewiesen und ab­gelehnt hatte. Ihn unter ihren Bedin­gungen neu zu etablieren, verändert seine Pointe: Heilig ist nur Gott und das, was von Gott geheiligt wird,22 nicht das, was Menschen als heilig bestimmen oder aus­grenzen. 23 Eine im traditionalen Sinn heilige Hand­lung zu voll­ziehen oder in einem heiligen Be­reich zu leben, ist nicht weniger säkular (im vertikalen Sinn) als irgendeine andere weltliche Tätigkeit. Umgekehrt können profane Aktivitäten wie die, seinen Beruf ver­antwortlich auszuüben oder das Leben eines guten Bürgers zu füh­ren, einen zusätz­li­chen religiösen Wert erhalten 24 und heilige Handlungen (im horizon­talen Sinn) wie die, dem Kaiser Opfer zu bringen, zu einem unentschuldbaren Verstoß gegen den wahren Glauben an den einen wahren Gott werden. 25 In diesem Sinn bestand Martin Luther darauf, dass das gan­ze menschliche Leben vor Gott als Gottesdienst und Dienst am Näch­sten zu leben sei, 26 nicht nur in einzelnen Bereichen (Gottesdienst­fei­ern) oder von manchen Menschen (Mönche und Nonnen). Wahres Christenleben findet sich nicht im monastischen Rückzug von der Welt, sondern im gewöhnlichen Berufs-, Familien- und Gesellschaftsleben der Christen, wenn diese nach dem Willen Gottes, und das heißt: nach der Grundregel der christlichen Nächstenliebe leben. 27

4.2.2 Im institutionellen Sinn ist es dagegen der binäre Gegensatz zwischen kirchlich und politisch, d. h. dem, was sich auf die Kirche bezieht, und dem, was sich im Unter­schied dazu auf den Staat oder die politische Ordnung richtet. Insofern sich beide Ord­nungen in bestimmten Institutionen manifestieren (Papst vs. Kaiser; kirchliche Ord­nun­gen vs. politische Verwaltungen), kann die Kirche bzw. das Kirchliche als eine ge­sellschaftliche Institution neben anderen verstanden werden. Der Gegensatz zwischen kirchlichen und politischen Ordnungen und Aktivitäten wird so zum Ansatz einer Un­terscheidung bzw. Dif­fe­renzierung unterschiedlicher Ordnungsbereiche innerhalb der Gesellschaft .

Da die Gesellschaft der umfassende soziale Orientierungshorizont ist, kann diese Ord­nungsdif­ferenz von keinem neutralen Standpunkt aus gesetzt und beschrieben werden, sondern nur ent­weder von kirchlicher oder nicht-kirchlicher bzw. umgekehrt politi­scher oder nicht-politischer Position. Das Nicht-Kirchliche schließt dabei alles ein, was nicht kirch­lich ist, ob es politisch ist oder nicht, und das Nicht-Politische schließt alles ein, was nicht politisch ist, ob es religiös ist oder nicht. Deshalb gibt es eine religiö­se (oder theo­logische) und eine säkulare (oder soziologische) Tradition des Gebrauchs dieser Unter­scheidung in der Geschichte Europas, die häufig vermischt werden, aber eine verschiedene Pointe haben und deshalb zu unter­scheiden sind.

4.3 Religiöse Unterscheidungen zwischen Religiös und Säkular (horizontale Säkularität in religiösem Sinn)

4.3.1 Von kirchlichem oder nicht-politischem Standpunkt aus kann der Gegensatz zwi­schen religiös und säkular als der binäre Gegensatz zwischen kirchlich und sä­kular for­muliert werden, d. h. als Unterschied zwischen kirchlichen Aktivitäten, die sich auf das Leben der Kirche richten und zu diesem gehören, und anderen Aktivi­täten anderer In­stitutio­nen und Akteure in der Gesellschaft. Das ist derselbe Gegensatz wie der zwi­schen kirchlich und politisch (vgl. 4.2.2), aber vom Standpunkt der Kirche aus formuliert und nicht vom Standpunkt der Politik oder der Gesellschaft überhaupt.

4.3.2 In ähnlicher Weise tritt diese Unterscheidung in monastischem Sinn auf als der binäre Gegensatz zwischen klerikal und säkular . Dieser Gegensatz differenziert im Blick auf die Rolle und Funktion von Klerikern zwischen dem mo­nastischen Leben des reli­giösen Klerus und dem nicht-monastischen Leben des Weltklerus. Diese Unterschei­dung wird vom Standpunkt einer bestimmten Gruppe innerhalb der Kirche gemacht (Mönche, religiöser Klerus). Er belegt exemplarisch, dass die externe Differenz zwi­schen Kirche und der übrigen Gesellschaft innerkirchlich in einer Reihe ähnlicher Un­terschei­dungen im Blick auf die Funktionen und Aktivitäten bestimmter kirchlicher Einrich­tungen und Akteure reproduziert wird. Entsprechendes findet sich auch in protestantischen Konfessionskirchen, die zwischen kirchen­be­zogenen und ge­sellschaftsbe­zogenen Aktivitäten unterscheiden, insofern sie etwa verschie­dene Ordinationen ken­nen für diejenigen, die zum Dienst am Wort berufen sind (Pfarrerinnen und Pfar­rer), und diejeni­gen, die zu diakonischen und sozialen Aufgaben beru­fen wer­den (Dia­konin­nen und Diakone, Jugendarbeiter/innen, Sozialarbei­ter/innen).

4.3.3 In funktionalem Sinn findet sich diese Differenz auch als Kontrast zwischen Kirche und säkularem Gesellschaftsleben. In diesem Sinn werden etwa Kunstwerke danach cha­rakteri­siert, ob sie für religiöse oder nicht-religiöse Zwecke bestimmt sind. Die sogenannten ›weltlichen Sonaten‹ des 17. Jahrhunderts etwa waren nicht für den kirchlichen, son­dern den priva­ten und gesellschaftlichen Gebrauch komponiert und dienten nicht der religiösen Er­bau­ung, sondern der musikalischen Unterhaltung.

4.4 Säkulare Unterscheidungen zwischen Religiös und Säkular (horizontale Säkularität in säkularem Sinn)

4.4.1 In politischem Sinn kann der Kontrast als Gegensatz zwischen kon­fessionell und säku­lar formuliert werden. Dieser Gegensatz wurde im Zug der Ausbildung der Natio­nal­staaten im Gefolge der Religionskriege in Europa ­etabliert und diente dazu, eine Rei­he unterschiedlicher Entwicklungen aufeinander zu beziehen bzw. zu bündeln, näm­lich (a) die Veränderung vom konfessionellen Streit zum säkularen Frieden (politisches Mo­tiv: 16.–17. Jahrhundert), (b) die Veränderung von einer monopolistischen Staats­wirt­­schaft zu einer freien Marktwirtschaft (ökonomisches Motiv: 18.–19. Jahrhundert) und (c) die Verän­derung von einer autoritären religiösen Vergangenheit zu einer libe­ralen Moder­ne (kulturelles Motiv: 19.–20. Jahrhundert).

Im Licht jeder dieser Veränderungen wird das Säkulare anders akzentuiert und dem­ent­sprechend auch das Re­ligiöse anders verstanden. Aus der Sicht von (a) heißt es, dass säkulare politische Mächte nicht in reli­giöse Angelegenheiten eingreifen sollen (›Religion ist Privatsache‹ 28 ). Aus der Sicht von (b) wird zuge­standen und rechtlich er­möglicht, dass verschiedene Konfessionen, Denomi­na­tionen oder Reli­gionen innerhalb ein und des­selben Nationalstaates koexi­stieren können (›Religion ist plural‹, ›Religion gibt es nur als kontingente ge­schichtliche Religi­onen‹ 29 ). Aus der Sicht von (c) kann nur das, was sich nach öf­fent­lichen Stan­dards einer neutralen und univer­salen Vernunft ver­teidigen lässt, ernst ge­nommen werden (›Religiöser Glaube ist vor­wissenschaftlich und kann nicht rational oder ver­nünftig vertreten werden‹ 30 ). Wo die­se ver­schiedenen Beurteilungen von Religion als privat, plural und vor-wissenschaft­lich ver­knüpft wer­den, verändern sich säkulare Positionen zu antireligiö­sem Säkularis­mus.

5. Beschreibungsebenen von Säkularisierung

In diesem Sinn wird ›Säkularismus‹ ein Schlüsselbegriff der Moderne, und zwar gerade in normativem, nicht in deskriptivem Sinn. Um dieser pauschalen Sicht kritisch diffe­ren­zierend entgegenwirken zu können, hat C. J. Sommerville vorge­schlagen, beim Ge­brauch des Ausdrucks ›Säkulari­sierung‹ (›secularization‹) folgende Ebenen der Beschrei­bung zu unterscheiden: 31

1. Auf der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen bezieht sich ›Säkularisierung‹ auf die gesellschaftliche Ausdifferenzierung , also auf den Prozess, in dem sich die ver­schie­denen Sphären der Gesellschaft wie das Ökonomische, Politische, Recht­liche oder Moralische in wachsendem Maß zu eigenständigen Operationsbe­rei­chen mit eige­nen Regeln und Verfahrensweisen ausbilden, die sich wechselseitig in relativer Eigen­ständigkeit gegenüber stehen.

2. Auf der Ebene individueller Institutionen bezieht sich der Ausdruck ›Säkularisie­rung‹ auf die Transformation religiöser Institutionen in säkulare.

3. Auf der Ebene des Handelns bezieht sich der Ausdruck ›Säkularisie­rung‹ auf den Transfer legitimer Autorität für bestimmte Aktivitäten von religiösen auf säkulare Institutionen. In den meisten westlichen Staaten haben Regierungen, der non-profit Sektor und der Privatsektor der Gesellschaft es übernommen, die Bedingungen ­ge­sell­schaftlicher Wohlfahrt und sozialer Absicherung sicherzustellen.

4. Sofern es um Mentalitäten geht, bezieht sich ›Säkularisierung‹ auf den Übergang von letzten Zielen ( ›ultimate concerns‹) zu uns nächst- oder näherliegenden Zielen im Le­ben von Individuen (›proximate concerns‹).

5. Auf der Ebene der statistischen Beschreibung des Verhaltens von Bevölkerungen schließlich bezieht sich ›Säkularisierung‹ auf das breite Muster eines zunehmen­den Rückgangs in der Häufigkeit und Inten­sität der Teil­nahme am religiösen Leben im Unterschied zu den Säkularisierungs­tenden­zen auf der Ebene von Individuen.

Diese verschiedenen Beschreibungsebenen hängen nicht notwendig zusammen und implizieren sich nicht gegenseitig. Ohne zu sagen, auf welcher Ebene man den Aus­druck ›Säkularisierung‹ oder ›säkular‹ verwendet, kann der Gebrauch die­ser Ausdrücke nur Verwirrung stiften. Werden diese Verwendungsweisen von ›Säkularisierung‹ nicht oder nur unzureichend unter­schieden, wächst die Gefahr, mit dem Ausdruck ›säkular‹ nicht mehr beschreibend und differenziert von ›Säkularität‹, sondern wertend und pau­schal von ›Säkularismus‹ zu sprechen.

6. Säkularismus in positivem und negativem Sinn

Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch dieser Terminus positiv und negativ ver­wen­det werden kann. Wo er positiv gebraucht wird, werden in der Regel die folgenden Aspekte hervorgehoben:

1. In politischem Sinn wird betont, dass Religionen, religiöse Aktivitäten und religiöse Überzeugungen im öffentlichen Raum einer Gesellschaft nichts zu suchen haben. Sie sollten in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit keine Rolle spielen.

2. In institutionellem Sinn wird auf einer Trennung von Staat und Kirche (politischen und religiösen Institutionen und Organisationen) bestanden, ob im Sinn einer strik­ten Unabhängigkeit beider Seiten voneinander, wie in den USA, oder im Sinn der antiklerikalen laicité in Frankreich.

3. In ideologischem Sinn wird religiöser Glaube als ein Schlüssel zum Verständnis der Welt abgelehnt und ein unüberbrückbarer Graben zwischen Vernunft und Religion behauptet. Religiöse Überzeugungen gehören zu einer vorwissenschaftlichen Ver­gan­genheit und haben nichts zu suchen in einer vernunftgeleiteten modernen Welt und Gesellschaft.

Wo diese Komponenten verknüpft werden, verdichtet sich der Säkularismus zu einer weltan­schau­­lichen Ideologie. 32

Dagegen haben sich in den vergan­genen Jahren Be­wegungen wie die ›Radi­cal Ortho­doxy‹ gerichtet, die diesem ideologischen Verständnis eine christ­liche Gegenideologie entgegensetzen. Säkularismus, Säkularität und die Rede von einer säku­laren Welt wer­den pauschal als modernistische Ideo­logie kritisiert. 33 Der Säkularis­mus, so heißt es, habe die westliche Kultur in Europa seit der Aufklärungsepoche dominiert, aber seine Wur­zeln reichten bis in die Anfänge des Skotismus und dessen weitreichenden kultu­rellen Auswirkungen zurück. 34 Der Skotismus habe das west­liche Denken im Allgemei­nen und die westliche Theologie im Besonderen dazu verführt, sich von der plato­nisie­renden Weltsicht der Kirchenväter und insbesondere Augustins abzuwenden. Er habe die Tendenz befördert, eine realistische Weltsicht durch einen konfusen Nomi­nalis­mus zu ersetzen, eine irreführende Lehre eines einheitlichen Seinsverständnis­ses von Gott und Welt vertreten, die Auffassung verteidigt, politische Autorität gründe im Volks­wil­len und nicht im Willen Gottes, und zu einer fragwürdigen Marginalisierung der Theo­logie in den akademischen ­Institutionen des Westens geführt. Wie leicht zu erkennen ist, kritisiert die Radical Orthodoxy den Säkularismus der Moderne, indem sie mit den­selben breitflächigen und undifferenzierten Argumenten operiert wie dieser, nur eben von einem nicht-säkularen Standpunkt aus und nicht von einem säkularen. 35 Zu Recht hat Charles ­Mathewes betont, dass die Vertreter der Radical Orthodoxy in ihrer Kritik der säkularen Moderne von genau denselben Vorausset­zun­gen ausgehen, dieselbe Pro­blemstellung akzeptieren, denselben Argumentations­stil pflegen und in denselben Ka­te­gorien denken wie diejenigen, die sie als Vertreter des Säkularismus und der säku­la­ren Moderne kritisieren und atta- ckieren.

7. Das Selbstmissverständnis des Fundamentalismus

Nach diesem Muster verfahren viele religiöse Reaktionen auf die Moderne und die mei­sten fundamentalistischen Zurückweisungen des Modernismus und Säkularismus. Sie alle positionieren sich auf der anti-säkularen Seite des Kontrasts religiös vs. säkular, und sie alle verwischen die Differenz zwischen vertikaler und horizontaler Säkularität, indem sie ihre jeweilige eigene religiöse Sicht mit der Sicht Gottes identifizieren. Dabei über­sehen sie eine Reihe wichtiger Perspektivenänderungen in der Geschichte der euro­päischen Kultur und verwirren sich in gegenläufigen Perspektiven:

1. Es ist eines, das Säkulare wie das traditionelle Christentum von religiösem Stand­punkt aus als das zu bestimmen, was nicht religiös ist , etwas anderes dagegen, das Religiöse von säkularem Standpunkt aus als das zu bestimmen, was nicht sä­kular ist . Der religiöse Fokus der ersten Bestimmung (›säkular‹ = ›nicht religiös‹) und der säkulare Fokus der zweiten Bestimmung (›religiös‹ = ›nicht säkular‹) gehören nicht zur selben Perspektive, sondern zu verschie­denen Per­spektiven und lassen sich des­halb weder ohne weiteres addieren noch einander auf derselben Ebene ent­ge­gensetzen.

2. Entsprechend ist es eines, die nicht-religiöse (säkulare) Sicht der Religion als das, was nicht säkular ist , von einem religiösen Standpunkt aus zurückzuweisen (religiö­ser Fokus), aber etwas anderes, es von einem nicht-säkularen (d. h. säkular kon­struierten ›religiösen‹) Standpunkt in der säkularen Perspektive aus zu tun (nicht-religiöser Fokus). Im letzten Sinn wird der Säkularismus der Moderne genau von dem Standpunkt aus kritisiert, den er selbst geschaffen hat, indem er die Religion und alles Religiöse normativ als vormodern und nicht-säkular aus seinem Weltbild ausgeschlossen hat.

3. Das ist genau das, was der Fundamentalismus tut: Er reagiert auf den normativen Säkularismus der Moderne in dessen Weise und indem er das tut, verkehrt er die Religion, die er verteidigt, in eine Anti-Ideologie zur Ideologie der säkularistischen Moderne. Fundamentalismus ist keine Rückkehr zur Religion, wie diese war, ehe sie vom modernen Säkularismus marginalisiert wurde, sondern ein Protest der Margi­na­lisierten gegen die Moderne in den Kategorien der Moderne.

Was hier geschieht, kann in theologischer Sicht als ein fundamentales Selbstmiss­ver­ständ­nis der eigenen Position beschrieben werden. Es wird nicht gesehen, dass die ver­tikale Säkularität des christlichen Glaubens die binäre Differenz zwischen göttlich und weltlich als eine Differenz innerhalb der Schöpfung grundsätzlich in Frage stellt, inso­fern alle innerweltlichen Unterscheidungen zwischen säkular und religiös (in welchem Sinn auch immer) auf der Seite des Weltlichen und nicht des Göttlichen loziert werden. Stattdessen versucht man, den weltlichen Kontrast von säkular und religiös in eine Do­minanz des Religiösen über das Säkulare zu erheben, indem man das Religiöse (im Sinn des horizontalen Gegensatzes) mit dem Göttlichen (im Sinn des vertikalen Gegen­sat­zes) identifiziert. Damit wird der religiöse Fundamentalismus zum Opfer genau der re­ligiösen Kritik, die er zu verteidigen sucht, weil diese an die Stelle der verzauberten Welt eine Sicht der Welt als Schöp­fung gesetzt hat, die in keinem Sinn und in keiner Hinsicht mit dem Göttlichen in irgendeiner Weise zu identifizieren ist. 36 Was der reli­giöse Fundamentalismus verteidigt, ist nichts anderes als eine Ver­sion der säkularen Moderne, die er attackiert.

8. Post-Säkular?


Wie deutlich wurde, ist der Sinn des Ausdrucks ›religiös‹ nicht durchgehend durch den Kontrast zu ›säkular‹ bestimmt, während in den Sinn von ›säkular‹ die Negation von ›re­ligiös‹ in irgendeinem Sinn stets eingezeichnet ist. Man kann deshalb nicht von ›säkular‹ oder ›Säkularität‹ reden, ohne den Bezug zum Religiösen ins Spiel zu bringen. Auch wer ein säkulares Zeitalter propagiert, bleibt religionsfixiert.

Das scheint dort gesehen zu werden, wo unter dem Stichwort des ›Post-Säkularen‹ die Überwindung der religionskritischen Moderne durch eine religionsfreundlichere Post-Moderne propagiert wird. 37 Doch damit wird nur eine mögliche Lesart der Denkfigur des Post-Säkularen in den Vordergrund gerückt. Das Bild ändert sich, wenn man den Ope­rator ›post‹ nicht nur auf ›säkular‹, sondern den ganzen Sinnkontrast von ›säkular vs. re­ligiös‹ bezieht, also nicht nur die Überwindung einer säkularen Moderne meint, son­dern die Überwindung einer Moderne, die sich durch Absetzung von einer religiö­sen Vormoderne als säkular bestimmt hat. ›Post-säkular‹ ist dann kein Indikator für den Wiedergewinn des Religiösen in der säkularen Welt der Moderne, sondern für eine Verabschiedung sowohl des Säkularen wie des damit mit­gesetzten Religiösen. Erst da­mit lebt man nicht nur in einem säkularen Zeitalter, sondern in einer wirklich post-sä­kularen Welt.

Um das wenigstens umrisshaft zu konkretisieren, sei der Begriff des Post-Säkularen im angedeuteten Sinn kurz näher erläutert. Eine post-säkulare Welt gibt es nur, wo es eine post-säkulare Gesellschaft gibt, und die gibt es erst da, wo der Staat sich nicht mehr als säkular versteht oder bestimmt. Was heißt das?

Grundsätzlich ist von der Unter­scheidung zwischen Staat (der politischen Sphäre) und Gesellschaft (der Totalität aller sozial differenzierten Sphären) auszugehen, die seit dem 19. Jahrhundert fest etabliert ist. Das Ver­hält­nis von Staat und Kirche oder von Staat und Re­li­gion kann seither nicht mehr als Paradig­ma für die Bestimmung des Ver­hältnisses von Religion und Gesellschaft insgesamt die­nen. Denn jenes ist eine Bezie­hung zwischen verschiedenen Teilsystemen der Ge­sell­schaft (Reli­gion und Staat), die­ses dagegen eine Beziehung zwischen der Gesell­schaft als ganzer und einer ihrer Teil­systeme (Religion und Gesellschaft). Man muss den Sinn des Säkularen daher differen­ziert durchdenken, indem man ihn auf die Gesellschaft, den Staat und das Leben von Individuen hin spezi­fiziert.

Stellt man die Differenz von Staat und Gesellschaft in Rechnung, dann kann man in der Entwicklung der europäischen Mo­derne vier typische Konstellationen von Staat, Gesell­schaft und Individuen unter­schei­den, die ich in offensichtlicher Überverein­fachung den religiösen, toleranten, säkularen und post-säkularen Staatstyp nenne.

1. Religiöse Staaten schreiben vor, welche Religion von ihren Bürgern zu praktizieren ist. 38 Das kann aus religiösen Gründen geschehen, weil man der Über­zeugung ist, nur diese eine Religion sei wahr und in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, wie es im mittelalterlichen Europa der Fall war. Oder es kann aus poli­tischen Gründen geschehen, wie in den europäischen Natio­nalstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, wo man zur Sicherung der Einheit des Staates und der Einheit­lichkeit einer kulturell diversen Bevölkerung darauf ­bestand, dass eine und nur eine Reli­gion offiziell anerkannt und verbindlich für jedermann ist: Ein Staat, eine Religion ( oder Kirche ).

Religiös ist der Staat, weil er seinen Bürgern eine bestimmte Religion vor­schreibt, die für sie verbindlich ist. Bürger eines solchen Staates im vollen Rechtssinn kann nur sein, wer (je nachdem) katholisch, lutherisch, calvinistisch, jüdisch, musli­misch, buddhistisch, hinduistisch usw. ist. Zwischen Staat und Gesell­schaft wird hier noch nicht unterschieden. Auch die Unterscheidung zwischen Staat und Kirche ist nur eine rechtliche Unterscheidung zwischen dem Bereich des Politischen und des Religiösen innerhalb einer stratifizierten Gesellschaft, die nicht nur grundsätz­lich zwischen Gott und Welt unterscheidet (vertikale Säkularität), sondern auch in­ner­halb der Welt zwischen religiösen (heilig, klerikal, kirchlich) und nicht-religiö­sen (profan, säkular, politisch) Sphären und Aktivitäten. Für die Bürger eines solchen Staates sind beide Seiten der Unterscheidung verbindlich: Niemand kann Bürger dieses Staates sein, ohne auch Mitglied der entsprechenden Kirche oder Religions­gemeinschaft zu sein. Die konkrete Form eines solchen Staates kann dagegen vari­ieren und entweder den Charakter einer Theokratie (das Zusammenfallen der Kir­che mit dem Staat) oder einer Staatskirche (das Zusammenfallen des Staates mit der Kirche) haben.

2. Tolerante Staaten legen nicht fest, welche Religion für ihre Bürger verbindlich ist. Aber sie nehmen an, dass alle Bürger eine Religion mehr oder weniger intensiv praktizieren, wie es in den europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert in der Regel der Fall war. 39 Es mag zwar eine Mehrheits­religion geben, der bestimmte Privile­gien zugestanden werden (z. B. – weit über das 19. Jahrhundert hinaus – die anglikanische Kirche in Großbritannien, die re­formierten Kirchen in der Schweiz, die lutherischen Kirchen in den skandinavi­schen Ländern, die römisch-katholische Kirche in Polen, Italien oder Spanien). Aber andere Religionen werden toleriert, sofern sie bestimm­te Regeln einhalten, und sie können von den Bürgern praktiziert werden, ohne dass diese ihre Bürgerrechte gefährden oder einbüßen. In solchen Staaten wird also keine bestimmte Religion für alle als verbindlich vorgeschrieben, sondern es werden ver­schiedene Religionen toleriert: Ein Staat, verschiedene Reli­gionen (oder Kirchen) .

Tolerant ist ein solcher Staat, weil er zwar erwartet, dass seine Bürger eine Religion praktizieren, und es vielleicht vorzieht, dass sie eine bestimmte ­Religion praktizie­ren, aber er akzeptiert, dass sie sich aus freien Stücken für die Religion entscheiden, die sie bekennen und leben wollen (Religionsfreiheit). Im Horizont der Gesellschaft eines solchen Staates wird nicht nur zwischen Staat und Religion unterschieden, son­dern auch zwischen verschiedenen Religionen, Kirchen, Konfessionen oder De­no­minationen. Das befördert die Unterscheidung zwischen Gesell­schaft und Staat (dem politischen System) und ebnet den Weg für ein sozial aus­diffe­­renziertes Ge­sellschaftssystem und einen säkularen Staat. Die Individuen können in einem sol­chen Staat die eine oder eine andere oder auch keine Religion praktizieren und obgleich das im einen oder anderen Fall mit Nachteilen in der gesellschaftlichen Akzeptanz und im sozialen Ansehen verbunden sein kann, brauchen sie nicht zu be­fürchten, dass ihre religiöse oder nicht-religiöse Orientierung ihre Rechte als Bürger gefährden könnten. In solchen Staaten wird Religion zunehmend als eine private und nicht als eine ­öffentliche (d. h. politisch relevante) Angelegenheit angesehen. Und je besser die Implikationen dieses Prinzips für die Freiheit der Religion, die Be­handlung von Atheisten und anderen Nichtglaubenden, die soziale Stabilität und die politische Akzeptanz des Staates verstanden und gezogen werden, desto mehr wird ein toleranter Staat zu einem säkularen Staat.

3. Säkulare Staaten überlassen es (im Unterschied zu antireligiösen Staaten) nicht nur ihren Bürgern, zwischen religiösen oder nicht-religiösen Lebensweisen zu wählen. Sie verbieten es sich selbst durch Gesetz, sich in die religiösen oder nicht-religiö­sen Über­zeugungen und Praktiken ihrer Bürger einzumischen, und sie nehmen aus­drück­lich und in rechtlich verbindlicher Form eine neutrale Haltung gegenüber ­al­len Fragen der Religion und des Religiösen ein. Säkulare Staaten schreiben weder eine Religion vor noch tolerieren sie verschiedene Religionen, sondern sie akzeptie­ren das grund­legende Recht eines jeden Bürgers, das religiöse oder nicht-religiöse Leben zu leben, das sie wollen. 40 Das gilt unabhängig davon, ob sie darüber hinaus auf einer Pflicht ihrer Bürger bestehen, ihre Zustim­mung zu Zwangsgesetzen nicht nur religiös und damit für sich, sondern öffentlich und mit vernünftig nachvollzieh­baren Gründen für alle zu rechtfertigen. 41 Das heißt, säkulare Staaten sind neutral nicht nur im Blick darauf, welche Religion ihre Bürger praktizieren, sondern auch im Blick darauf, ob sie überhaupt eine Religion praktizieren oder keine, oder ob sie ein nicht- oder antireligiöses Leben führen. In einem solchen Staat werden nieman­dem religiöse oder nicht-religiöse Lebensan­schauungen oder Lebensweisen vorge­schrieben, sondern jeder und jede hat das Recht, sich für die Art von Leben zu ent­scheiden, die er oder sie wünscht: Ein Staat, viele Religionen und Nicht-Religionen .

Ein solcher Staat ist nicht nur tolerant, sondern definiert sich als neutral im Blick auf die Option zwischen religiösen und nicht-religiösen Lebensweisen. Er be­schränkt sich selbst durch das Gesetz, keine pro- oder anti-religiösen Gesetze zu erlas­sen. Und er unterscheidet systematisch zwischen der Selbst­beschreibung reli­giöser Gruppen und Traditionen in ihrer eigenen Sprache, Begrifflichkeit oder Sym­bolik (christlicher Glaube, Kirche, Weihnachten, Ostern) und seiner eigenen neu­tralen Rechtssprache für diese gesellschaftlichen Realitäten (Religionen, reli­giöse Gemein­schaften, Festzeiten, Feiertage usw.). Die Gesellschaft wird damit immer kla­rer vom Staat und anderen gesellschaftlichen Sphären (Recht, Ökonomie, Wis­sen­schaft, Religion, Medien, Privatleben usw.) unterschieden und es wird nicht nur geduldet, wenn Individuen eine Religion ihrer Wahl oder keine Religion prak­tizie­ren, sondern sie haben dazu ein verbrieftes Recht.

4. Post-säkulare Staaten unterscheiden sich von säkularen Staaten darin, dass sie sich nicht mehr als neutral gegenüber dem Religiösen oder Nicht-Religiösen definieren. Sie beziehen keine Position im Blick auf die religiöse oder nicht-religiöse Lebens­weise ihrer Bürger, aber sie enthalten sich auch dessen, ihre Neutralität zu betonen oder ausdrücklich herauszustellen, dass sie keine Position im Blick auf religiöse Fragen beziehen oder vertreten. Sich auf das Religionsthema in irgendeiner Weise zu beziehen, ist für sie irrelevant geworden. Das muss nicht heißen, dass unterstellt wird, Religion und Glaube seien ­unwichtig, oder dass sie ignoriert, unterdrückt, an­ge­griffen oder mit mehr ­Verdacht beobachtet würden als andere Sphären, Orga­ni­sationen oder Aktivitäten in der Gesellschaft. Es besagt vielmehr, dass der Staat nicht mehr den Bezug zum Religionssystem in besonderer Weise in den Vorder­grund stellt und ausdrücklich herausstreicht, wenn er seine Beziehungen zu den anderen gesellschaftlichen Sphären oder Teilsystemen beschreibt, indem er betont, er sei im Blick auf religiöse Fragen ›neutral‹ oder ›säkular‹.

Eine solche post-säkulare Indifferenz ist nur unter zwei Bedingungen möglich. Zum einen muss der Staat, also das politische System, gelernt haben, klar zwischen sei­nen Beziehungen zur Gesellschaft als ganzer, zu den anderen Teilsystemen der Ge­sellschaft wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Religion usw. und zu den individu­ellen Bürgern und ihren Praktiken, Aktivitäten, Lebensanschauungen und Lebens­weisen zu unterscheiden. Zum andern darf er die Beziehung zur Reli­gion gegenüber der Beziehung zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft nicht mehr besonders herausstellen, sondern diese nur als eine Beziehung unter anderen behandeln. Das hat nichts mit Rationalisierung oder Privatisierung von Religion zu tun, also mit der Forde­rung, religiöse oder nicht-religiöse Überzeugungen rational zu rechtfertigen oder moralisch zu ­legitimieren, oder Religionen nur einen Platz im Privat­leben von Menschen zuzugestehen, aber ihnen keine öffentliche Rolle zu­zubilligen. Ob religiö­se oder nicht-religiöse Überzeugungen rational oder moralisch gerechtfertigt wer­den können oder nicht, ist eine Frage an die Menschen, die sie vertreten, aber keine Aufgabe oder Angelegenheit des Staates. Und ob einer Reli­gion eine private oder öffentli­che Rol­le zuerkannt wird, ist eine Frage an die Gesellschaft, nicht an den Staat. Es geht nicht um eine politische Rolle der Religion, sondern um die Anerken­nung dessen, dass im Gefolge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch mit der Aus­differenzierung verschiedener ›Öffentlichkeiten‹ gerechnet werden muss. 42

Ein post-säkularer Staat ist dementsprechend indifferent und nicht nur neutral im Blick auf religiöse oder nicht-religiöse Fragen. Es mag viele Religionen und Nichtreligionen in einer Gesellschaft geben, aber der Staat sieht keinen Anlass, seine Be­ziehungen zu ihnen in besonderer Weise zu definieren oder zu betonen. Es bedarf ebenso wenig eines Gesetzes, dass es kein Gesetz für oder gegen eine Religion ge­ben darf, wie es keines Gesetzes bedarf, dass es kein Gesetz für oder gegen den Sport oder das Gärtnern oder das Musizieren geben darf. Falls es notwendig wird und Probleme entstehen, können diese pragmatisch im Rahmen anderer Gesetze bearbeitet werden. Aber der Staat privilegiert seine Kontrastbeziehung zur Religion nicht länger als das, wo­durch er seine Funktion in der Gesellschaft definiert und bestimmt: Er ist kein säkularer Staat mehr, weil er sich weder im positiven noch im negativen Sinn im Bezug auf Religion definiert. In einer post-säkularen Gesellschaft kann es Reli­gion daher geben oder nicht geben, aber diese kontingente Tatsache ist von keinem größeren Gewicht für das politi­sche oder irgendein anderes Teilsystem der Gesellschaft als irgendein anderer so­zialer Sachverhalt. Schließlich können In­di­vi­duen in post-säkularen Gesellschaften religiös oder nicht-religiös leben oder nicht, es kann ein religiöses Teilsystem der Gesellschaft mit der entsprechenden religiösen Öffentlichkeit geben oder nicht. Aber keines der nicht-religiösen Teilsy­steme definiert seine Beziehungen zu anderen auf religiöse Weise oder dadurch, dass ausdrücklich auf eine religiöse Bestimmung verzichtet wird. Wenn es Religion gibt, dann ist das eine kontingente Tatsache. Aber es ist nichts, was die Gesellschaft als ganze oder irgend­eines der gesellschaftlichen Teilsysteme herausfordern oder nötigen würde, dazu eine besondere positive oder negative Haltung einzu­nehmen. Religion gibt es oder gibt es nicht. Die Gesellschaft ist dadurch nicht anders betrof­fen als durch die Existenz oder Nichtexistenz irgendeiner ­anderen sozialen Tatsa­che.

Bringt man diese – sehr grob gezeichneten – vier Staats- und Ge­sellschaftstypen unter dem Gesichtspunkt der Leitdifferenz von ›religiös‹ und ›säku­lar‹ in eine zeitliche Ab­folge, dann ergibt sich folgendes Bild:

1. Auf der Ebene des Staates oder des politischen Systems gibt es eine Entwicklung vom religiösen über den toleranten und säkularen zum post-säkularen Staat, aber die entscheidende Veränderung ist die vom religiösen zum säkularen Staat , wäh­rend der tolerante Staat nur eine Übergangsgröße darstellt und für den Bürger zwi­schen dem säkularen und post-säkularen Staat im Prinzip (wenngleich keines­wegs auch notwendigerweise faktisch) keine signifikante Differenz besteht.

2. Auf der Ebene der Individuen liegt der entscheidende Veränderungsschritt dagegen im Übergang von einem toleranten zu einem säkularen Staat, in dem Personen mit verschiedenen religiösen oder nicht-religiösen Ansichten nicht nur toleriert wer­den, sondern das verbriefte Recht haben, innerhalb gesetzlicher Grenzen ihre reli­giösen oder nicht-religiösen Überzeugungen zu bekennen und zu praktizieren. Der weitere Wechsel von einer säkularen zu einer post-säkularen Gesellschaft markiert auf der Ebene des individuellen Lebens dagegen keine wesentliche Verän­derung, da nichts jetzt möglich wird, was vorher noch nicht möglich gewesen wäre, jedenfalls im Prinzip nicht: Es gibt nichts, was ein post-säkulares Individuum tun könnte und ein säkulares im Prinzip nicht auch hätte tun können, auch wenn die konkreten ­Le­bensumstände in ­beiden Fällen sehr verschieden sein mögen. Jeder kann ­religiös leben oder anders.

3. Auf der Ebene der Gesellschaft schließlich gibt es eine Entwicklung von einer (rela­tiv) undifferenzierten Gesellschaft, die nicht (oder nicht konsequent) zwischen ver­schiedenen Teilsystemen unterscheidet, zu einer Gesellschaft, die das klar tut und sich entsprechend unmissverständlich von ihren Teilsystemen unterscheidet und keines davon in besonderer Weise den anderen gegenüber privilegiert, wenn sie sich selbst bestimmt und charakterisiert. In einer post-säkularen Gesellschaft hat das politische System (der Staat) aufgehört, sich selbst nicht nur als religiös, son­dern auch als säkular zu bezeichnen und damit weder explizit noch implizit durch Bezug auf Religion zu definieren. Solange sich ein Staat dagegen als säkular be­schreibt, weist er eine religiöse Selbstbestimmung ausdrücklich ab, aber bestimmt sich eben dadurch negativ so, dass die Abweisung einer religiösen Bestimmung ein wesent­li­ches Moment seiner Selbstbestimmung wird. Es ist eines, sich nicht mit einer Religion zu identifizieren, ein anderes, jede derartige Identi­fikation abzulehnen, und ein drittes, keine Nötigung zu haben, eine solche Identi­fikation abzulehnen oder sich ausdrücklich zur Neutralität gegenüber religiösen, nicht-religiösen oder anti-reli­giösen Orientierungen oder Lebensentwürfen zu bekennen. Nur in diesem dritten Fall liegt nicht nur eine säkulare, sondern eine post-säkulare Gesellschaft vor.

Während es daher wenig sinnvoll ist, von ›post-säkularen Individuen‹ zu sprechen – sieht man einmal von den sogenannten »Apatheisten« ab 43 –, kann man sinnvoll von einer post-säkularen Welt und post-sä­kularen Staaten und Ge­sellschaften reden. Aber post-sä­ku­lare Gesellschaften sind nicht diejenigen, in denen die Flut der Säkularisierung zum Stoppen gekommen ist, so dass die Menschen wieder die Religion praktizieren und den Glauben leben können, die sie wollen. Sie sind viel­mehr diejenigen Gesellschaften, in denen sich die Staaten nicht mehr als säkular defi­nieren. Die eigentliche Pointe der Rede vom Post-Säkularen liegt daher nicht auf der Ebene des individuellen Lebens, sondern der Staaten und der Ge­sellschaft: Staaten können säkular oder nicht-säkular (prae- oder post-säkular) sein. Gesellschaften sind post-säku­lar, sofern ihr politisches System im Hinblick auf Fragen des Religiösen oder Nicht-Religiösen indifferent gewor­den ist. Aber auf der Ebene des individuellen Lebens wird durch die Differenz zwi­schen säkular und post-säkular kein relevanter Unterschied markiert, weil alles, was für ein frei bestimmtes religiöses oder nicht-religiöses Leben erforderlich ist, sich so­wohl in einer säkularen wie einer post-säkularen Gesellschaft findet – vorausgesetzt, die Unterscheidung zwischen ›reli­giös‹ und ›säkular‹ wird im Sinn der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung verstanden und nicht mit den Themenkomplexen der Privatisie­rung und Rationalisierung ver­mischt.

  1. 1Charles Taylor,A Secular Age, Cambridge, Mass. 2007 (deutsch: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009). Vgl. die Rezension von Jasmin Engelbrecht, »Ein säkulares Zeitalter?«, in Denkströme 5 (2010), S. 214–220.
  2. 2Vgl. dazu die begriffsgeschichtlichen Studien von Ernst Feil,Religio, Band I: Die Geschichte eines neu­zeit­lichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986, Band II: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540–1620), Göttingen 1997, Band III: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahr­hundert, Göttingen 2001, Band IV: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert , Göttingen 2007.
  3. 3Vgl. Hans-Joachim Höhn,Postsäkular: Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn/Mün­chen/Wien/Zürich 2007; ders., Der fremde Gott. Glaube in postsäkularer Kultur, Würzburg 2008; Friedrich Johannsen, Postsäkular? – Religion im Zusammenhang gesellschaftlicher Transformationsprozesse, Stuttgart 2010.
  4. 4Vgl. besonders José Casanova,Public Religions in the Modern World, Chicago/London 1994; David Martin, On Secularization: Towards a Re­vised General Theory, Aldershot 2005; David Novak, The Jewish Social Con­tract. An Essay in Political Theology, Princeton 2005; Jeffrey Stout, Democracy and Tradition, Princeton 2005; Taylor, Secular Age (Fn. 1). Einen guten Überblick über die eng­lischspra­chige Literatur bietet Kevin M. Schultz, »Secularization: A Bibliographic Essay«, in Hedgehog Review (2006), S. 170–178.
  5. 5Martin, On Secularization (Fn. 4), S. 18.

  6. 6Vgl. Hermann Lübbe,Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg 3 2003; Hartmut Lehmann, Säkularisierung, Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004.
  7. 7Vgl. Klaus Eder, »Europäische Säkularisierung. Ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft? Eine theo­reti­sche Anmerkung«, ineurozine, 7.7.2006, S. 1–15; Manuel ­Borutta, »Genealogie der Säkularisierungs­theorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne«, in Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 347–376.
  8. 8Detlef Pollack,Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003; ders., »Religious change in Europe: theoretical considerations and empirical find­ings«, in Gabriel Motzkin und Yochi Fischer (Hg.), Religion and Democracy in Contemporary Europe, Lon­don 2008, S. 83–100; ders., Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und in Europa II , Tübingen 2009; Martin, On Secularization (Fn. 4), S. 18.
  9. 9Bryan R. Wilson,Religion in Secular Society. A Sociological Com­ment, London 1966, S. 14.
  10. 10Vgl. David Martin,A General Theory of Secularization, New York 1978; Karel ­Dobbelaere, Secularization: A Multi-Dimensional Concept , Beverly Hills, CA 1985; Casanova, Public Religions (Fn. 4).
  11. 11Shmuel Noah Eisenstadt, »Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den ›Multiple Modernities‹«, inThemenportal Europäische Geschichte (2006), http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=113 (1.9.2011).
  12. 12Vgl. Shmuel Noah Eisenstadt,Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; ders., Multiple Moderni­ties, New Brunswick 2002.
  13. 13Vgl. Fritz Stolz (Hg.),Homo naturaliter religiosus. Gehört Religion notwendig zum Mensch-Sein?, Bern/Berlin u. a. 1997; Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rapids, MI 1999.
  14. 14Vgl. Niklas Luhmann,Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002.
  15. 15Die folgenden Abschnitte nehmen Überlegungen meines Aufsatzes »Post-secular Society: Christianity and the Dialectics of the Secular«, inJournal of the American Academy of Religion 78 (2010), S. 317–345 auf. Die Ausdrücke ›Gegensatz‹, ›Kontrast‹, ›Unterschied‹ und ›Differenz‹ werden dabei austauschbar gebraucht, um Sinndifferenzen zu markieren.
  16. 16Friedrich W. Graf,Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 3 2005.
  17. 17Vgl. Stout, Democracy and Tradition (Fn. 4); Novak, Jewish Social Contract (Fn. 4).
  18. 18Sam Dobbelaere, The End of Faith: Religion, Terror, and the Future of Reason, New York 2004; ders., Letter to a Christian Nation, New York 2006; Richard Dawkins, The God Delusion, New York 2006.
  19. 19Talal Asad,Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity, Paolo Alto 2003, S. 205–206.
  20. 20Vgl. Friedrich Gogarten,Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart 2 1958, S. 142 ff.
  21. 21Robert Austin Markus,Christianity and the Secular , Notre Dame, IN 2006, S. 9.
  22. 22Martin Luther, »Der kleine Katechismus« (1529), inDie Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (= BSLK), Göttingen 13 2010, S. 499–542, »3. Artikel des Glaubensbekenntnisses«, in BSLK, S. 511 f.
  23. 23Eberhard Jüngel,Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 8 2010, S. 283 f.
  24. 24Vgl. Charles Taylor, Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989, S. 217–218.
  25. 25Vgl. Adolf von Harnack, »Der Vorwurf des Atheismus in den ersten drei Jahrhunderten«, in Oscar von Geb­hardt und Adolf von Harnack (Hg.),Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur (NS 13), Leipzig 1905, S. 1–16.
  26. 26Martin Luther, »Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum« (1517), prop. 1, in Martin Luther,D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883 ff., 1, S. 229–238, 233; ders., »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520), in ebd., 7, S. 12–38.
  27. 27Martin Luther, »De votis monasticis Martini Lutheri iudicium« (1521), in ebd., 8, S. 564–669; ders., »Die Schmalkaldischen Artikel« (1537), art. XIV, in BSLK (Fn. 22), S. 405–468, 461.
  28. 28Vgl. Thomas Jefferson, »The Virginia Statute for Religious Freedom 16 January 1786«, Record of the General Assembly, Enrolled Bills, Record Group 78, Library of Virginia, in W. W. Hening (Hg.),Statutes at Large of Virginia , vol. 12 (1823), S. 84–86.
  29. 29Friedrich Daniel Ernst Schlei­ermacher, »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Veräch­tern« (1799), in Friedrich Schleiermacher,Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hg. von Günter Meckenstock (Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Band 2), Berlin / New York 1984, S. 185–326.
  30. 30Sam Harris,The End of Faith: Religion, Terror, and the Future of Reason, New York 2004; ders., Letter to a Christian Nation, New York 2006; Dawkins, The God Delusion (Fn. 18).
  31. 31C. John Sommerville, »Secular Society, Religious Population: Our Tacit Rules for Using the Term Seculari­sation«, inJournal of the Scientific Study of Religion 37 (1998), S. 249–253.
  32. 32Vgl. Richard Schröder,Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg/Basel/Wien 2008.
  33. 33John Milbank,Theology and Social Theory, Oxford 2 2006; Phillip Blond, Post-Secular Philosophy, London 1997; James K. A. Smith, Introducing Radical Orthodoxy: Mapping a Post-secular Theology, Grand Rapids 2004.
  34. 34John Milbank, Catherine Pickstock und Graham Ward (Hg.),Radical Orthodoxy: A New Theology, London 1999.
  35. 35Vgl. Wayne J. Han­key und Douglas Hedley (Hg.),Deconstructing Radical Orthodoxy: Post Modern Theology, Rhetoric and Truth, Farnham 2005.
  36. 36Vgl. Markus, Christianity and the Secular (Fn. 21).
  37. 37Mike King, »Towards a Postsecular Society«, inNetwork, the Science and Medic­al Network Review (2003), S. 7–11; ders., »Art and the Postsecular«, in Journal of Visual Art Practice 4:1 (2005), S. 3–17.
  38. 38Zu diesem Typ gehören auch antireligiöse Staaten, die Atheismus vor­schreiben oder alle bzw. bestimmte Religionen für ihre Bürger ausschließen.
  39. 39Vgl. Claus Dieter Classen,Religionsrecht, Tübingen 2006; Ingolf U. Dalferth und Cla Reto Famos (Hg.), Das Recht der Kirche. Zur Revision der Zürcher Kirchenordnung, Zürich 2004.
  40. 40Vgl. Classen, Religionsrecht (Fn. 39); Michael Germann, »Kirchliche Institutionen im modernen Verfassungsstaat«, in Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb (Hg.),Christentum, Staat, Kultur: Akten des Kongresses der Internationa­len Schleiermacher-­Gesellschaft in Berlin, März 2006, Berlin 2008, S. 411–432.
  41. 41Vgl. Christopher J. Eberle, Religious Conviction in Liberal Politics, Cambridge 2002.
  42. 42Vgl. Ingolf U. Dalferth, »Öffentlichkeit, Universität und Theologie«, in Edmund Arens und Helmut Hoping (Hg.),Wieviel Theologie verträgt die Öffentlichkeit?, Freiburg/Basel/Wien 2000, S. 38–71; ders., »Religion als Privatsache? Zur Öffentlichkeit von Glaube und Theologie«, in Theologisch-praktische Quartalschrift 149 (2001), S. 284–297.
  43. 43»An apatheist is a type of atheist who, rather than not believing in any gods because the arguments for them are weak, simply doesn’t care about the existence of any gods and goes about life as if none exist­ed«, http://atheism.about.com/library/glossary/general/bldef_apatheist.htm (1.9.2011); vgl. Dionysios Thriambos, »Apatheism, Allognosticism, and the American Religious Landscape«, http://hermetic.com/dionysos/apatheist.htm (1.9.2011).
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Heft 7 (2011)
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